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Piz Plavna, Piz Pisoc, Piz San Jon, Piz Lischanna, Piz Ajüz, Piz S-chalambert, Piz Lad etc. sind daraus aufgebaut, eine Gipfelreihe von einer Mannigfaltigkeit der Formen und Farben, wie sie nur selten in solcher Höhe und in so langer Front vorkommt. Doch reicht dieses Triasgebiet nicht überall an die Innlinie. Im NW. grenzt es längs einer ziemlich geraden, aber orographisch nicht markierten Linie von Cinuskel über den Stragliavitapass etwa bis Tarasp an die Gneis- und Schiefermasse des Piz Nuna, die vom Inn w. und n. umflossen wird und nach SW. und NO. sich allmählig verschmälert, so dass gegen die genannten Enden hin noch der Sockel der Bergwände aus krystallinen Felsarten, die obern Stockwerke aber aus Triasgesteinen bestehen. Von Tarasp weiter abwärts und von Cinuskel weiter aufwärts etwa bis Ponte treten dann die Triasformationen bis an die Innlinie heran. - Ein zweites Sedimentgebiet liegt links vom untersten Engadin, etwa von Giarsun unter Guarda bis über Finstermünz hinaus und von der Thalsohle hinauf zum Piz Minschun, Piz Tasna, Piz Spadla, Stammerspitz, Muttler, Piz Mondin und bis ins Samnaun.
Hier dominieren die in ihrem Alter immer noch nicht sicher bestimmten und in ihrem petrographischen Charakter sehr wechselnden Bündnerschiefer mit grossen Einlagerungen von Gips und Serpentin und mit reichen Mineralquellen, letztere besonders bei Fetan, Schuls, Tarasp und im Val Sinestra. Die mächtigsten Serpentinmassen finden sich oben am Piz Minschun und hinter demselben, dann unten bei Ardez, sowie in zwei durch Gneis getrennten Streifen auch auf der rechten Thalseite. Dazwischen finden sich auch einzelne kleinere Massen von Granit, Diorit, Kalk und andern Gesteinen. Das dritte und kleinste Sedimentgebiet zieht sich als schmaler Streifen aus dem mittleren Bünden über Bergün und den Albulapass bis nach Ponte und Capella und setzt sich über den Piz Casana und quer durch das Livignothal fort bis nach den Quellen der Adda und in die Nähe der Bäder von Bormio. Er besteht hauptsächlich aus Jurakalken.
Auch die alteruptiven und altkrystallinen Gesteine des Engadin zerfallen in drei Gruppen:
1) die Granite, Diorite, Syenite in teils massiger, teils schiefriger Ausbildung; dann Gneise, Hornblendegneise und verschiedene krystalline Schiefer der Berninagruppe vom Murettopass bis zum Berninapass und auch noch darüber hinaus in der Piz Languardgruppe bis ins Val Chamuera;
2) die Granitmasse (vorwiegend Hornblendegranite, Julier- und Albulagranit) vom Septimer bis zum Albulapass und Piz d'Err mit einigen Trias-, Lias-, Serpentin-, Grünschiefer- und Gabbroeinlagerungen;
3) die ausgedehnte Gruppe von vorherrschenden Gneisen und Hornblendeschiefern vom Piz Kesch bis zum Fluchthorn, die die Thalsohle des Engadin auf der Strecke von Capella bis Giarsun erreicht und im Piz Nunastock auch noch beträchtlich auf die rechte Thalseite hinübergreift. Dazu gesellen sich partienweise auch Sericit- und Talkschiefer, Phyllite (Theobalds Casanaschiefer) und verwandte Gesteine. Verfolgt man diese Gesteinsgruppen speziell längs der Thalfurche des Engadin, so zerlegt sich dieses in fünf geologisch verschiedene Abschnitte.
Vom Maloja bis Ponte ist es in krystalline Felsarten (Granit, Syenit, Diorit, Gneis, Glimmerschiefer), von Ponte bis Capella in Trias- und Liaskalke, von Capella bis Zernez als ungefähre Formationsgrenze zwischen Gneisgebirge links und Dolomitgebirge rechts, von Zernez bis Giarsun in Gneis und krystalline Schiefer und von Giarsun bis Finstermünz in Kalkformationen (links Lias, rechts Trias) eingegraben. Jeder dieser Abschnitte zeigt seinen besondern landschaftlichen Charakter.
