Lukmanier
(Kt. Graubünden und Tessin). Passübergang. Italienisch Lucomagno, rätoromanisch Lucmagn oder Cuolm Santa Maria (Mariaberg); früher auch Mons Lucomonius, Mons Barnabae oder St. Barnabasberg (nach einem am Passweg stehenden und dem h. Barnabas geweihten Hospiz) genannt. Vom latein. lucus magnus = grosser Wald herzuleiten. 1917 m.
Westlichster der Rheinpässe, einziger fahrbarer Bergübergang aus dem Bündner Oberland in seitlicher Richtung und zugleich niedrigster aller die Hauptkette der Alpen überschreitenden Pässe zwischen dem Col des Échelles de Plampinet und dem Maloja. Führt von Disentis (1150 m) durch das Medelserthal, über den Zug der Zentralmassive und das Val Santa Maria nach Olivone (893 m) und Biasca (305 m). Die 1871-1877 mit einem Kostenaufwand von 1104700 Fr. erbaute Fahrstrasse über den Lukmanier ist von Disentis bis Olivone 38,3 km lang und durchgehends 4,8 m breit; daran schliesst sich die 23,4 km lange und durchgehends 6 m breite Thalstrasse Olivone-Biasca, die 1820 fertig erstellt worden ist und 880000 Fr. gekostet hat.
Von Disentis senkt sich die Strasse zunächst bis zum Vorderrhein, den sie auf einer steinernen Brücke überschreitet, geht dann durch 11 rasch hintereinander folgende Tunnels durch die finstere Schlucht des Mittel- oder Medelser Rhein (wo während des Baues der Strasse zahlreiche Nester von Krystallen gefunden worden sind), setzt mit einer steinernen Brücke auf das andere Ufer über und steigt von da mit einigen Schlingen bis Curaglia (1332 m; 5,5 km von Disentis) auf. Dieses erste Dorf im Medelserthal liegt gleich dem um 1,5 km von ihm entfernten Ort Platta (1380 m) auf einer schönen Wiesenterrasse am rechten Ufer des Flusses.
Bis hierher gehört die durchwanderte Landschaft zu den grossartigsten der Schweiz und braucht den Vergleich mit den Schluchten der Roffna, des Schyn, der Züge etc. nicht zu scheuen. Hinter Platta verengert sich das Thal von neuem und wird wieder wilder und einsamer. An den Weilern Pardi, Fuorns und Acla vorbei erreicht man das am Eingang ins Val Cristallina stehende Perdatsch (1552 m), von wo an der Wald zurückbleibt und die die Strasse begleitenden Gipfel einander sich nähern und zugleich an Höhe zunehmen.
Drohend erheben sich hier im W. der Piz Ganneretsch (3043 m) und die gezackte Kette des Piz Rondadura (3019 m), im O. der mächtige Scopi (3200 m) mit seinen nördl. Vorbergen. Die Strasse passiert die einst vom Kloster Disentis zum Schutze der Wanderer angelegten kleinen Hospize S. Gion und S. Gall und erreicht die unmittelbar am Fuss des Scopi stehende Poststation Santa Maria (1842 m; 12 km von Platta und 19 km von Disentis). Von hier aus führt der vielbegangene Passo dell' Uomo (2212 m) gegen SW. ins Val Piora (bis zum Hotel am Lago Ritom 3 Stunden) und weiterhin nach Airolo hinunter (vom Lago Ritom 1¼ Stunden; Disentis-Airolo zusammen 10 Stunden).
Nach 2,7 km ist von
Santa Maria aus die Passhöhe des Lukmanier (1917 m; Kantonsgrenze zwischen Graubünden
und Tessin)
erreicht, auf der sich,
kaum merkbar, die
Wasser zwischen dem
Rhein und Tessin
scheiden. Mit sanftem
Gefälle geht nun die Strasse gegen SO. ins
Val Santa Maria
hinunter, passiert das 1885 niedergebrannte
Hospiz
Casaccia und die Postablage mit Gastwirtschaft auf dem
Pian di Segno (1680 m; 5,5 km von der Passhöhe), durchzieht weiterhin mit grossen Schlingen die Alpweide der
Monti di
Campra
(1228 m), gewährt auf dieser Strecke einen prachtvollen Ausblick auf die Gruppe des
Rheinwaldhorns
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und das Thal von Olivone und erreicht endlich Olivone (893 m; 17,3 km unter der Passhöhe), wo sie sich mit der Strasse des Bleniothales vereinigt. Der Postwagen legt die Strecke Olivone-Disentis oder umgekehrt in je 6 Stunden zurück, während der Fusswanderer von Disentis bis zur Passhöhe 5½ und von da bis Olivone 3½ Stunden braucht. 1901 beförderte die Post über den Lukmanier 1664 Reisende und nahm an Passagier- und Gepäcktaxen die Summe von 2786 Fr. ein. Auf der Passhöhe hat man 1876 beim Strassenbau einen eisernen Wurfspiess aus der Römerzeit gefunden.
Nach Dr. Heierli wäre es aber zu gewagt, gestützt auf diesen Fund und einige alte Strassenspuren anzunehmen, die Römer hätten schon einen Weg über den Lukmanier angelegt. Im Mittelalter war der Passübergang des Lukmanier von ziemlich grosser Bedeutung. 754 überschritt ihn Pipin der Kurze mit seinen Truppen, später kehrte Otto der Grosse über ihn aus Italien heim, und 1164 und 1186 führte auch Friedrich Barbarossa Truppen über ihn. Um 1300 stand auf der Passhöhe ein Kreuz. 1413 und 1431 nahm dann auch Kaiser Siegmund noch seinen Weg über den Lukmanier. Heute hat er seine internationale Bedeutung verloren und dient nur noch als bequeme lokale Verbindung zwischen dem Bündner Oberland und dem Kanton Tessin. Wie er schon bei der Frage einer ersten Ueberschienung der Alpen als Konkurrent des Gotthard aufgetreten ist, wird auch neuerdings das Projekt einer Lukmanierbahn wieder lebhaft besprochen. Vergl. Alpenpässe, die schweizerischen. 2. Aufl. Bern 1893. - Schulte, Aloys. Geschichte des mittelalterl. Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien. 2 Bde. Leipzig 1900.