mehr
hier die letzten Erträgnisse des Bergbaues in Graubünden lieferten. Bei den Fuchshütten von Tinzen stehen Ruinen alter Eisenwerke, ebenso unterhalb Salux, wo die Erze von Schmorras und Sur bis etwa 1850 verhüttet wurden.
Das Klima des Thales ist im Ganzen rauher, als in vielen gleich hoch gelegenen anderen Thalschaften, weil das Thal den N.-Winden geöffnet ist. Mittlere Temperaturen für Savognin (1213 m) sind: Juni 11,86°;
Juli 12,77°;
August 13,06°;
September 11,34° C. Die Sommerwärme ist trotz der offenen Lage und dem vielen Sonnenschein erträglich und gemildert, und der regelmässige leichte Thalwind nach abwärts sorgt für stete Lufterneuerung.
Im Thal baut man viel Gerste, Roggen und Hafer, etwas Weizen, dann Erbsen, Bohnen, Kartoffeln und Hanf; in den Gärten zieht man Kohl, Spinat, Erbsen und Rüben. Dazu kam früher noch etwas Tabakbau, den die Kapuziner eingeführt und gepflegt hatten. Hie und da sieht man in den Gärten noch Obstbäume, die im Freien nur ausnahmsweise gedeihen, wie z. B. Kirschbäume bei Savognin und Burwein, an welch' letzterem Ort die in Gärten angepflanzten Apfel- und Birnbäume in geschützter Lage noch Früchte tragen.
In den bis oberhalb Marmels über den Terrassen massig vorhandenen Wäldern ist die Rottanne am häufigsten; daneben gibt es aber auch noch viele Lärchen, sowie hie und da Arven (Pinus cembra), so bei Savognin, Tinzen, Sur, Mühlen und Marmels. Von Laubbäumen ist die Birke häufig. Die Heuberge liefern vortreffliches Heu und die tiefer unten liegenden Maiensässe saftiges Futter. Der gesamte Wohlstand der Bewohner liegt sozusagen ganz im Wiesenbau der Thalsohle und der höhern Gegenden, sowie in den schönen und ausgedehnten Alpweiden und den Heerden. Ausserdem haben sich als Luftkurorte aufgetan Savognin, Conters, Stalla und Mühlen. Ueber Viehstand und Viehzucht vergl. den Art. Oberhalbstein (Kreis).
Von seltenern Alpenpflanzen mögen hier folgende genannt sein: Laserpitium marginatum var. Gaudini, Polemonium coeruleum, Anchusa italica;
Hieracium Hoppeanum, H. furcatum, H. fulgens, H. niphobium und H. glaucum;
ferner Eritrichium nanum, Linnaea borealis, Campanula cenisia, Gentiana tenella, Dianthus glacialis, Ranunculus pyrenaeus und R. glacialis, Clematis alpina var. lactea;
Polytrichum septentrionale. An der W.-Seite des Gebietes finden wir ferner Androsace glacialis und A. helvetica, Armeria alpina, Willemetia hieracioides, Hutchinsia brevicaulis, Arabis alpina und A. pauciflora, Ranunculus alpestris var. Traunfellneri, Pedicularis atrorubens, Oxytropis lapponica, Saxifraga biflora, Juncus Jacquini, Kobresia caricina, Carex microglochin.
Woodsia ilvensis;
Hypnum cirrhatum, H. molle und H. glaciale, Bryum cinclidioides und B. cullatum, Endocarpon intestiforme etc.;
an der O.-Seite: Gentiana axillaris und G. obtusifolia, Phyteuma pauciflorum, Pulmonaria azurea, Rumex nivalis, Helianthemum fumana;
Viola calcarata (weissblühend) und V. pinnata, Valeriana supina, Centaurea raetica, Aquilegia alpina, Clematis alpina;
Pedicularis tuberosa, P. incarnata und P. caespitosa;
Saxifraga muscoides, S. controversa und S. aphylla;
Angelica verticillaris, Festuca alpina, Elyna scirpina;
Dissodon splachnoides, Dicranum Mühlenbeckii.
Wie in den meisten Gegenden des Kantons Graubünden, hat auch im Oberhalbstein das jagdbare Wild stark abgenommen. Es gibt Gemsen, Murmeltiere, Feld- und Alpenhasen, Füchse, Wiesel, Fischottern und Eichhörnchen; Wölfe und Bären reisten hier noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts durch, und am Conterser Stein wurde ein Bär noch in den 60er Jahren geschossen. Ebenso hielt sich der Luchs in den tiefen Wäldern hinter Tiefenkastel bis fast in die neueste Zeit.