Doch ist dieser nicht allein durch die Gesteinsverhältnisse bestimmt. Es spielen dabei vielmehr auch die Höhenlage, die Thalbreite, das Klima und die Vegetation eine wesentliche Rolle, und man unterscheidet darum unter Berücksichtigung aller Verhältnisse nicht fünf, sondern nur zwei Hauptstufen des Thales: das Ober Engadin und das Unter Engadin. Die Grenze zwischen beiden nimmt man in der Regel bei der Brücke Punt Auta, etwa 5 km unterhalb Scanfs, an.
Das Ober Engadin ist ein flaches Muldenthal mit weitem, ebenem Thalboden und meist nicht allzusteil ansteigenden Seitengehängen. Durch einen Querriegel zwischen St. Moritz und Celerina zerfällt es selber wieder in zwei Stufen. Die oberste Stufe schmückt eine lange Kette prächtiger Seen, die die stolzen Formen und blinkenden Gletscher der umstehenden Gebirge wiederspiegeln und an deren Ufer stattliche Dörfer mit den einfachen Häusern der Eingebornen und den glänzenden Palästen der Fremdenetablissemente sich ausbreiten. Auch die zweite Thalstufe von Celerina bis unter Scanfs muss einst ihren See gehabt haben, der aber durch die Ablagerungen der Seitenbäche längst zugeschüttet worden ist. Jetzt nehmen weite Wiesenflächen, zum Teil auch Sumpf- und Moorböden seine Stelle ein. Aehnlich wie auf der obern Stufe
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zieht sich auch hier eine lange Perlenschnur stattlicher und reicher Dörfer von zum Teil städtischem Aussehen längs dem Fuss der linken Bergwand, d. h. auf der Sonnenseite des Thals und in etwas erhöhter Lage hin. Nur Campovasto liegt ähnlich wie auch Sils-Maria der obern Stufe auf der rechten Thalseite.
Einen ganz andern Charakter hat das Unter Engadin. Hier arbeitet sich der Inn in meist enger, schluchtartiger Rinne zwischen hohen, steilansteigenden Bergwänden durch. Nur selten und auf kurze Strecken findet sich eine kleine Thalerweiterung mit ebenem Boden und flachen Flussufern, so bei Zernez und von Süs bis Lavin. Dafür ziehen sich, besonders auf der linken Seite, schöne, sanfter geneigte und sonnenreiche Terrassen an den Gehängen hin, auf welchen freundliche Dörfer, umgeben von Wiesen und Feldern, hoch über der engen Thalrinne tronen, während die steilere und schattigere rechte Thalseite fast durchweg dem Wald reserviert ist.
Nur Tarasp und einige ganz kleine Oertchen haben hier noch Raum gefunden. Der grössern Erhabenheit und den einheitlicheren Formen des Ober Engadin gegenüber zeichnet sich das Unter Engadin durch einen mehr romantischen Charakter und einen grössern landschaftlichen Wechsel aus, wie dies durch die finstern Schluchten und rauschenden Wasser der Tiefe, die sonnigen Terrassen mit den langhingestreckten Dörfern der linken Thalseite und der reichen Vegetation, der es auch nicht an zahlreichen Kornfeldern und einigem Obstbau fehlt, die dunklen weit hinaufreichenden Wälder überall in den Schluchten und besonders an den steilen Gehängen der rechten Seite und durch die stolzen Gipfel der «Engadiner Dolomiten» bedingt wird.
Die ungewöhnliche Höhenlage und das auffallend geringe Gefälle des Engadin, sowie sein Charakter als Längsthal und seine allseitige Abgeschlossenheit durch hohe Gebirgswände üben einen wesentlichen Einfluss auf sein Klima und seine Vegetationsverhältnisse aus. Das Engadin hat ein typisches Hochthal- und Längsthalklima: eine dünne, leichte, reine und trockene Luft, relativ heitern Himmel und geringe Niederschläge, bei frischkühler Luft doch eine starke Sonnenstrahlung und bedeutende Bodenwärme.
