die Grundzüge der wahren Schönheit in derselben erkannte. Vischer griff nicht auf die Antike zurück, sondern entwickelte seine Kunstweise auf der Grundlage der unmittelbaren Vergangenheit, also aus dem Mittelalterlichen heraus, und bewahrt ihr vollkommen die deutsche volkliche Eigenart. Wie bei Kraft ist auch bei ihm die tiefe Empfindung, das Schaffen aus dem Gemüte heraus, bezeichnend; aus einer lebhaften Einbildungskraft fließt jene reiche Erfindungsgabe und Gestaltungsfähigkeit, welche im Verein mit einer ausgebildeten Kunstfertigkeit ihn in den Stand setzte, seinem Werke die Vorzüge großartigen Aufbaus und feiner Durchführung, geistvoller Auffassung und reiner Schönheit zu verleihen. In der Anordnung des Ganzen ist alles wohl abgewogen mit Rücksicht auf den Zweck, auf die Eigenart des Stoffes (Erz), auf den vollen Einklang aller Einzelheiten. Die schwungvollen Formen ergeben sich ganz ungezwungen aus dem Grundgedanken und den Stoffbedingungen; ihre unendliche Mannigfaltigkeit zeugt von einer unversieglichen Gedankenfülle, die Einheitlichkeit des Ganzen von der künstlerischen Kraft des Meisters. - Auf einem mit Flachbildwerken gezierten Unterbau ruht der Sarg, diesen inneren Teil umgeben acht schlanke Pfeiler, welche durch Spitzbogen verbunden sind und einen aus drei Kuppeln bestehenden Aufbau tragen.
Die Bauformen sind von edelstem Maß und reizvoller Durchbildung, dabei völlig zweckmäßig für ihre Bestimmung, bildnerischen Schmuck zu tragen, gestaltet. Die Flachbildwerke schildern die Wunderthaten des heiligen Sebaldus mit einer frischen Lebendigkeit und ausdrucksvollen Kraft, welche mit einfachen Mitteln den Vorgang sinnig und deutlich veranschaulicht. An der einen Schmalseite zwischen den Pfeilern steht die Figur des Heiligen, der mit großartiger Würde verklärt und erhaben dargestellt ist, das Gegenstück dazu bildet auf der anderen Seite die Gestalt des Meisters selbst, in völlig naturtreuer Wiedergabe, ein vollendetes Ebenbildnis (Fig. 488). Dieser Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Ideal, dem gewöhnlichen Menschen und dem Heiligen - ist ein ungemein feiner Zug. An den Pfeilern sind die Standbilder der Apostel (Fig. 486 u. 487) und oben jene der Propheten angebracht, jeder von besonderer, seine Eigenart bezeichnender Haltung, die ganze Stufenleiter von Gefühlen ist hier ausgedrückt.
Sie sind schlank gebildet, naturwahr im Körperlichen, von schönstem Adel in den Zügen und von schwungvollem Linienfluß in der Gewandung. Das sonstige überreiche Zierwerk ist verständnisvoll angeordnet und steigert die einheitliche Schönheit des Ganzen. Vischer verwendet hierbei sinnbildliche und sagenhafte Gestalten (Herkules, Perseus, die Tugenden u. s. w.), Gruppen von spielenden Kindern, Frauen und Satyrn, Delphine, Krabben; Natürliches und Erfundenes in bunter Mannigfaltigkeit.
Diese vollendete bildnerische Kunstweise zeigen nun auch die späteren Werke des Meisters in Nürnberg, Erfurt, Regensburg u. a. O. Eines der schönsten, ein ursprünglich für die Fuggersche Begräbniskapelle bestimmtes, dann im Nürnberger Rathause aufgestelltes Gitter ist leider verloren gegangen, und wir kennen es nur aus Zeichnungen. Es enthielt
^[Abb.: Fig. 489. Vischer: König Arthur.
Innsbruck. Hofkirche.] ¶
eine Fülle von Zierformen, welche zu den vorzüglichsten der Renaissancezeit gehörten. War hier das Spiel der Einbildungskraft und die köstliche Anmut bemerkenswert, so zeigt sich Vischers Kunst in der Darstellung des Persönlichen in dem Standbilde des Königs Arthur (Fig. 489), welches er im Auftrage des Kaisers Maximilian für die Hofkirche in Innsbruck ausführte.
Vischers Nachfolger. Peter Vischer hatte für die deutsche Bildnerei nicht nur die neue Richtung begründet, sondern in derselben auch das Höchste geleistet. Seine Kunstweise blieb nicht nur in Nürnberg maßgebend, wo seine fünf Söhne die Werkstatt in seinem Sinne, wenn auch nicht mit gleicher Kunstvollendung weiterführten, sondern war auch vorbildlich für andere Gegenden. Es ist jedoch ein erfreuliches Zeugnis für die innere Lebenskraft der deutschen Kunst, daß man von einer bloßen «Nachahmung» Vischers nicht sprechen kann, sondern nur von einer Aufnahme seiner künstlerischen Grundsätze, also der Abkehr von der einseitigen Wirklichkeitstreue. Die verschiedenen Meister in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erscheinen meist von einer Unabhängigkeit und selbständigen Eigenart, die verdienstlich ist, wenn auch ihre Leistungen erheblich hinter den Werken des großen Meisters zurückbleiben.
Tilman Riemenschneider. Neben Kraft und Vischer ist jedoch noch ein dritter Meister für die Entwicklung der deutschen Bildnerei bemerkenswert: der Würzburger Tilman Riemenschneider (1460 bis 1531). Er arbeitete vorwiegend in Stein, doch sind auch verschiedene Holzschnitzereien von ihm vorhanden. Von Kraft unterscheidet er sich namentlich dadurch, daß er seinen Körpern schlanke Verhältnisse, und den Gesichtszügen einen Ausdruck von Wehmut giebt; die Köpfe, namentlich die weiblichen sind breit geformt, die Gewandung zeigt geradlinigen, oft rechtwinklig gebrochenen Faltenwurf.
Die Schilderung lebendiger Bewegung gelingt ihm weniger gut. Die Gestalten in ruhiger Haltung sind dagegen vorzüglich. Bezeichnend ist seine Vorliebe für reich gelocktes Haar, mit dem er seine schönen jugendlichen Köpfe ausstattet. In der Wiedergabe des Anmutigen und in dichterischer Auffassung übertrifft er Kraft; wie er überhaupt auf strenge Wirklichkeitstreue weniger Bedacht nimmt und die Natur zu verklären sucht. Doch fehlt ihm noch die künstlerische Kraft Vischers, um das urbildlich Schöne voll zu erfassen, und so geraten
^[Abb.: Fig. 490. Riemenschneider: Adam und Eva.
Würzburg. Marienkapelle.]
^[Abb.: Fig. 491. Riemenschneider: Kreuzabnahme.
Heidingsfeld.] ¶