Die Waldungen beleben Spechte, Auerhühner und Birkhühner; das Haselhuhn ist seltener, während Steinhuhn und Schneehuhn noch etwas häufiger sich zeigen. Daneben sind noch Tauben- und Hühnerhabichte, Nusshäher, Felsentauben und Wildenten zu erwähnen. An Singvögeln ist das Oberhalbstein auffallend arm. Die Julia beherbergt ausgezeichnete Forellen, und im kleinen Seebecken von Nasegl am Fuss des Piz Michel (nö. Savognin) kommt die Schmerle (Cobitis barbatula) vor. Auch der Laj da Tigiel ist jetzt von Fischen (Sehmerlen oder Ellritzen?) bevölkert. Ueber das niedere Tierleben (z. B. Schmetterlinge, Käfer etc.) hat man in unserm Thal bis heute weit weniger gesammelt als in den übrigen Bündner Hochthälern, so dass das Oberhalbstein in dieser Hinsicht noch als nahezu unexploriert gelten muss.
Das ganze Sursès und Sutsès enthält 12 Ortschaften und 8 grössere Höfe; die Höfe in den Seitenthälern sind erst in neuerer Zeit verlassen worden. Der Kreis Oberhalbstein zählte 1900 2321 Ew., während 1802 für das gleiche Gebiet 2033 Ew. angegeben wurden. Nach ältern Berichten aber soll das Thal vor 300 Jahren beinahe doppelt so stark bevölkert gewesen sein als heute. So hatte z. B. Savognin vor 1629 noch gegen 700 Ew. (heute 444), von denen die Pest von 1629-1630 volle 360 Personen wegraffte.
Auch die fremden Kriegsdienste und die Auswanderung in der Neuzeit raubten dem Thal viele Bewohner. Die Bevölkerung war von Anfang an rätoromanisch und ist es trotz eines starken Einschlages von germanischen und italienischen Elementen bis heute geblieben. Das italienische Element ist durch den direkten Strassenverkehr mit Chiavenna und vom Bergell her ins Land gekommen und zwar hauptsächlich nach Stalla und Marmels. In Stalla ist das Italienische sogar als zweite Schul- und Schriftsprache angenommen worden.
Dieser Mischung verschiedener Rassenelemente verdankt der Oberhalbsteiner Menschenschlag seinen (besonders bei den Männern hervortretenden) hohen, starken und schönen Körperbau, sein ruhiges und würdevolles Temperament, sowie die vielseitige geistige Begabung. Das Oberhalbsteiner Romanisch ist nach Peterelli und Muoth am meisten mit der Schamser Mundart verwandt und nähert sich dem Ladinischen des Ober Engadin mehr als dem Oberländer Dialekt. Trotzdem gebrauchen aber die Oberhalbsteiner die in der Oberländer Schriftsprache verfassten Gebetbücher und Katechismen und zwar deshalb, weil sich die italienischen Kapuziner des Thales das Romanische nach den Andachtsbüchern etc. des Oberlandes angeeignet haben.
Die gedruckte Literatur ist arm; das älteste gedruckte Buch in der Oberhalbsteiner Mundart ist die Doctrina Christiana Bresciana volveida dagl Italian in Rumansch da Sursès. Banaduz 1707. Die alten Urkunden des Thales (z. B. diejenigen des 15. Jahrhunderts) sind in deutscher Sprache abgefasst. Die Volksliteratur weist hübsche Volkslieder auf, die z. T. gesammelt, aber nicht veröffentlicht sind. 1857 und 1859 erschienen zum erstenmal Schulbücher für die untern Klassen der Volksschule im Oberhalbsteiner Dialekt, während die neuesten Lesebücher in diesem Idiom zu Ende des 19. Jahrhunderts ausgegeben worden sind.
Steinzeitliche Funde sind aus der Gegend nicht bekannt, dagegen wurden in der Nähe der Solisbrücke auf Boden der Gemeinde Obervaz anlässlich des Strassenbaues 1868/1869 ein bronzener Henkelkrug und bei Alvaschein ein Bronzemesser und ein meisselartiges Werkzeug aufgedeckt. Das erstere Objekt hat Aehnlichkeit mit Bronzegegenständen aus Soglio und Castaneda (am Eingang des Calancathales). Es scheinen darnach der Albula wie der Pass über die Lenzerheide schon in der Bronzezeit begangen worden zu sein.