Dabei zeigen die Temperaturen sehr beträchtliche tägliche und jährliche Schwankungen. Das Klima erhält überhaupt einen Zug ins Kontinentale. Eine Vergleichung von Sils-Maria im Ober Engadin (1810 m) mit der ungefähr gleich hohen Rigi (1790 m) mag dies verdeutlichen. Sils-Maria hat eine mittlere Jahrestemperatur von 1,5° C. bei einer Januartemperatur von -8° und einer Julitemperatur von 11,3°; die Rigi dagegen ein Jahresmittel von 1,7° bei einem Januarmittel von -4,8° und einem Julimittel von 9,7°. Bei ungefähr gleichen mittleren Jahrestemperaturen ist also im Ober Engadin der Winter kälter, der Sommer wärmer als auf der Rigi, die Differenz zwischen kältestem und wärmstem Monat dort fast 5° grösser als hier.
Der grössern Sommerwärme ist es gewiss auch hauptsächlich zuzuschreiben, dass die Vegetationsgrenzen und insbesondere die Waldgrenze im Engadin höher steigen als in den übrigen Teilen der Alpen, ausgenommen das Wallis, wo ähnliche Höhen- u. Klimaverhältnisse herrschen wie im Engadin. Günstig auf das Pflanzenleben wirken ferner die starke Sonnenstrahlung und die erhöhte Bodentemperatur, wie sie dem Hochthal mit seiner dünnen und trockenen Luft eigen sind.
Die Insolation ist selbst im Winter an hellen Tagen so kräftig, dass die dann sonst herrschende niedrige Lufttemperatur nicht unangenehm empfunden wird und die Leute oft mitten im Winter ohne Ueberzieher sich im Freien aufhalten können, ein Umstand, der neben der trockenen und ruhigen Luft das Engadin ähnlich wie Davos auch zu Winterkuren für Lungenkranke geeignet machen würde. Eine weitere Eigentümlichkeit des Engadinerklimas sind die geringen Niederschläge, für welche innerhalb der Schweiz auch wieder nur das Wallis ein Analogon bietet.
Dabei nehmen dieselben vom Ober Engadin gegen das Unter Engadin allmählig ab. Für Sils-Maria, das sich dem regenreichen Bergell nähert, betragen sie nach Hann im Jahresmittel 95, für Bevers 79, für Zernez 59 und für Remüs 57 cm, während sie im schweizerischen Mittelland meist zirka 100 und in den nach diesem sich öffnenden Alpenthälern etwa 120-150 cm betragen. Im langen Winter, nicht selten auch mitten im Sommer, fällt dieser Niederschlag natürlich als Schnee, der Berg und Thal in ein gleichmässiges, blendend weisses Gewand hüllt und im Leben der Engadiner, in ihrem Verkehr, in ihren Heu- und Holztransporten, in ihren winterlichen Belustigungen und Festen, in Sport und Spiel eine wichtige Rolle spielt. Bei der Schneeschmelze helfen dann der warme Sonnenschein und die trockene Luft durch rasche Verdunstung den Boden trocknen und die Vegetation vor einem Uebermaass kalten Schneewassers bewahren.
[Dr Ed. Imhof.]
Flora.
Wie das Wallis ist auch das Engadin für den Botaniker ein Fund- und Arbeitsgebiet ersten Ranges. Die topographische Beschaffenheit u. Höhenlage des
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bündnerischen Hochlandes, dem auch das Ober Engadin angehört, bedingen das hier herrschende kontinentale Klima, das sich vor demjenigen aller andern Teile der Schweizer Alpen durch hohe Trockenheit und grosse Lichtfülle auszeichnet. Immerhin bedingt der die ganze Thalschaft umrahmende Gürtel von Hochgipfeln und Gletschern die Bildung einer zwischen 1600 und 1800 m Höhe gelegenen Zone, längs der sich der Wasserdampfgehalt der Luft gerne zu Regen verdichtet.
