so scheint es fast, als wollten die Steinmetzen an denselben das verwirklichen, was an großen Bauten auszuführen ihnen versagt bleiben mußte. Der Stein ist in Wahrheit in ein Gewebe aus zarten Maßwerkformen verwandelt worden, das bis in die kleinsten Teile die liebevollste Ausführung zeigt.
Anwendung der Bauformen in der Kleinkunst. Daß bei der Allgemeinherrschaft bestimmter Formen diese auch bei den Werken der eigentlichen Kleinkunst fast ausschließlich auftreten, ist nach diesen Ausführungen wohl leicht erklärlich. Vielleicht hat auch öfters eine Wechselwirkung der Art stattgefunden, daß erst einzelne neue Formen an Werken der Kleinkunst erfunden wurden, die man dann in der Baukunst verwendete. Eine Gefahr bestand (und wurde auch nicht vermieden), daß die aus der Baukunst auf die Kleinkunst übertragenen Formen falsch angewendet wurden, und daß sie infolge des Bestrebens, möglichst Zierliches und Neues zu erfinden, verwilderten.
Der erste Fall trat häufig ein, indem z. B. die Wände der Geräte (sehr häufig an Weihrauchfässern) ganz aus gotischen Fenstern zusammengesetzt wurden oder Strebebogen u. s. w. als bloßer Zierat benutzt wurden. Die Verwilderung der Formen äußert sich in Künsteleien, die durch die Schwierigkeit ihrer Herstellung Bewunderung erregen sollten. Das Maßwerk wird seltsam verschnörkelt und schließlich in Astwerk verwandelt. Während in der Baukunst, selbst in der Zeit des hochentwickelten Schmuckstiles, der Schmuck der Bauwerke nie deren Zweckmäßigkeit beeinträchtigen durfte, ist das Umgekehrte bei den Kleinkunstwerken häufig der Fall, die durch ihre zu reiche Ausschmückung oftmals zu reinen Prunkstücken ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit werden.
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Zeitliche Scheidung in früh- hoch- und spätgotischen Stil. Die gotische Bauweise zeigt natürlich sowohl in zeitlicher, wie in örtlicher Hinsicht eine verschiedenartige Entwicklung. In ersterer unterscheidet man drei Stufen: den frühgotischen oder strengen, den hochgotischen, blühenden oder reichen, und den spätgotischen Stil. Eine scharfe Trennung dieser Zeitstufen ist freilich nicht möglich, da je nach den örtlichen Verhältnissen der Entwicklungsgang verschieden war; im Allgemeinen läßt sich nur sagen, daß die Blütezeit in das 14. Jahrhundert fällt und etwa nach dem Jahre 1430 der Niedergang eintrat. Die nähere Betrachtung dieser zeitlichen Verschiedenheiten wird daher zweckmäßiger mit jener der örtlichen Entwicklung zu verbinden sein, und es mag genügen, nur auf einige Hauptpunkte hinzuweisen.
Die frühgotische Bauweise verwendet einfachere Formen und legt das Hauptgewicht auf die strenge und folgerichtige Durchführung der Baufügung; im einzelnen wird sie namentlich gekennzeichnet dadurch, daß die Grundpfeiler weniger reich gegliedert, die Knäufe mit naturtreuem Blattwerk verziert sind; die Strebebogen erscheinen als einfache Mauerwölbungen, der Rundstab herrscht im Gewölbe wie beim Maßwerk vor.
Bei den hochgotischen Bauten tritt bereits das prächtige Zierwerk augenfälliger hervor, so daß für den ersten Anblick die Wirkung mehr durch dieses, als durch die Baufügung selbst bestimmt wird; letztere ist nun zur vollendeten Feinheit durchgebildet, man gestattet sich größere Freiheit in der Anwendung der Gesetze und geht bisweilen bis zu den äußersten Grenzen, um Leichtigkeit und Schlankheit zu erzielen, alle Massenhaftigkeit aufzulösen. Die Pfeiler erscheinen daher als Bündel von Halbsäulen und Stäben, die Strebebogen werden durchbrochen. Das Blattwerk ist willkürlicher geformt, der Gratstab (Rundstab mit einer schmalen Platte an der Vorderseite) tritt an Stelle des glatten Rundstabes, das Maßwerk wird in rein geometrischen Figuren gebildet.
Den spätgotischen Stil kennzeichnet die Ueberladung mit Zierwerk bei Willkürlichkeit in der Behandlung der Formen, der innere Zusammenhang des ersteren mit der Baufügung wird nicht mehr berücksichtigt, diese selbst kehrt wieder zum Massigen zurück. Anstatt des einfachen Spitzbogens werden der geschweifte oder der umgekehrte angewendet, in den Kreuzgewölben werden Rippen eingefügt, welche für die Baufügung überflüssig sind und nur den ¶
Zweck haben, Figuren zu bilden (Netzgewölbe, Sterngewölbe);
bei dem Maßwerk erscheinen die geometrischen Figuren verzerrt (Fischblasen- und Flammenmuster);
die Stäbe sind nicht selten gewunden, das Blattwerk oft übermäßig gekraust;
dagegen die Pfeiler achteckig oder rund, meist ungegliedert und daher massig.
