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Alle diese Oberländerthäler haben seit ihrer ersten Anlage mancherlei Veränderungen erlitten. Sie haben sich nicht nur immer tiefer eingeschnitten, sondern auch in den Terrassen Reste ihrer frühern, höher gelegenen Thalböden zurück gelassen. Gerade durch Verfolgung dieser Terrassen wird man auf merkwürdige Umgestaltungen, die die Oberlaufstücke und Wasserscheiden betroffen haben, geführt. So ist z. B. jetzt das Val Maigels ein Seitenthal vom Val Cornera.
Früher aber hat es wohl seine N.-Richtung fortgesetzt, und sein Bach floss über die jetzigen Hochflächen der Siarra und Paliduscha. Aber ein Seitenbach des Val Cornera schnitt sich westwärts von unten nach oben immer mehr ein, bis er dem Maigelsbach in die Seite fallen und ihn ins Val Cornera ablenken konnte. Damit war dem n. Teil des Val Maigels die erodierende Kraft entzogen, derselbe blieb in der Entwicklung zurück und bildet nun das mit hübschen kleinen Seen geschmückte Hochplateau der Siarra, dessen schwacher Abfluss sich mit dem vom nahen Tomasee kommenden jungen Rhein verbindet.
Ferner sind Lukmanier und La Greina keine eigentlichen Kammpässe. Sie gehen fast unmerklich von der n. Abdachung in die südliche über. Offenbar reichten einst das Medelser- und Somvixerthal über diese Pässe hinüber weiter nach S. Sie haben aber ihre obersten Abschnitte an die Thäler der s. Abdachung verloren, weil deren Gewässer infolge stärkeren Gefälls und daheriger grösserer Erosionskraft die Wasserscheide allmählig mehr nach N. verschieben und dabei gelegentlich Oberlaufstücke der n. Gewässer an sich reissen konnten.
Nach der Höhenlage der Terrassen u. Thalstufen zu schliessen, sind Val Scaradra und Val Carasina solche dem Val Somvix verloren gegangene Oberlaufstücke, die mit diesem einst über Monterascio und Greina, resp. über Val Camadra und Greina zusammenhingen. In ähnlicher Weise scheint einst das Valserthal über die jetzigen Pässe des Valserbergs und Bernhardin bis ins Gebiet des Misox und ebenso das Safienthal über den Safienberg und Splügen bis ins Gebiet des Val S. Giacomo gereicht zu haben, bis das anfänglich nur kurze Rheinwaldthal von der Rofna her durch rückschreitende Erosion sich westwärts immer mehr verlängerte und so erst das Safienthal, dann das Valserthal amputierte.
Wesentlich anders gestaltet als das Gebiet des Vorderrhein ist dasjenige des Hinterrhein, obwohl es an ähnlichen Zügen nicht fehlt. Zunächst ist auch hier das Flussnetz einseitig entwickelt, indem die linksseitigen Zuflüsse nur ganz kurz, die rechtsseitigen aber lang und mit ihren Verzweigungen weitausgreifend sind. Ferner fliesst auch der Hinterrhein zuerst in einem Längsthal nach ONO., dann in einem Querthal nach N. Aber die Umbiegung ist hier eine sehr scharfe und erfolgt in einer engen Stromschnellenschlucht, während sie sich beim Rhein unterhalb Chur in weitem Bogen und in breitem flachsohligem Thal vollzieht.
Aber der Verschiedenheiten sind mehr, und sie beginnen schon gleich bei den Quellen. Der Hinterrhein entspringt aus dem weiten Eisrevier von Zapport, dem grössten des bündnerischen Rheingebietes, während der Vorderrhein seinen Lauf als Abfluss eines kleinen Sees in gletscherfreiem Gebiet beginnt, freilich dann bald Zuzug genug an Gletscherbächen erhält. Als Gletscherflüsse, die durch keine Seen gegangen, sind sie an ihrer Vereinigungsstelle bei Reichenau durch die mitgeführten festen Stoffe getrübt, wobei der Hinterrhein, weil er seinen Lauf fast ganz im Bündnerschiefer zurücklegt, meist dunkler gefärbt und schlammreicher ist als der Vorderrhein.
