mehr
frigida und P. nivea, Salix Lapponum, Linnæa borealis, Geranium aconitifolium, Gnaphalium norvegicum, Androsace septentrionalis u. a. Es ist versucht worden, diese Erscheinung mit der nach NO. geöffneten Richtung des Thales zu erklären, die die Einwanderung dieser Arten begünstigt habe; richtiger dürfte es sein, den Grund ihrer Anwesenheit in dem Zusammenwirken einer Reihe von günstigen Faktoren zu suchen. Solche sind hier 1) die grosse Ausdehnung der zwischen 2000-3000 m gelegenen Höhenzone;
2) die Nachbarschaft des Veltlines, das wegen der Nähe des Comersees als mächtiges Verdunstungsgebiet wirkt;
3) die wenig hohe Lage des Maloja, der den feuchten und verhältnismässig warmen Winden von der S.-Seite der Kette her leichten Zugang gestattet und endlich 4) die Nähe der mächtigen Gruppe der Bernina und anderer Hochgebirgsgebiete, an deren Hängen diese feuchten S.-Winde sich ihres Ueberschusses an Wasserdampf entledigen können.
Während die Sohle der grossen Thalschaft verhältnismässig trocken ist, erfreuen sich die Berghänge zu gleicher Zeit sowohl einer relativ hohen Feuchtigkeit als auch der Einwirkung der aus der Thalsohle aufsteigenden Wärme. Mit Hinsicht auf seine nivale Flora liesse sich mit dem Ober Engadin in der Schweiz am ehesten noch die zwischen dem Eifischthal und Simplon aufsteigende Gruppe des Matterhorns vergleichen, viel eher als z. B. das Massiv des Mont Blanc, das trotz seiner mächtigen Entwicklung in Hinsicht auf die nivale Flora ein sehr armes Gebiet ist (beträchtliche Schneebedeckung u. Vergletscherung, gleichartige petrographische Beschaffenheit des Untergrundes, Mangel an tiefern Einschnitten).
Von den Engadiner Arten finden sich auch in der Gruppe des Matterhorns (sonst aber in den Alpen des Wallis nirgends) Androsace septentrionalis, Koeleria hirsuta, Carex mucronata und C. Buxbaumii, Phyteuma humile und Callianthemum rutæfolium; dagegen weist die nivale Flora des Engadin eine Reihe von östlichen Arten auf, die man in den W.-Alpen vergeblich suchen würde, so Primula glutinosa, P. œnensis und P. integrifolia, Senecio carniolicus, Dianthus glacialis, Papaver alpinum var. Ræticum, Saxifraga Hostii, Valeriana supina, Sesleria sphærocephala, Botrychium lanceolatum, Woodsia ilvensis.
Wie das Engadin oder, allgemeiner gefasst, das ganze bündnerische Hochland die Westgrenze der Verbreitung der eben genannten Arten bildet, ist es zugleich auch die östlichste Verbreitungsgrenze mehrerer westlicher Arten. Die Scheidelinie zwischen beiden Florengebieten ist eine stark gebrochene und lässt sich etwa von der Silvrettagruppe über Süs und Zernez bis zur Gruppe des Ortler ziehen. Es treffen auf dem bündnerischen Hochplateau Arten aus der Dauphiné und aus dem Tirol zusammen, die wesentlich zur Bereicherung der hiesigen Flora beitragen, aber die eben erwähnte Scheidelinie beiderseits kaum überschreiten.
Diese Linie nun ist nicht durch ein tiefeingeschnittenes Thal gekennzeichnet, wie dies bei der Florengrenze zwischen N.- und S.-Alpen der Fall ist; sie fällt vielmehr mit der O.-Grenze des bündnerischen Hochplateaus zusammen, auf das dann erst weiter ö. ein tiefer und reicher zerschnittenes Gebiet folgt. So markiert z. B. Zernez, wo das Thal des Inn sich zu senken beginnt und sich plötzlich stark verengert, nicht nur den Beginn einer neuen topographischen Bodenform sondern auch den Uebergang zu einem neuen Klima und zu einer neuen Flora. Während also das Ober Engadin noch dem w. Florenreich zugezählt werden muss, zeigt das Unter Engadin schon zahlreiche verwandtschaftliche Beziehungen zum ö. Florenreich.
Der allgemeine Charakter der Flora des Unter Engadin gleicht ohne Zweifel in manchen Beziehungen demjenigen von gewissen Walliser Gebieten, und Rhone- wie Innufer sind beide mit dem kreuzdornähnlichen Sanddorn (Hippophaës rhamnoides) bestanden, dessen silbergrauer Blätterschmuck sich mit den hellgrünen Farben des Kreuzdorns und den grossen goldgelben Blütentrauben der Färberwaid (Isatis tinctoria) mischt. Trotzdem sind aber eine grosse Anzahl von Arten des Unter Engadin rein südliche oder östliche Typen, die sich in der Schweiz sonst nirgends mehr vorfinden; es trifft dies z. B. zu für die interessante, an feuchte Standorte gebundene Cortusa Matthioli, für die Stellaria Friesiana, Rosa caryophyllacea, das Sisymbrium strictissimum u. Thalictrum alpinum.