Daher die wunderbare Frische und der ausserordentlich üppige Wuchs der subalpinen Wiesen und Weiden des Engadin. Während im Winter das Temperaturmittel hier weit unter diejenigen der übrigen Abschnitte der Alpenländer sinkt, steigt es im Sommer doch bis zu Beträgen an, wie sie andernorts in den Alpen nur um 500-600 m tiefer gelegene Gebiete erreichen. Im Engadin schwankt die mittlere Januar- und Julitemperatur zwischen den Extremen von 20° unter und über Null. Da die Hauptmasse der Wärme dem Frühjahr und Sommer zu Gute kommt, entfaltet sich das Pflanzenleben hier schon bemerkenswert früh, so dass man die zarten Blumenkronen der Enziane, Potentillen, Anemonen, Krokus und des roten Heidekrautes zu seiner grossen Ueberraschung z. B. bei Sils und St. Moritz, in einer Höhenlage von nahe an 1800 m, schon zu Ende März und gegen Mitte April sich entfalten und die ganze Frühjahrsflorula in vollem Blütenschmuck prangen sieht zu einer Zeit, da die gleich hoch gelegenen Gebiete der zentralen Alpen noch in ihren winterlichen Schneemantel gehüllt sind. Es macht sich diese rasche Wärmezunahme im Frühjahr, die zugleich die Dauer der vegetativen Periode der Pflanzenwelt verlängert, besonders in dem nach oben bis zu etwa 2400 m ansteigenden Baumwuchs geltend.
Der Hochwald besteht der Hauptsache nach aus Lärchen und Arven. Die Arve findet sich längs der hochgelegenen Berghänge ununterbrochen auf eine Strecke von mehreren Kilometern Länge und steigt am Wormserjoch in vereinzelten Gruppen sogar bis 2426 m an, womit sie die von ihr im Wallis erreichte obere Höhengrenze noch überschreitet. Nirgends in der Schweiz entwickeln sich Lärche und Arve schöner als hier im Ober Engadin, wo sie die zu ihrem gemeinsamen Gedeihen günstigsten Bedingungen zu finden scheinen. Es spielt denn auch im Engadin die Arve im Haushalt der Bewohner eine wichtige Rolle; ihr im Kern rotes und eigenartig frisch duftendes Holz wird mit Vorliebe zur Verkleidung der Zimmerwände verwendet, während ihre Nüsse, im Romanischen nuschells geheissen, als gesuchte Leckerbissen gerne gegessen werden. In seinem Pflanzenleben der Schweiz (S. 229) sagt Hermann Christ: «Mit den leichten, anmutigen Lärchen zusammen bildet die Arve einen seltsamen Kontrast und erscheint als eine vorweltliche Gestalt. Und doch sind beide aufs innigste verschwistert und folgen genau denselben klimatischen Beziehungen; sie halten treu zusammen über den ganzen Kontinent bis an den äussersten Osten Asiens.»
Da die Zapfen der Arve zu ihrer völligen Reife einer Zeitdauer von drei Jahren bedürfen und da ihr Samen erst nach Verlauf eines Jahres keimt, da ferner Mäuse, Häher, Eichhörnchen und nicht zum mindesten auch der Mensch eifrig nach den Arvennüsschen fahnden, ist es nicht zu verwundern, wenn die natürliche Aussaat der Arve heute sozusagen gleich Null ist und dieser prachtvolle Waldbaum Tag für Tag an Boden verliert. Hier und da bildet auch die Bergföhre noch einige vereinzelte Bestände; auch die Fichte findet sich noch häufig, und in tiefern Lagen des Thales gedeiht die Weisstanne.
Stellenweise trifft man in den Nadelholzwald eingestreut noch die Birke, Eberesche, Traubenkirsche, Espe u. a. Laubhölzer. Auf Lichtungen, im Unterholz und am Rande der subalpinen Wälder ist der Boden oft mit den weissen Blumen der Linnæa borealis übersät, die einen zierlichen Gegensatz bilden zu den roten Büschen der Alpenrose, den grossen blauen Blumen der Alpenwaldrebe (Clematis alpina), der Alpenakelei, des himmelblauen Sperrkrautes (Polemonium coeruleum) u. zu den dunkelroten Blumenkronen von zwei prachtvollen Rosenarten (Apfelrose, Rosa pomifera, und Zimmtrose, Rosa cinnamomea).
Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten der Engadiner Flora ist das oft auf Strecken von mehreren Kilometern Länge festzustellende Vorkommen von alpinen Arten auf völlig ebenen und regelmässig gemähten Wiesenflächen. So kann man hier z. B. mitten in der subalpinen Zone und mitten im hohen Wuchs von Futterkräutern, Disteln, Flockenblumen, Rapunzeln, grossen Winterblumen etc. Typen pflücken, die wie Trifolium alpinum, Gentiana nivalis, Aster alpinus, Arnica montana, Viola calcarata, Androsace obtusifolia, Veronica alpina, Pedicularis tuberosa u. a. sonst in den Alpen überall nur hoch oben auf den Alpweiden der Berghänge gedeihen.
