Stil und Stilformen. Das lateinische Wort stilus, d. h. der Griffel, wurde im übertragenen Sinne für die Art der Schriftzüge des Einzelnen und schließlich für die demselben eigentümliche Ausdrucksweise gebraucht. Bei den Künsten bezeichnet Stil zunächst den Inbegriff der für die betreffende Kunstart hinsichtlich Auffassung und Behandlung geltenden Gesetze, welche letztere nicht zum geringsten Teile je nach Volk, Ort und Zeit verschieden sind. In den bildenden Künsten wird schon durch den Bildstoff eine gewisse Art der Behandlung bezw. Ausführung bedingt, bei einem Bauwerke ist letztere abhängig davon, ob jenes aus Stein, Ziegel oder Holz hergestellt wird; bei Bildnereiwerken, ob man Marmor, Erz, Thon oder Holz verwendet, bei Gemälden, ob es in Oelfarben oder in Wasserfarben, auf Tafeln oder an Wänden zu malen ist. In letzter Linie ist dann auch noch die Persönlichkeit des Künstlers maßgebend, welcher in den Werken seine Eigenart kundgiebt. Im Besonderen hat man nun für ganze Gruppen von Kunstwerken, welche gewisse gemeinsame Merkmale haben, «Stil-Arten» aufgestellt. Nach den Völkern unterscheidet man einen ägyptischen, assyrischen, griechischen u. s. w. Stil, der Zeit nach gliedert sich fast jeder derselben wieder in besondere Stilgattungen. Je nach der Vorherrschaft einer solchen Stilgattung pflegt man auch die verschiedenen Zeitabschnitte der Kunstgeschichte zu bezeichnen. Weder diese Zeiteinteilung noch die Bezeichnungen selbst sind im Allgemeinen
^[Abb.: Fig. 709. Aegyptische, assyrisch-babylonische und persische Säulen-Formen.]
besonders zutreffend, wie ich dies an früherer Stelle schon erörtert habe. Am augenfälligsten zeigen sich die Stil-Unterschiede auf dem Gebiete der Baukunst, und da diese in den ältesten Zeiten auch die führende Rolle innehatte, so erklärt es sich, daß die verschiedenen Baustil-Arten für die Abgrenzung und Bezeichnung der Stil-Zeiten maßgebend wurden. Im Nachstehenden wird daher auch nur von den Baustilen die Rede sein.
Wie ich oben erwähnte, wird durch gewisse den Werken gemeinsame Merkmale, welche hauptsächlich bestimmte Formen betreffen, eine Stilart gekennzeichnet. Vor Allem spielt da die Hauptrolle die Säule - in zweiter Linie steht dann der Bogen - so daß in der That die verschiedenen Säulen- und Bogen-Formen für die Erkennung der Baustile das beste Hilfsmittel bieten.
Säulen. Aegyptische, assyrisch-babylonische und persische Formen. Die eigenartige Form der ägyptischen Säule entstand durch Nachbildung von Pflanzen und zwar vornehmlich des Lotos und der Papyrusstaude. Der Widersinn, daß schwache Pflanzen als Träger starker Lasten benutzt werden, erscheint dadurch gemildert, daß die Decken durch Bemalung mit Sternen und fliegenden Vögeln als das Himmelsgewölbe gekennzeichnet wurden, die Pflanzensäulen also gleichsam in die freie Luft hineinwuchsen. Da aber doch aus praktischen Gründen die Säulen sehr stark sein mußten, so half man sich damit, dieselben als Bündel von Pflanzen darzustellen. Als erste entwickelte Form ist Nr. 1 der Fig. 709 anzusehen, vier zusammengeschnürte Lotospflanzen, deren Knospen das Kapitäl bilden. Sie gehört dem mittleren Reiche an; im alten fand durchwegs die aus dem Pfeiler durch Abfasen der Kanten entstandene Form Anwendung.
Durch Vervielfältigung der Pflanzen und häufigere Umschnürung entstand die Form 2 und aus dieser entwickelte sich durch Fortlassung der durch die Stengel und die Umschnürungen gebildeten Gliederungen die Form 3, bei der nur noch in der Bemalung mit Fußblättern der pflanzliche Ursprung erkennbar ist. Durch Umgestaltung des geschlossenen, sich nach oben verjüngenden Kapitäls in eine breite Kelchform, die in den Blätterdolden des Papyrus ihr Vorbild hatte und dementsprechend bemalt wurde, entstand die Form 4, der die Mittel-Säulen des großen Tempelsaales von Karnak (Fig. 15) angehören. Schließlich tritt noch eine neue Art auf, deren Kapitäl wieder Pflanzenformen wiedergiebt, die Säule mit dem Palmenkapitäl. - Damit sind die Hauptformen der ägyptischen Säulen gekennzeichnet. Das Gebälk besteht, wie Fig. 710 zeigt, aus einem mit Inschriften geschmückten Mauerstück, das oben mit einem Rundstabe eingefaßt und mit der dem ägyptischen Stil eigentümlichen Hohlkehle gekrönt ist.
Für den assyrisch-babylonischen Baustil sind die Abbildungen 6-8 bezeichnend, welche einige Bruchstücke von Flachbildern zeigen, auf denen Gebäude dargestellt sind. Man sieht
^[Abb.: Fig. 710. Aegyptisches Gebälk.]
^[Abb.: Fig. 711. Griechische Säulenordnungen.
A Dorische, B Jonische, C Korinthische Ordnung.]