Von noch ausgesprochener östlichen Arten finden sich im Unter Engadin, Münsterthal und Val Samnaun: Pedicularis asplenifolia und P. Jacquini, Centaurea austriaca, Sempervivum montanum var. pallidum und S. Wulfeni (diese beiden Arten auch im Ober Engadin), Primula glutinosa, P. graveolens und P. œnensis, Draba stellata und D. tomentosa var. nivea, Orobanche lucorum, Senecio nebrodensis, Capsella pauciflora, Euphorbia carniolica (Tarasp, Vulpera), Lilium bulbiferum (Fuldera, Tarasp).
Unabhängig von diesen speziell östlichen Arten weist das Engadin auch sonst noch eine Reihe von Seltenheiten auf, die sich sonst in der Schweiz blos noch im Wallis finden. Hierher gehören Trichophorum alpinum, Primula longiflora, Crepis jubata, Leontodon pseudocrispus, Geranium aconitifolium und G. divaricatum, Alsine rostrata, Adenostyles leucophylla, Viola pinnata, Plantago serpentina, Allium strictum, Cytisus radiatus (Unter Engadin), Galium triflorum (Tarasp). Durchaus hochalpine Arten sind Draba Thomasii, Hutchinsia brevicaulis, Alsine lanceolata und A. mucronata, Arenaria Marschlinsii, Astragalus leontinus, Potentilla nivea, Herniaria alpina, Phyteuma pauciflorum und Ph. humile, Pedicularis incarnata, Juncus arcticus, Carex ericetorum var. membranacea, Carex fimbriata.
Wieder andere Arten kommen ausser im Engadin und Wallis in der Schweiz nur ganz vereinzelt und sehr selten vor, so Callianthemum rutæfolium, Oxytropis lapponica, Pleurogyne carinthiaca, Carex ustulata, Dracocephalum austriacum.
Von grossem Interesse ist auch die bis jetzt weniger gut durchforschte Kryptogamenflora des Engadin. Wertvolle Nachweise über Moose und Flechten finden sich besonders in den Aufsätzen von J. Amann: Une excursion bryologique dans la Haute Engadine (im Bulletin de l'Herbier Bossier. Vol. IV, 10). Genève et Bâle 1896 und T. Howse: Moss Flora of St. Moritz (in The Alpine Journal. Vol. V, 1870-72), sowie in der gleich zu nennenden Flora von Killias. In Bezug auf die Algen verweisen wir auf Ernst Overton's Notizen über die Grünalgen des Ober Engadin (in den Berichten der schweizer. botan. Gesellschaft. Bd. VII). Bern 1897 und Notizen über die Wassergewächse des Ober Engadin (in der Vierteljahrs- ¶
mehr
schrift der Naturforsch. Gesellsch. in Zürich. 1899). Die Gefässpflanzen des interessanten Gebietes sind für ein gründliches Studium ausreichend beschrieben in folgenden Werken: Killias, Ed. Die Flora des Unter Engadin. Chur 1888. - Heer, Osw. La flore de l'Engadine comparée à celle des régions boréales (in den Archives des sc. phys. et naturelles. T. 18, 1863; Verhandlungen der schweiz. naturforsch. Gesellsch. Samaden 1863). - Christ, H. Das Pflanzenleben der Schweiz. Zürich 1879; 2. unveränderte Ausgabe. Zürich 1882.
[Dr. Paul Jaccard.]
Einen ähnlichen Reichtum und eine ähnliche Zusammensetzung aus alpinen, nordischen, östlichen und südlichen Arten wie die Pflanzenwelt weist die Insektenwelt, besonders die Ordnung der Schmetterlinge auf, weshalb das Engadin ebenso sehr ein Eldorado der Entomologen wie der Botaniker ist. Die höhere Tierwelt ist diejenige des übrigen Bünden: Gemsen, Murmeltiere, Alpenhasen überall in den höhern Regionen, seltener in den Wäldern Hirsche und Rehe. Auch Bären zeigen sich noch hier und da. Unter den Vögeln ist der Lämmergeier, wenn überhaupt noch vorkommend, jedenfalls eine äusserste Seltenheit.
Ziemlich häufig ist dagegen der mächtige Steinadler. Dazu kommen Auerhühner, Birkhühner, Schneehühner, Wildtauben etc. Nicht sehr zahlreich sind die kleinen Singvögel, vielleicht wegen der Nähe Italiens, wo sie auf ihren Wanderzügen schonungslos abgefangen werden. Von Schlangen mag die Kreuzotter erwähnt werden, die sich an den sonnigen Halden des Unter Engadin ziemlich häufig findet, von Fischen die Forellen, die die Seen und Flüsse bis in sehr hohe Lagen, z. B. bis zum Lej Sgrischus (2640 m) im Val Fex, bevölkern.