Die untern Berghänge über Silser- und St. Moritzersee sind bestanden mit Alpenrosen, Zwergwachholder, Grünerlen und arktischen Weidearten, wie z. B. der Salix arbuscula, S. myrsinites, S. glauca, S. hastata u. S. Lapponum; ihnen gesellen sich zu das Krummholz und die Salix cæsia der Südalpen. Trotz ihrer geringen Grösse üben die Seen des Engadin auf die Entwicklung ihrer Uferflora ohne Zweifel einen günstigen Einfluss aus, sei es dass sie das Sonnenlicht kräftig reflektieren, sei es dass sie der nächtlichen Temperaturabkühlung entgegenarbeiten.
Im Engadin ist aber auch die eigentliche alpine Zone an Pflanzenarten ausserordentlich reich und abwechslungsvoll, besonders in ihrem über 2500 m hoch gelegenen Abschnitte. In seiner Abhandlung über die nivale Flora der Schweiz hat Oswald Heer durch Vergleichung der verschiedenen Abschnitte der Schweizer Alpen unter sich gezeigt, dass die nivale Flora Rätiens die an Arten reichste ist. Er zählt im Ober Engadin allein etwa 340 solcher Arten auf. Der Grund für diese Erscheinung liegt vor allem in der topographischen Beschaffenheit unseres Gebietes, das eher ein hochgelegenes Plateau als eine eigentliche Gebirgskette genannt werden kann.
Daraus folgt unmittelbar, dass hier der nivalen Flora eine ausserordentlich grosse Anzahl von auch räumlich nicht zu eng beschränkten Standorten zugänglich ist. In der Zusammensetzung dieser nivalen Flora des Ober Engadin fällt zunächst der grosse Prozentsatz von arktischen Formen auf. So finden sich von solchen im hohen Norden allgemein verbreiteten Arten in der Schweiz und speziell in der alpinen und nivalen Zone des Engadin Carex microglochin, C. lagopina und C. Vahlii, Kobresia caricina, Juncus arcticus, Tofieldia borealis, Woodsia ilvensis, Potentilla
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frigida und P. nivea, Salix Lapponum, Linnæa borealis, Geranium aconitifolium, Gnaphalium norvegicum, Androsace septentrionalis u. a. Es ist versucht worden, diese Erscheinung mit der nach NO. geöffneten Richtung des Thales zu erklären, die die Einwanderung dieser Arten begünstigt habe; richtiger dürfte es sein, den Grund ihrer Anwesenheit in dem Zusammenwirken einer Reihe von günstigen Faktoren zu suchen. Solche sind hier 1) die grosse Ausdehnung der zwischen 2000-3000 m gelegenen Höhenzone;
2) die Nachbarschaft des Veltlines, das wegen der Nähe des Comersees als mächtiges Verdunstungsgebiet wirkt;
3) die wenig hohe Lage des Maloja, der den feuchten und verhältnismässig warmen Winden von der S.-Seite der Kette her leichten Zugang gestattet und endlich 4) die Nähe der mächtigen Gruppe der Bernina und anderer Hochgebirgsgebiete, an deren Hängen diese feuchten S.-Winde sich ihres Ueberschusses an Wasserdampf entledigen können.
Während die Sohle der grossen Thalschaft verhältnismässig trocken ist, erfreuen sich die Berghänge zu gleicher Zeit sowohl einer relativ hohen Feuchtigkeit als auch der Einwirkung der aus der Thalsohle aufsteigenden Wärme. Mit Hinsicht auf seine nivale Flora liesse sich mit dem Ober Engadin in der Schweiz am ehesten noch die zwischen dem Eifischthal und Simplon aufsteigende Gruppe des Matterhorns vergleichen, viel eher als z. B. das Massiv des Mont Blanc, das trotz seiner mächtigen Entwicklung in Hinsicht auf die nivale Flora ein sehr armes Gebiet ist (beträchtliche Schneebedeckung u. Vergletscherung, gleichartige petrographische Beschaffenheit des Untergrundes, Mangel an tiefern Einschnitten).
