mehr
seit mit der Konzentration der Verteidigungswerke um den St. Gotthard das zu weit vorgeschobene Bellinzona als befestigter Platz aufgegeben worden ist. Aus dem Mittelalter haben sich in unsere Zeit noch hinübergerettet die alte Mauer, die drei Kastelle und die Kirchen San Biagio und Santa Maria delle Grazie.
Die grossartige Festungsmauer, als Thalsperre erbaut, zog sich vom Kastell San Michele bis zur Tessinbrücke «Torretta» und galt um 1500 als wahres Wunderwerk. Sie ist durchweg 3,5 m mächtig und wird auf ihrer ganzen Länge von einer 1,9 m breiten Galerie durchbrochen. Ihr einstiger starker viereckiger Turm «Portone» wurde 1869 auf Befehl der städtischen Behörden abgetragen. Was heute von dieser Mauer noch erhalten geblieben ist, stammt zum grössten Teile von der von Ludwig Sforza, dem Mohren, durchgeführten Erneuerung her.
Das Kastell San Michele, auch Castello Grande oder Uri geheissen, erhebt sich 48 m über dem Kirchplatz auf einem zwischen Stadt und Fluss isoliert gelegenen Felshügel. Die Zeit seiner Erbauung ist nicht bekannt. Von der Regierung 1881 fruchtlos zum Verkauf ausgeschrieben, diente das Kastell der Reihe nach als eidgenössisches Zeughaus, dann als Gefängnis und endlich als kantonales Zeughaus. Das schon vor 1340 erwähnte Kastell Montebello, San Martino oder Schwyz, ö. der Stadt, die malerischste der drei Burgen Bellinzonas, wird nicht mehr bewohnt und befindet sich in einem völlig verwahrlosten, ruinenhaften Zustand. Von der Höhe seiner mit Schlingpflanzen dicht bewachsenen Mauern geniesst man eine prächtige Rundsicht über Stadt und Thal. Das Kastell Sasso Corbaro, Santa Barbara oder Unterwalden endlich, 40 Minuten sö. der Stadt in 464 m gelegen, wurde nach der Schlacht bei Giornico 1479 erbaut und gehört nicht zur Verteidigungslinie der alten Sperrmauer. Es steht auf einem von drei Seiten von tiefen Schluchten angefressenen Felssporn und gestattet einen freien Rundblick auf Thal, Stadt und den Langensee. Zweimal, 1500 und 1600, vom Feuer stark beschädigt, ist es in den jüngst vergangenen Jahren unter der Leitung von Professor J. Rud. Rahn in Zürich sachgemäss restauriert worden und soll in ein Hotel umgewandelt werden.
Von öffentlichen Gebäuden sind bemerkenswert: die Stifts- und Pfarrkirche zu St. Stephan und St. Petrus, 1546 vom Architekten Micheletti erbaut, deren Fassade, Kuppel und Kanzel ganz aus Marmor bestehen und die mit wertvollen Bas-Reliefs geschmückt ist; der alte Regierungspalast, ehemaliges Kloster, in dem seit 1848 der Grosse Rat des Kantons seine Sitzungen hält; ^[Ergänzung: Chorherrenstift, mit 12 Chorherren, denen ein Propst vorsteht.] die kantonale Handelsschule, ein neues Gebäude in schönem Stil; das zierliche Theater (1847); das eidgenössische Postgebäude; die Kaserne, mit Raum für 2000 Mann Infanterie und 200 Mann Kavallerie; das Gebäude für die städtischen Schulen; der Spital; das städtische Rathaus, zum grössten Teil ungefähr aus dem Jahre 1500 stammend und architektonisch interessant; Kinderasyl; die 1862 gegründete Kantonalbank; die tessinische Volksbank; die Filiale der tessinischen Kreditanstalt; etc. Schulanstalten sind u. a. die in der ganzen Schweiz vorteilhaft bekannte kantonale Handelsschule, das von Theodosianerinnen geleitete Mädcheninstitut «Santa Maria», das auf das Gymnasium oder die Handelsschule vorbereitende Knabenprogymnasium Alighieri, eine Kleinkinderschule nach Fröbelschem Muster, etc.
Die industrielle Thätigkeit ist eine sehr rege: die grossen Reparaturwerkstätten der Gotthardbahn beschäftigen über 700 Arbeiter; ausserdem eine Wagenfabrik, je eine Stroh- und Filzhutfabrik, eine Weberei, eine Flachsspinnerei, zwei Selterswasserfabriken, eine Bierbrauerei, zwei lithographische Anstalten und vier Buchdruckereien. In Bellinzona erscheinen eine Tageszeitung und mehrere Wochen-, Halbmonats- und Monatsschriften und -zeitungen. Man zählt 26 berufliche und gesellige Vereinigungen: Theatergesellschaft, Kaufmännischer Verein, Offiziers-, Schützen-, Feuerwehr- und landwirtschaftlicher Verein, Velo- und Mandolinistenklub, Turn-, Musik- und Gesangvereine und endlich zahlreiche politische Gesellschaften.
Der heutige Name des Ortes tritt urkundlich 590 zum erstenmale auf als Belitio oder Belintiona, dann finden wir Berinzona, Beliciona, Birrinzona, Birizona (1168) und später Belinzona. Seine Entstehung reicht bis in die Römerzeit zurück. Als Schlüssel zum St. Gotthard, Lukmanier und St. Bernhardin war Bellinzona zu jeder Zeit einer der wichtigsten Punkte der Lombardei. Die Stadt Como, sein damaliger Eigentümer, verkaufte den Ort 1242 an Mailand, von dem er 1294 an die Visconti überging; 1307 neuerdings an Como verkauft, kam er 1390 wieder an Mailand, das ihn 1419 um den Preis von 2400 Florentinern an Uri und Unterwalden veräusserte. Schon im folgenden Jahre nahm der Feldherr Pergola auf Wunsch der Mehrzahl der Stadtbürger von Bellinzona wieder Besitz für die Visconti. 1499 kam die Stadt zusammen mit dem ganzen Herzogtum Mailand unter die Herrschaft des Königs Ludwig XII. von Frankreich, der sie 1503 im Vertrag von Arona an die drei Kantone Uri, Schwyz und
mehr
Unterwalden abtrat. Die Festungsmauern wurden durch Ueberschwemmungen 1515 und 1700 teilweise zerstört.
Als Handels- und Transitverkehrsstadt weist Bellinzona unter seinen Söhnen von jeher mehr Kaufleute als Gelehrte oder Künstler auf. Immerhin sind aber von hier gebürtig die im Dienste der Republik Venedig und Franz I. von Frankreich zu Ansehen gelangten vier Feldherren Borgo, die als Kriegsleute und Verwaltungsbeamte ausgezeichneten Rusconi, die Gelehrten und Schriftsteller Brüder Battista, die Chicherio, Molo etc. (Vergl. J. Rud. Rahn. I monumenti artistici del medio evo nel cant. Ticino. Bellinz. 1894. - Luigi Lavizzari. Escursioni nel cant. Ticino. Lugano 1859. - Brusoni. Da Milano a Lucerna).