Die Bewohner des Engadin sind romanischen Stammes und sprechen das Ladinische, den schönsten und reinsten der romanischen Dialekte. Sie sind ein schöner, kräftiger und intelligenter Volksschlag mit schwarzen, lebhaften Augen und schwarzem Haar.
Ueber einige Hauptergebnisse der Volkszählung von 1900 gibt folgende kleine Tabelle eine Uebersicht:
Ew. | Deutsch | Roman. | And. | Ref. | Kath. | And. | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
% | % | % | % | % | % | ||
Ob. Engadin | 5498 | 24 | 48 | 28 | 66 | 31 | 3 |
Unt. Engadin | 6275 | 15 | 80 | 5 | 78 | 22 | 0 |
Zusammen | 11773 | 19 | 65 | 16 | 72.5 | 26 | 1.5 |
Das Engadin hat also nahe an 12000 Einwohner, wovon die etwas grössere Hälfte auf das Unter Engadin kommt. Etwa ⅔ der Bevölkerung sind romanisch, 1/5 deutsch und der Rest von andern Sprachen, namentlich italienisch. Dabei ist zu beachten, dass das italienische Element gegenwärtig infolge des Albula-Bahnbaus stärker vertreten ist als sonst. Daher die 28% Anderssprachigen des Ober Engadin, wo die Italiener besonders auf der Strecke von Bevers bis St. Moritz sehr stark vertreten sind; machen sie doch in Bevers über 60, in Samaden über 20 und in St. Moritz ca. 30% der Gesamtbevölkerung aus.
Wie man aus der Tabelle sieht, ist auch das Deutsche im Ober Engadin stärker vertreten als im Unter Engadin. Das letztere hat mit 80% seinen romanischen Charakter viel besser bewahrt als das erstere. In konfessioneller Beziehung dominiert der Protestantismus. Immerhin erscheinen die Katholiken mit 26% der Bevölkerung zahlreicher als es nach früheren Zählungen der Fall war, wo sie nur mit ca. 20% erschienen, wie jetzt noch im Unter Engadin. Auch dies ist eine Folge der gegenwärtig zahlreichen italienischen Arbeiterbevölkerung. Daher die über 30% Katholiken im Ober Engadin (Bevers bis St. Moritz). Im Unter Engadin sind wesentlich nur Tarasp und Samnaun katholisch. Das letztere bietet ein Beispiel einer rein deutschen und rein katholischen Bevölkerung, eine Folge seiner Verkehrsverbindung mit Tirol, wohin ja dieses Thal ausmündet.
Die Hauptbeschäftigung der Engadiner ist Viehzucht und Alpwirtschaft, für welche die ausgedehnten Matten und Weiden eine ausgezeichnete Grundlage gewähren. Der Viehstand ist denn auch sehr beträchtlich und von schönem Schlag. Dazu wird auch viel fremdes Vieh auf den Engadiner Alpen gesömmert, und eine ganze Reihe hochgelegener Schafalpen werden an Bergamasker Hirten verpachtet. In Anbetracht der Höhenlage ist auch der Landbau nicht ganz unbedeutend. Selbst das Ober Engadin hat noch einigen Feld- und Gartenbau. Im Unter Engadin aber nehmen die zahlreichen kleinen Roggenfelder auf der Sonnenseite einen sehr beträchtlichen Raum ein; Gerste geht im Scarlthal sogar bis 1800 m, und Birn- und Apfelbäume finden sich noch bei Remüs.
Dazu kommen Kartoffeln, Gemüse, Hanf u. Flachs mit gutem Ertrag. Einen dritten grossen Erwerbszweig bietet der stets zunehmende Fremdenverkehr, dessen Mittelpunkte im Ober Engadin Pontresina, St. Moritz, Maloja und Samaden, im Unter Engadin Schuls und Tarasp sind, und der mehr und mehr sich auch über fast alle andern Orte ausbreitet. Von der Bedeutung dieses Verkehrs legen nicht nur die zahlreichen, zum Teil sehr stattlichen Fremdenetablissemente beredtes Zeugnis ab, sondern auch die nicht weniger als 7 fahrbaren Bergstrassen, die das Engadin mit der übrigen Welt verbinden: Flüela-, Albula-, Julier-, Maloja-, Bernina-, Ofenpass- und Finstermünzstrasse, wozu noch eine Reihe ziemlich begangener Pässe für den Fuss- und Saumverkehr kommen, wie der Scaletta (nach Davos) und der Casanapass (nach Livigno) und viele andere.
Bald wird auch die Albulabahn fertig sein, die das Engadin mit dem übrigen Bünden über Bergün, Tiefenkasten und Thusis verbinden und an die sich eine Linie nach dem Unter Engadin anschliessen wird. Viele Engadiner suchen ferner ihren Erwerb im Ausland, indem sie in jüngeren Jahren auswandern, um als Konditoren, Kaffeewirte u. Geschäftsleute verschiedener Art ein oft nicht unbedeutendes Vermögen zu erwerben, mit dem sie dann in reiferen Jahren in ihr Heimatthal zurückkehren.
[Dr. Ed. Imhof.]