liche, die «Seele» wird vielmehr lebendig vor uns. Wie in der Wirklichkeit bei einem geistvollen Menschen das Spiel der Gedanken in jenem der Mienen ersichtlich wird, so geschieht dies auch hier, die ausdrucksvollen Augen, der zum leisen Lächeln geöffnete Mund, nicht zum mindesten aber auch die Hände «sprechen». Die Bedeutung der Hände für das Persönliche hat vor Lionardo niemand in gleichem Maße erfaßt. Man kannte wohl «Geberden», die Hände in lebhafter Bewegung, daß sie aber auch in anscheinender Ruhe für die persönliche Eigenart kennzeichnend sind, war eine neue Offenbarung und wirkte auch als eine solche. Seither «sehen» die Maler auch auf die Hände und auf ihre lebensvolle Wiedergabe wird von manchem nicht weniger Sorgfalt verwendet, als auf jene der Züge. Auch die Landschaft mit ihrem zarten Dufthauch ist zu dem Bilde «gestimmt», kurz, jede Einzelheit hat ihre bedeutungsvolle Rolle, um die Gesamtwirkung hervorzubringen: die Persönlichkeit in Leib und Seele lebendig zu machen.
^[Abb.: Fig. 509. Lionardo: Bildnis der Mona Lisa.
Paris, Louvre.]
Lionardos Hauptwerk ist das «Abendmahl» im Speisesaal des Klosters S. Maria della Grazie in Mailand, von dessen einstiger Schönheit freilich nur noch ein schwacher Schimmer erhalten blieb. Zum Teil trägt Lionardo die Schuld selbst, indem er versuchte, das Wandbild in Oelfarben zu malen; mehr noch ist der heutige Zustand durch die Mißhandlungen verursacht worden, denen das Bild durch Unverständige ausgesetzt war. Die Darstellung des Vorganges ist meisterhaft in der gedanklichen Auffassung und der lebensvollen Veranschaulichung der Seelenzustände, die das wesentliche Kennzeichen für die Kunst Lionardos und der Hochrenaissance überhaupt sind. Es ist der Augenblick gewählt, der den Worten Christi folgte: «Einer unter Euch wird mich verraten.» Das Bild schildert den
^[Abb.: Fig. 510. Lionardo: Die Madonna in der Felsgrotte.
Paris, Louvre.]