Von den Engadiner Arten finden sich auch in der Gruppe des Matterhorns (sonst aber in den Alpen des Wallis nirgends) Androsace septentrionalis, Koeleria hirsuta, Carex mucronata und C. Buxbaumii, Phyteuma humile und Callianthemum rutæfolium; dagegen weist die nivale Flora des Engadin eine Reihe von östlichen Arten auf, die man in den W.-Alpen vergeblich suchen würde, so Primula glutinosa, P. œnensis und P. integrifolia, Senecio carniolicus, Dianthus glacialis, Papaver alpinum var. Ræticum, Saxifraga Hostii, Valeriana supina, Sesleria sphærocephala, Botrychium lanceolatum, Woodsia ilvensis.
Wie das Engadin oder, allgemeiner gefasst, das ganze bündnerische Hochland die Westgrenze der Verbreitung der eben genannten Arten bildet, ist es zugleich auch die östlichste Verbreitungsgrenze mehrerer westlicher Arten. Die Scheidelinie zwischen beiden Florengebieten ist eine stark gebrochene und lässt sich etwa von der Silvrettagruppe über Süs und Zernez bis zur Gruppe des Ortler ziehen. Es treffen auf dem bündnerischen Hochplateau Arten aus der Dauphiné und aus dem Tirol zusammen, die wesentlich zur Bereicherung der hiesigen Flora beitragen, aber die eben erwähnte Scheidelinie beiderseits kaum überschreiten.
Diese Linie nun ist nicht durch ein tiefeingeschnittenes Thal gekennzeichnet, wie dies bei der Florengrenze zwischen N.- und S.-Alpen der Fall ist; sie fällt vielmehr mit der O.-Grenze des bündnerischen Hochplateaus zusammen, auf das dann erst weiter ö. ein tiefer und reicher zerschnittenes Gebiet folgt. So markiert z. B. Zernez, wo das Thal des Inn sich zu senken beginnt und sich plötzlich stark verengert, nicht nur den Beginn einer neuen topographischen Bodenform sondern auch den Uebergang zu einem neuen Klima und zu einer neuen Flora. Während also das Ober Engadin noch dem w. Florenreich zugezählt werden muss, zeigt das Unter Engadin schon zahlreiche verwandtschaftliche Beziehungen zum ö. Florenreich.
Der allgemeine Charakter der Flora des Unter Engadin gleicht ohne Zweifel in manchen Beziehungen demjenigen von gewissen Walliser Gebieten, und Rhone- wie Innufer sind beide mit dem kreuzdornähnlichen Sanddorn (Hippophaës rhamnoides) bestanden, dessen silbergrauer Blätterschmuck sich mit den hellgrünen Farben des Kreuzdorns und den grossen goldgelben Blütentrauben der Färberwaid (Isatis tinctoria) mischt. Trotzdem sind aber eine grosse Anzahl von Arten des Unter Engadin rein südliche oder östliche Typen, die sich in der Schweiz sonst nirgends mehr vorfinden; es trifft dies z. B. zu für die interessante, an feuchte Standorte gebundene Cortusa Matthioli, für die Stellaria Friesiana, Rosa caryophyllacea, das Sisymbrium strictissimum u. Thalictrum alpinum.
Von noch ausgesprochener östlichen Arten finden sich im Unter Engadin, Münsterthal und Val Samnaun: Pedicularis asplenifolia und P. Jacquini, Centaurea austriaca, Sempervivum montanum var. pallidum und S. Wulfeni (diese beiden Arten auch im Ober Engadin), Primula glutinosa, P. graveolens und P. œnensis, Draba stellata und D. tomentosa var. nivea, Orobanche lucorum, Senecio nebrodensis, Capsella pauciflora, Euphorbia carniolica (Tarasp, Vulpera), Lilium bulbiferum (Fuldera, Tarasp).
Unabhängig von diesen speziell östlichen Arten weist das Engadin auch sonst noch eine Reihe von Seltenheiten auf, die sich sonst in der Schweiz blos noch im Wallis finden. Hierher gehören Trichophorum alpinum, Primula longiflora, Crepis jubata, Leontodon pseudocrispus, Geranium aconitifolium und G. divaricatum, Alsine rostrata, Adenostyles leucophylla, Viola pinnata, Plantago serpentina, Allium strictum, Cytisus radiatus (Unter Engadin), Galium triflorum (Tarasp). Durchaus hochalpine Arten sind Draba Thomasii, Hutchinsia brevicaulis, Alsine lanceolata und A. mucronata, Arenaria Marschlinsii, Astragalus leontinus, Potentilla nivea, Herniaria alpina, Phyteuma pauciflorum und Ph. humile, Pedicularis incarnata, Juncus arcticus, Carex ericetorum var. membranacea, Carex fimbriata.
