Humoralpathologie
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Humoralpathologie,
ein Ausdruck, welcher von Virchow in die wissenschaftliche Medizin eingeführt wurde, und mit welchem
es folgende Bewandtnis hat. Von alters her haben sich die Ärzte darüber gestritten, welche Teile des
Körpers bei der Krankheit ursprünglich
ergriffen seien, und von welchem Punkt aus die Krankheit sich über den Körper verbreite.
Es standen sich in diesem Streit, welcher bis in die neuere Zeit sich fortgesponnen hat, zwei Parteien gegenüber: die Humoralpat
hologen
und die Solidarpathologen.
Die Anhänger der Humoralpathologie sahen die Säfte (humores) des menschlichen Körpers als den Ausgangspunkt der Krankheiten an. Sie meinten, daß die vier Kardinalsäfte: Blut, Schleim, die gelbe Galle und die sogen. schwarze Galle in richtiger Mischung (Eukrasie) Gesundheit, in fehlerhafter Mischung (Dyskrasie) Krankheit bedingten. Auch der Name Katarrh (Herabfließen) stammt aus der Zeit her, in welcher man darin eine dem Körper wohlthätige Entfernung des krankmachenden Schleims (Phlegma) erblickte.
Die Anhänger der Solidarpathologie dagegen stellten die festen Teile (solida) des Körpers, vor allen Dingen aber die Nerven, [* 3] als Ausgangspunkt der Krankheit, als das bei jeder Krankheit zuerst Ergriffene hin und meinten, daß die krankhaften Veränderungen der Säfte erst durch die Nerven und das Gehirn [* 4] bedingt würden. Im allgemeinen lehrt nun die Geschichte der Medizin, daß die Humoralpathologie einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der Krankheiten sich mehr näherte als die zur Mystik hinneigende Solidarpathologie.
Obschon aber die Gegenwart mehr Sympathien für die humoralpat
hologische Lehre
[* 5] hat, so sehen wir doch jetzt
ein, daß weder sie noch die Solidarpathologie ausschließlich berechtigt ist, und zwar aus folgenden Gründen. Die Krankheit
wie die Gesundheit sind Äußerungen des Lebens. Setzt man die Krankheiten in die Säfte, so muß man auch das Leben in das Blut
versetzen; sucht man aber die Krankheit in den festen Teilen, den Nerven, so muß man auch das Leben in
diesen suchen.
Nun lehren uns aber hundertfältige Thatsachen, namentlich aus dem Bereich der vergleichenden Anatomie, daß das Leben nicht ausschließlich an Blut und Nerven gebunden ist; denn es gibt zahlreiche tierische Organismen, welche offenbar Leben, aber weder Blut noch Nerven besitzen, obschon sie aus festen und flüssigen Bestandteilen bestehen. Überall aber, wo wir Leben annehmen, finden wir Zellen, an welche sowohl das normale Leben als alle krankhaften Lebensäußerungen gebunden sind.
Die Zelle [* 6] ist der einfachste Ausdruck des Lebens, sie bildet zu jeder Zeit den Ausgangs- und Mittelpunkt aller Lebenserscheinungen. Da die Zelle aber der Lebensherd ist, so muß sie auch der Krankheitsherd sein, denn Krankheit ist nur eine eigentümliche Erscheinungsweise des Lebens. Auch im Blut sind die zelligen Elemente, nämlich die Blutkörperchen, [* 7] die Herde des Lebens, und von den Nerven, den Muskeln, [* 8] den Drüsen, überhaupt von allen Geweben ist unzweifelhaft festgestellt, daß ihre Verrichtungen an die Existenz zelliger oder aus Zellen hervorgegangenen Formelemente gebunden sind. Auf diese Thatsachen gestützt, hat Virchow seine celluläre Theorie der Krankheiten aufgestellt. Diese Theorie führt den Namen der Cellularpathologie, ihre Entstehung datiert aus den letzten 40er Jahren; eine feste Gestalt erhielt sie aber erst 1858 durch Virchows bekanntes Buch »Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre« (4. Aufl., Berl. 1872). Vgl. Krankheit.