Weit mehr fällt aber die Verschiedenheit in der Stufung der beiden Thäler auf. Zwar hat auch das Vorderrheinthal seine Stufen, aber diejenigen des Hinterrheinthals, nämlich Rheinwald, Schams und Domleschg, sind viel ausgeprägter und durch enge Schluchten (Rofna und Viamala) viel schärfer von einander getrennt. Dann ist die Verzweigung und Richtung der Thäler eine ganz andere. Im Vorderrheingebiet herrscht mit geringen Ausnahmen die NO.-Richtung sehr entschieden vor, im Hinterrheingebiet aber wechseln die Richtungen fast von Thal zu Thal: das Rheinwaldthal senkt sich ONO., das Landwasserthal und der mittlere Teil des Albulathales fast gerade entgegengesetzt nach SW. und WSW., das Averser-, das obere und untere Albulathal, sowie die Seitenthäler von Davos nach NW., endlich das Oberhalbstein und das Ferrerathal (unterhalb Avers) wie Schams und Domleschg nach N. Und alle diese verschiedenen Thäler führen auch in verschiedene geologische Provinzen, so dass auch in dieser Hinsicht in Mittelbünden eine viel grössere Mannigfaltigkeit herrscht als im Oberland. Der Hinterrhein bewegt sich vorherrschend im Bündnerschiefer, durchschneidet aber auch den Gneisporphyr der Rofna und dringt mit seiner Wurzel in die Gneismasse der Adula. Daneben treffen wir auf das Grünschiefer- und Serpentingebiet des Oberhalbsteins, auf das Triasgebirge im Gebiet der Albula und des Landwassers, auf den Julier- und Albulagranit und auf die Gneise und krystallinen Schiefer zwischen Davos und Engadin.
Besonderes Interesse gewähren die drei Stufen des Hinterrheinthals mit den zwischenliegenden Schluchten, deren Wechsel nicht, wie man vermuten könnte, mit Gesteinsgrenzen zusammenfällt. Der schöne flache Thalboden des Rheinwald mit seinen fünf Dörfern liegt allerdings von Sufers bis Hinterrhein (1400-1600 m) im Bündnerschiefer, setzt sich aber nach oben noch ein gutes Stück in den Adulagneis fort, dem auch die darauffolgenden Schluchten von Zapport und der Hölle mit ihren Wasserfällen angehören.
Dann ist die Rofna mit ihren brausenden Stromschnellen und Wasserfällen, Erosionskesseln, Gletscherschliffen und Rundhöckern in schönen festen Gneisporphyr eingeschnitten, der aber auch in das plötzlich sich erweiternde Schams bis nach Andeer hinaus reicht. Dann erst folgt wieder Bündnerschiefer, dem sowohl die sanft geneigten, mit Dörfern geschmückten Wiesenhänge der linken, als die Steilwände der rechten Seite angehören. Dazwischen senkt sich der Thalboden langsam von etwa 1000 auf 900 m gegen die Viamala hin, erfüllt mit Rheinkies und den Schuttkegeln der Wildbäche, die mit Wald, Wiesen und Aeckern bedeckt sind und sich gegenwärtig nicht weiter erhöhen.
Offenbar hat sich seit ihrer Ablagerung der Rhein tiefer in die Viamala eingeschnitten und damit auch im Schams wieder grössere Erosionskraft erhalten, so dass er nun in tiefem Graben zwischen den stehengebliebenen Terrassen seiner früheren Ablagerungen dahinfliesst. Das wirkte auch auf die beiderseitigen Wildbäche zurück, die sich ebenfalls tiefe Gräben in ihre Schuttkegel einschneiden konnten. Der Thalboden von Schams erscheint darum als eine typische Terrassenlandschaft. Auch die grossartige, schauerlich-schöne Schlucht der Viamala ¶
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verläuft im Bündnerschiefer. Glatte, senkrechte, auch überhängende Wände, vorspringende Felsrinnen und zurückweichende Nischen, bald kahl, bald tannenbeschattet, spaltenförmige Erosionsrinnen und Lawinenzüge, Engpässe und kleine Erweiterungen wechseln in mannigfaltiger Weise miteinander ab, und unten braust in tiefer Schlucht, oft kaum sichtbar, der wilde Bergstrom von Schnelle zu Schnelle. Strudellöcher, Erosionsterrassen, geschichtete Sand- und Kieslager an geschützten Stellen beweisen, dass die ganze tiefe Kluft allein das Werk des fliessenden und geschiebeführenden Wassers ist.
Zahlreiche Gletscherablagerungen, namentlich Grundmoränen, auch einzelne Gletscherschliffe an Stellen, die der Verwitterung weniger ausgesetzt waren, lassen erkennen, dass die Gletscher der Eiszeit die Viamala schon bis in das Niveau der heutigen Strasse und selbst noch tiefer eingeschnitten vorfanden. Ja, im obern Teil, vor und hinter der obersten Brücke, muss sie vor der Eiszeit schon tiefer gewesen sein als jetzt, denn dort fliesst der Rhein durch alte, verhärtete Grundmoränen, die er noch nicht wieder völlig zu durchschneiden vermochte.