Wieder andere Arten kommen ausser im Engadin und Wallis in der Schweiz nur ganz vereinzelt und sehr selten vor, so Callianthemum rutæfolium, Oxytropis lapponica, Pleurogyne carinthiaca, Carex ustulata, Dracocephalum austriacum.
Von grossem Interesse ist auch die bis jetzt weniger gut durchforschte Kryptogamenflora des Engadin. Wertvolle Nachweise über Moose und Flechten finden sich besonders in den Aufsätzen von J. Amann: Une excursion bryologique dans la Haute Engadine (im Bulletin de l'Herbier Bossier. Vol. IV, 10). Genève et Bâle 1896 und T. Howse: Moss Flora of St. Moritz (in The Alpine Journal. Vol. V, 1870-72), sowie in der gleich zu nennenden Flora von Killias. In Bezug auf die Algen verweisen wir auf Ernst Overton's Notizen über die Grünalgen des Ober Engadin (in den Berichten der schweizer. botan. Gesellschaft. Bd. VII). Bern 1897 und Notizen über die Wassergewächse des Ober Engadin (in der Vierteljahrs-
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schrift der Naturforsch. Gesellsch. in Zürich. 1899). Die Gefässpflanzen des interessanten Gebietes sind für ein gründliches Studium ausreichend beschrieben in folgenden Werken: Killias, Ed. Die Flora des Unter Engadin. Chur 1888. - Heer, Osw. La flore de l'Engadine comparée à celle des régions boréales (in den Archives des sc. phys. et naturelles. T. 18, 1863; Verhandlungen der schweiz. naturforsch. Gesellsch. Samaden 1863). - Christ, H. Das Pflanzenleben der Schweiz. Zürich 1879; 2. unveränderte Ausgabe. Zürich 1882.
[Dr. Paul Jaccard.]
Einen ähnlichen Reichtum und eine ähnliche Zusammensetzung aus alpinen, nordischen, östlichen und südlichen Arten wie die Pflanzenwelt weist die Insektenwelt, besonders die Ordnung der Schmetterlinge auf, weshalb das Engadin ebenso sehr ein Eldorado der Entomologen wie der Botaniker ist. Die höhere Tierwelt ist diejenige des übrigen Bünden: Gemsen, Murmeltiere, Alpenhasen überall in den höhern Regionen, seltener in den Wäldern Hirsche und Rehe. Auch Bären zeigen sich noch hier und da. Unter den Vögeln ist der Lämmergeier, wenn überhaupt noch vorkommend, jedenfalls eine äusserste Seltenheit.
Ziemlich häufig ist dagegen der mächtige Steinadler. Dazu kommen Auerhühner, Birkhühner, Schneehühner, Wildtauben etc. Nicht sehr zahlreich sind die kleinen Singvögel, vielleicht wegen der Nähe Italiens, wo sie auf ihren Wanderzügen schonungslos abgefangen werden. Von Schlangen mag die Kreuzotter erwähnt werden, die sich an den sonnigen Halden des Unter Engadin ziemlich häufig findet, von Fischen die Forellen, die die Seen und Flüsse bis in sehr hohe Lagen, z. B. bis zum Lej Sgrischus (2640 m) im Val Fex, bevölkern.
Die Bewohner des Engadin sind romanischen Stammes und sprechen das Ladinische, den schönsten und reinsten der romanischen Dialekte. Sie sind ein schöner, kräftiger und intelligenter Volksschlag mit schwarzen, lebhaften Augen und schwarzem Haar.