Die menschlichen Skelete, die in einer Felsspalte bei Alvaschein blosgelegt wurden, beweisen hingegen kein hohes Alter jener Gräber. Bei Tiefenkastel hat man römische Münzen von Gallienus und Valens gefunden und sollen noch zu Campell's Zeiten Reste eines Römerkastells vorhanden gewesen sein. Dass aber schon in vorrömischer Zeit von hier aus durchs Oberhalbstein ein gewisser Verkehr vorhanden gewesen ist, beweist der Schatzfund von Burwein (1786), der aus zwei ineinander liegenden Kupferkesseln mit goldenen und silbernen Armringen, griechischem Erz, kleinen Pfeifchen, einem silbernen Kesselchen und zahlreichen massaliotischen Münzen bestand. 1789 wurde angeblich an derselben Stelle ein goldene. Regenbogenschüsselchen gefunden. Römische Münzen kennt man ferner von Savognin, von der Ruine Patnal bei Savognin, von Tinzen und besonders vom Julierpass, wo als älteste Münze eine solche von Julius Caesar zum Vorschein gekommen ist. Die beiden berühmten Juliersäulen aus Talkgneis erinnern an die römische (vielleicht noch vorrömische) Zeit. Wie schon erwähnt führte im ¶
mehr
4. und 5. Jahrhundert eine römische Militärstrasse durch das Oberhalbstein und über den Septimer (im weitern Sinne) nach Cläven (Chiavenna). Es ist aber wahrscheinlich, dass der älteste Verkehrsweg sich nicht zum Silvaplanersee hinunterzog, sondern den Maloja erreichte, indem er sich in allmähliger Senkung um den Berg herumzog. Im Mittelalter wurde der Septimer stärker benutzt als der Julier. In den Alpen von Flex, bei Stalla, am Julier und am Septimer (besonders oberhalb Casaccia) lassen sich alte Strassenzüge und sogar gepflasterte Wegstücke nachweisen.
Eine Hauptstation an einer Reichsstrasse, wie es die Obere Strasse war, besass nach Muoth zu ihrem Schutz eine Burg mit einem Landvogt, der gewöhnlich ein Ritter war und sowohl die Station zu schirmen als auch die Transporte zur nächsten Hauptstation sicher zu geleiten hatte, wofür ihm Kriegsknechte zur Verfügung standen, die mit ihren Familien meist in unmittelbarer Nähe angesiedelt waren. Der Unterhalt der Strasse und der an ihr gelegenen Unterkunftsräume etc. lag dagegen den Bauern der Gegend ob, die als sog. Ruttner u. a. auch die Pässe zu öffnen hatten.
Von dieser mittelalterlichen Organisation stammen an unserer Route noch die Kastelle, Türme, festen Stabula und die alten Brücken her. Die Obhut und die Rechtspflege über die ganze Obere Strasse übernahm als oberster Reichsbeamter der Gegend zuerst der Präses, dann der Graf von Currätien. Von der Mitte des 6. Jahrhunderts an bis etwa zum Jahr 1000 wurde die Verwaltung des Transitverkehrs an den grossen Handelsstrassen mit Vorliebe den Klöstern überwiesen. So entstanden zahlreiche Bergklöster, von denen für die Septimerroute das Kloster des h. Petrus zu Wapinites (Alvaschein; urkundlich zuerst 926 erwähnt), St. Luzi zu Chur, das Nonnenkloster Cazis und das Hospiz zu St. Peter auf dem Septimer zu nennen sind.
Als aber die deutschen Kaiser ihre an den Verkehrsstrassen vorbehaltenen Rechte den Bischöfen der betr. Gegenden übertrugen, erhielt seit 1139 der Bischof von Chur alle Hoheitsrechte über die von Chur und dem Engadin nach Chiavenna führenden Routen. Die Bischöfe suchten nun, in den direkten Besitz der Verkehrsmittel zu gelangen oder sie wenigstens an solche Leute oder Anstalten zu übertragen, die ganz von ihnen abhängig waren. So verlieh z. B. Bischof Ulrich II. aus dem Geschlecht der Edeln von Tarasp alle Güter, Leute und Rechte des Nonnenklosters Wapinites seinen Verwandten und Dienstmannen, und der h. Adalgott, der Reformator des Klosters Cazis, erwirkte von Ritter Ulrich II. von Tarasp die Schenkung aller seiner vornehmen Ministerialen mit den Gütern und Leibeigenen zu Tinzen, Savognin, Marmels, Casaccia und Vicosoprano an die Kirche von Chur.