Die Häufung des Zierwerks, das willkürlich, um seiner selbst willen und nicht blos zur Hervorhebung bedeutsamer Glieder der Baufügung angebracht wird, bringt den Eindruck des Unruhigen hervor, die schöne Klarheit und Ebenmäßigkeit der Hochgotik geht verloren.
Diese zeitlichen Stufen gelten im Grunde nur, wenn man die Entwicklung des Stiles in seiner Gesamtheit oder Allgemeinheit betrachtet, in den einzelnen Gebieten tritt oft die eine oder die andere in den Hintergrund, und zutreffender bezeichnet man daher den frühgotischen als «strengen» und den spätgotischen als «Zierstil», woran im folgenden auch festgehalten werden soll. Ferner muß noch besonders darauf hingewiesen werden, daß sehr viele Bauten keinen einheitlichen Stil zeigen, sondern sich Eigentümlichkeiten der verschiedenen Stufen vorfinden, was sich aus der langen, Jahrhunderte währenden Bauzeit erklärt.
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Die Gotik in Frankreich. Da Nordfrankreich das Ursprungsland der gotischen Bauweise ist, haben wir es auch an erster Stelle zu betrachten. Die religiöse Begeisterung, welche im 12. Jahrhundert zu den Kreuzzügen geführt hatte und durch diese wieder genährt wurde, äußerte sich auch in dem lebhaften Eifer für Kirchenbauten, für welche man nicht nur Geldmittel opferte, sondern an denen sich Leute aller Stände durch persönliche Dienstleistungen beteiligten, so daß selbst Vornehme die schwersten Lastträgerarbeiten verrichteten. Die Menge solcher freiwilligen Hilfsarbeiter ermöglichte auch vielfach eine rasche Vollendung der Bauten, wie dies schon bei der vorhin erwähnten Hauptkirche von St. Denis (Fig. 277) des Abtes Suger der Fall war. Während diese und einige andere gleichzeitige Bauten die Vorbereitungsstufe der neuen Bauweise darstellen, kam letztere bei der Frauenkirche zu Paris - Notre Dame - und der Hauptkirche von Laon zum Durchbruch. Man pflegt daher diese Bauten, denen sich auch die Hauptkirche von Sens anschließt, als die ersten Vertreter des frühgotischen (strengen) Stiles zu betrachten. Der Bau von Notre Dame (Fig. 278 u. 279) wurde 1163 begonnen, 1182 war der Chor vollendet.
Langhaus, Türme und Querschiffe wurden erst im 13. Jahrhundert ausgebaut. (Erst nach 1296 erscheint die Kirche in ihrer derzeitigen Gestalt fertig.) Die Hauptkirche von Laon dürfte etwas früher begonnen worden sein, denn sie weist noch mehr romanische Stileigentümlichkeiten auf, welche auch bei Notre Dame nicht fehlen. (So ist beispielsweise der Chor noch halbkreisförmig und nicht vieleckig angelegt.) Wenn auch die gotische Eigenart erst bei den späteren Teilen voller zum Ausdruck kommt, so sind gerade die ältesten lehrreich für die anfängliche Entwicklung des Stiles.
Die Anwendung der Verstrebung (Strebepfeiler und -Bogen), die Rippengewölbe, die lebendige Durchbildung aller Teile unter dem Gesichtspunkte der Baufügung kennzeichnen den neuen Geist, aber noch ist die zierliche Leichtigkeit und Lichte nicht erreicht, die Mauern sind dick, die Säulen stark, die Formen überhaupt kraftvoll und der Eindruck des Düsteren und Schwerfälligen stellt sich ein. Bei der Stirnseite von Notre Dame, welche für die französischen Bauten vorbildlich wurde (um 1220 vollendet), ist bemerkenswert, daß die wagrechte Gliederung noch nicht aufgegeben ist, wie dies bei der Hochgotik der Fall ist.
Neben den drei Thoren, die einen Vorbau zwischen den Streben bilden, ist eine Nischengalerie (mit 28 Standbildern) angebracht, und ebenso sind das zweite und dritte Stockwerk durch gerade Linien begrenzt. Sonst ist aber die Anordnung von vollendeter Klarheit und schönen Verhältnissen; sie erweist sich in der That als eine Grundlage für die spätere reiche Ausbildung der Stirnseitenanlage und ist somit bezeichnend für die Eigenart des «strengen» Stiles. Ebenso sehen wir in Notre Dame bereits eine andere wesentliche Eigenheit der Gotik ausgebildet, das ist die unmittelbare Eingliederung der Türme in das Ganze, welche den Grundgedanken des Aufstrebens in die Höhe auf das deutlichste zum Ausdruck bringen sollten. Die ursprüngliche Zweckbestimmung des Turmes als Glockengehäuse tritt ganz in den ¶