Ueber einige Hauptergebnisse der Volkszählung von 1900 gibt folgende kleine Tabelle eine Uebersicht:
Ew. | Deutsch | Roman. | And. | Ref. | Kath. | And. | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
% | % | % | % | % | % | ||
Ob. Engadin | 5498 | 24 | 48 | 28 | 66 | 31 | 3 |
Unt. Engadin | 6275 | 15 | 80 | 5 | 78 | 22 | 0 |
Zusammen | 11773 | 19 | 65 | 16 | 72.5 | 26 | 1.5 |
Das Engadin hat also nahe an 12000 Einwohner, wovon die etwas grössere Hälfte auf das Unter Engadin kommt. Etwa ⅔ der Bevölkerung sind romanisch, 1/5 deutsch und der Rest von andern Sprachen, namentlich italienisch. Dabei ist zu beachten, dass das italienische Element gegenwärtig infolge des Albula-Bahnbaus stärker vertreten ist als sonst. Daher die 28% Anderssprachigen des Ober Engadin, wo die Italiener besonders auf der Strecke von Bevers bis St. Moritz sehr stark vertreten sind; machen sie doch in Bevers über 60, in Samaden über 20 und in St. Moritz ca. 30% der Gesamtbevölkerung aus.
Wie man aus der Tabelle sieht, ist auch das Deutsche im Ober Engadin stärker vertreten als im Unter Engadin. Das letztere hat mit 80% seinen romanischen Charakter viel besser bewahrt als das erstere. In konfessioneller Beziehung dominiert der Protestantismus. Immerhin erscheinen die Katholiken mit 26% der Bevölkerung zahlreicher als es nach früheren Zählungen der Fall war, wo sie nur mit ca. 20% erschienen, wie jetzt noch im Unter Engadin. Auch dies ist eine Folge der gegenwärtig zahlreichen italienischen Arbeiterbevölkerung. Daher die über 30% Katholiken im Ober Engadin (Bevers bis St. Moritz). Im Unter Engadin sind wesentlich nur Tarasp und Samnaun katholisch. Das letztere bietet ein Beispiel einer rein deutschen und rein katholischen Bevölkerung, eine Folge seiner Verkehrsverbindung mit Tirol, wohin ja dieses Thal ausmündet.
Die Hauptbeschäftigung der Engadiner ist Viehzucht und Alpwirtschaft, für welche die ausgedehnten Matten und Weiden eine ausgezeichnete Grundlage gewähren. Der Viehstand ist denn auch sehr beträchtlich und von schönem Schlag. Dazu wird auch viel fremdes Vieh auf den Engadiner Alpen gesömmert, und eine ganze Reihe hochgelegener Schafalpen werden an Bergamasker Hirten verpachtet. In Anbetracht der Höhenlage ist auch der Landbau nicht ganz unbedeutend. Selbst das Ober Engadin hat noch einigen Feld- und Gartenbau. Im Unter Engadin aber nehmen die zahlreichen kleinen Roggenfelder auf der Sonnenseite einen sehr beträchtlichen Raum ein; Gerste geht im Scarlthal sogar bis 1800 m, und Birn- und Apfelbäume finden sich noch bei Remüs.
Dazu kommen Kartoffeln, Gemüse, Hanf u. Flachs mit gutem Ertrag. Einen dritten grossen Erwerbszweig bietet der stets zunehmende Fremdenverkehr, dessen Mittelpunkte im Ober Engadin Pontresina, St. Moritz, Maloja und Samaden, im Unter Engadin Schuls und Tarasp sind, und der mehr und mehr sich auch über fast alle andern Orte ausbreitet. Von der Bedeutung dieses Verkehrs legen nicht nur die zahlreichen, zum Teil sehr stattlichen Fremdenetablissemente beredtes Zeugnis ab, sondern auch die nicht weniger als 7 fahrbaren Bergstrassen, die das Engadin mit der übrigen Welt verbinden: Flüela-, Albula-, Julier-, Maloja-, Bernina-, Ofenpass- und Finstermünzstrasse, wozu noch eine Reihe ziemlich begangener Pässe für den Fuss- und Saumverkehr kommen, wie der Scaletta (nach Davos) und der Casanapass (nach Livigno) und viele andere.
Bald wird auch die Albulabahn fertig sein, die das Engadin mit dem übrigen Bünden über Bergün, Tiefenkasten und Thusis verbinden und an die sich eine Linie nach dem Unter Engadin anschliessen wird. Viele Engadiner suchen ferner ihren Erwerb im Ausland, indem sie in jüngeren Jahren auswandern, um als Konditoren, Kaffeewirte u. Geschäftsleute verschiedener Art ein oft nicht unbedeutendes Vermögen zu erwerben, mit dem sie dann in reiferen Jahren in ihr Heimatthal zurückkehren.
[Dr. Ed. Imhof.]