Und wieder ohne Gesteinswechsel öffnet sich die enge Kluft plötzlich zu dem weiten, offenen Gelände des Domleschg. Rechts dehnen sich am Fuss der Stätzerhornkette schöne, fruchtbare, überall wohlangebaute Terrassen mit zahlreichen in Obstbaumhainen versteckten Dörfern, Schlössern und gebrochenen Burgen, links die breiten Gehänge des Heinzenbergs, erst steiler, dann sanfter ansteigend, überall in Wald, Wiese und Weide gekleidet und ebenfalls mit Dörfern geschmückt.
Die Mitte aber nimmt ein weiter, ebener, vom Rhein aufgeschütteter und oft verheerter Thalboden ein, den die Ansiedelungen meiden. In diesen Verheerungen wurde der Rhein unterstützt durch die kleine, aber bösartige Nolla, einen Wildbach schlimmster Art, der durch ein schauriges Tobel zwischen Piz Beverin und Heinzenberg herunter kommt. Bei jedem grössern Regenfall wird der sonst kleine und harmlose Bach in dem weichen Schiefer zu einem dicken, schwarzen Schlammstrom, der mit furchtbarer Gewalt dem Rhein in die Seite fällt und ihn manchmal zu stauen vermag, bis dieser sich wieder durchbricht und die Verwüstung weiter trägt. Im obern Teil der Nollaschlucht, gegen den Glaspass und unter dem Dorf Tschappina, ist der Boden von zahlreichen Rissen durchsetzt und in beständiger Bewegung, so dass auch hier, wie so oft im Bündnerschiefergebiet, Häuser, Ställe, Wege etc. langsam thalabwärts wandern, Risse bekommen und endlich aufgegeben oder verlegt werden müssen.
Durch grossartige und sehr kostspielige Thalsperren und andere Verbauungen sucht man dem Verderben Einhalt zu tun, und auch unten im Domleschg hat man den Rhein durch gewaltige Steinwälle eingedämmt und ist nun mit gutem Erfolg daran, die wüsten Flächen zu beiden Seiten durch Anschwemmung fruchtbaren Schieferschlamms mittels hineingeleiteter Kanäle wieder in ertragreichen Boden umzuwandeln. Noch einmal verengt sich das Thal unterhalb Rotenbrunnen, doch nicht mehr so sehr wie in der Rofna und Viamala und ohne steileres Gefälle, so dass der Fluss nun ohne Stromschnellen aus dem Hinterrheinthal heraustritt und sich mit dem Vorderrhein vereinigt.
Innerhalb der Rofna nimmt der Hinterrhein den Averserrhein auf, dessen Thal im untern Teil, dem Val Ferrera, ebenfalls eine herrliche, an wunderbaren Szenerien reiche Schlucht im Rofnaporphyr bildet, die nur dann und wann sich zu kleinen Becken mit winzigen Dörfern (Ausser- und Inner-Ferrera) ausweitet, während es sich weiter oben vielarmig verzweigt. Dort liegt Avers, wohl das höchste in Dörfern ständig bewohnte Thal Europas (Cresta 1950 m, Juf 2133 m), fast ohne Wald, aber mit prächtigen, weitgedehnten Wiesen und Weiden und umschlossen von stolzen Gebirgen.
Unterhalb Thusis mündet bei Sils das Albulathal durch die lange Fels- und Waldschlucht des Schyn, einer zweiten Viamala und wie diese in Bündnerschiefer eingeschnitten, durchzogen von einer kühn angelegten Strasse und von dem noch grossartigem Werk der Albulabahn, die bald im Innern des Berges verschwindet, bald an der Aussenseite der Felswände über der furchtbaren Tiefe dahin zieht oder diese auf hochgeschwungenen Brücken quert. Weiter oben weitet sich das Thal zu dem merkwürdigen Becken von Tiefenkastel mit flachem Thalboden, waldigen Steilhängen im S. und sanfter ansteigenden Wiesen- und Getreidehalden im N. Von allen Seiten münden hier die Thäler ein: von S. das Oberhalbstein, von N. die Lenzerheide, von NO. das Landwasserthal und von SO. das obere Albulathal. Durch eine furchtbare Schlucht, den Bergüner Stein, dessen Kalk- und Dolomitwände zum Teil überhängen und an denen die Strasse in weitem Bogen emporzieht, während die Bahn sie in ¶