Daneben behaupteten sich aber auch noch für eine längere Zeit Verwandte der Herren von Tarasp und die auf dem Schloss zu Reams sitzenden Herren von Wangen; ebenso brachten die Schulden des Bistums verschiedene Einkünfte und Güter im Oberhalbstein in den Besitz einer Reihe von Herren in Rätien, wie derjenigen von Vaz, von Schauenstein, Rietberg und Planta. Um der drohenden Konkurrenz von Seiten anderer Alpenstrassen (z. B. des Gotthard, Lukmanier, Splügen) zu begegnen, schlossen die Bischöfe besondere Transitverträge (so 1278 mit Luzern und 1291 mit Zürich). Durch den Sturz der Landeshoheit der Bischöfe (Ilanzer Artikel 1526) gingen die Hoheitsrechte über die Strassen an die Hochgerichte über, und 1559 kaufte sich das Gericht Oberhalbstein von der bischöflichen Vogtei Reams los, unter deren einstigen Landvögten besonders Benedikt Fontana, der Held der Calvenschlacht 1499, zu nennen ist.
Stalla und Marmels bildeten nun ein besonderes niederes Gericht in Zivil- und Ehesachen, während sie in Kriminalsachen den auf der Burg Reams sitzenden Landvogt vom Oberhalbstein als Richter beriefen und in den übrigen Landesangelegenheiten zusammen mit Avers und Remüs das Hochgericht Remüs bildeten. Der übrige Teil der Landschaft Sursess und Sutsess zerfiel in die Kirchspiele Savognin, Tinzen (mit Mühlen), Sur-Roffna, Reams (mit Conters), Salux (mit Präsanz) und Tiefenkastel (mit Alvaschein und Mons). Die vier ersten bildeten zusammen ein unter einem Landvogt stehendes eigenes Kriminalgericht; Tiefenkastel war ein kleines Gericht für sich und ein in Kriminalsachen unter dem Vorsitz des Landvogtes von Sursess stehendes Kriminalgericht. Hervorragende Oberhalbsteiner Geschlechter sind die Marmels und Fontana, Baselgia, Battaglia, Bossi, Capeder, Dosch, Nutt, Frisch, Peterelli, Poltera, Scarpatetti.
Während der sog. Bündnerwirren Anfangs des 17. Jahrhunderts hielt das Oberhalbstein wie die meisten Portengemeinden an der Strasse nach Mailand zur spanisch-katholischen Partei. Einer ihrer Hauptanhänger, der Oberhalbsteiner Hauptmann Caspar Baselgia, wurde 1607 in Chur hingerichtet. Als Mailand 1714 an Oesterreich kam, war man im Thal österreichisch gesinnt, ebenso zur Zeit der französischen Invasionen 1799-1804. Durch einen franzosenfreundlichen Priester verraten, wurden 1800 mehrere Oberhalbsteiner nach Thusis verbracht und standrechtlich erschossen. Ueber das Oberhalbstein vergl. auch den Art. Julia (mit Karte).
Bibliographie.
Peterelli, J. A. v. Beschreibung des Hochgerichtes Oberhalbstein und Stalla (im Neuen Sammler. II. Chur 1806); Theobald, G. Geolog. Beschreibung der nördl. Gebirge von Graub. und Geolog. Beschr. der südöstl. Geb. von Graub. (Beiträge zur geolog. Karte der Schweiz. 2 und 3, 1863 und 1866); Heim, Alb. Geologie der Hochalpen zwischen Reuss und Rhein; nebst einem Anh. von petrograph. Beiträgen von C. Schmidt. (Beitr. zur geolog. Karte der Schweiz. 25, 1891); Escher von der Linth.
Arn., und Bernh. Studer. Geolog. Beschreibung von Mittelbünden (in den Denkschriften der Schweizer. Naturforsch. Gesellsch. 1839); Diener, C. Geolog. Studien im sw. Graub. (in den Sitzungsber. der Wiener Akad. der Wiss. 97, 1888); Diener, C. Der Gebirgsbau der Westalpen. Wien 1891; Rothpletz, Aug. Ueber das Alter der Bündnerschiefer (in der Zeitschr. der deutschen geolog. Gesellsch. 1895);
Steinmann, G. Das Alter der Bündnerschiefer (in den Berichten der Naturf. Gesellsch. zu Freiburg i. B. 9 und 10, 1896 und 1897);
Böse, E. Zur Kenntnis der Schichtenfolge im Engadin (in der Zeitschr. der deutschen geolog. Gesellsch. 1896);
Der Höhenkurort Savognin. 1896 (darin Chr. Tarnuzzer: Naturhistor. Verhältn. des Oberhalbst. und C. Muoth: Historisches vom Oberhalbst.);
Heierli, J., und W. Oechsli.
Urgeschichte Graubündens (in den Mitteilungen der antiquar. Gesellsch. in Zür. 26, 1903).
[Dr. Chr. Tarnuzzer].