Hauptverdienst als Bahnbrecher gebührt doch den Aelteren. Die verständnisvolle Verwertung der Eigenschaften des Marmors ist bei Skopas noch ausgebildeter als bei Phidias und dessen Nachfolgern; er weiß den Stein so zu behandeln, daß man den Eindruck lebendigen Fleisches gewinnt. Doch nicht in dieser mehr äußerlichen Kunstfertigkeit liegt die Bedeutung des Meisters, sondern in der wirkungsvollen Wiedergabe der inneren Seelenvorgänge. Diese prägen sich in den Gesichtern seiner Gestalten mit einer Deutlichkeit aus, wie sie bisher nicht erreicht worden war. Skopas liebte die Darstellung leidenschaftlicher Bewegung und brachte diese nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der ganzen Haltung meisterhaft zum Ausdruck.
Praxiteles und seine Werke. In diesem Punkte unterscheidet er sich von Praxiteles, der die Darstellung ruhiger Zustände bevorzugt. Diese erfordert im Grunde eine höhere Kunst, als jene einer lebensvollen Handlung;
der Eindruck einer stark bewegten Gestalt ist unmittelbarer;
es wirkt da alles zusammen, um den Gedanken des Künstlers zu verdeutlichen;
um einen Seelenzustand in ruhiger Haltung dem Beschauer zum vollen Bewußtsein zu bringen, muß der Meister noch feiner und schärfer die entscheidenden Züge herausarbeiten.
Ruhige Klarheit und edles Maß zeichnet die Werke des Praxiteles aus; und seiner künstlerischen Eigenart mußte daher auch die Darstellung des anmutigen, von zarten Gefühlen und sinnlichen Empfindungen bewegten Weibes besonders zusagen.
Das «Weibliche». Praxiteles war der erste, welcher die volle Schönheit des weiblichen Körpers - ob er ihn nun bekleidet oder entkleidet gab - in einer so reinen und keuschen Weise darstellte, daß die sinnliche Erscheinung bei aller Menschlichkeit geadelt und ins Erhabene gerückt erscheint. Die Köpfe seiner Aphroditen sind von einem Liebreiz, welcher das Gemüt tief ergreift, es ist der Ausdruck der reinsten «Weiblichkeit an sich».
Der Zug von Anmut und Lieblichkeit kehrt auch in seinen jungen männlichen Gestalten wieder. Wie Polyklet das «Männliche» auf seine weiblichen Figuren (Amazonen) übertrug, so finden wir bei Praxiteles den umgekehrten Vorgang; er bildet seine Jünglinge aus dem «Weiblichen» heraus. Daß er auch kraftvolle, gereifte Männlichkeit darzustellen vermochte, dafür würden zwei Werke zeugen: Sophokles und der bärtige Dionysos, die ihm zugeschrieben werden, von denen uns allerdings nur Nachbildungen überkommen sind.
Praxiteles kann gewissermaßen als Schöpfer der beiden Urbilder (Typen) der Aphrodite und des Dionysos, des Rein-weiblichen und des Männlich-weiblichen, betrachtet werden, welche in der Kunst der Folgezeit eine so hervorragende Rolle spielen. Auch die Einführung der Geleitschaftszüge (Thiasos) der Götter geht wohl hauptsächlich auf ihn zurück, obwohl schon Skopas einen solchen in der Gruppe geschaffen hatte, welche die Ueberführung Achills nach der Insel der Seligen darstellte. Hier erschien der Gott Poseidon schon mit einem Gefolge von Fabelgestalten, Tritonen und Nereïden. Jedenfalls aber ist es Praxiteles, welcher die dionysische Gefolgschaft der Bacchanten, Mänaden, Satyre und Nymphen als Gegenstände künstlerischer Darstellung zuerst in ausgedehnterem Maße verwertete.
Eigenart der neuen Richtung. Gegenüber Phidias, welcher das Göttlich-Erhabene und Menschlich-Ernste in seinen Werken darzustellen sucht, erscheint Praxiteles als Vertreter der Richtung, welche das Menschlich-Erhabene und die Sinnenfreudigkeit zum Gegenstande der Kunst macht. Darin spricht sich nicht so sehr ein Gegensatz der künstlerischen
^[Abb.: Fig. 116: Betender Knabe.
Bronzestandbild. Berlin, Museum.]
Naturen, als vielmehr jener der Zeiten aus, von denen ja die ersteren auch immer abhängig bleiben.
Diese Richtung blieb auch fernerhin maßgebend; zeit- und naturgemäß geht die Entwicklung dahin, daß das Sinnliche immer mehr in den Vordergrund tritt und zwar in doppelter Hinsicht: das Erhabene, Veredelte wird durch das Streben nach Naturtreue verdrängt, und die Absicht, auf die Sinne zu wirken, tritt zu Tage.
Die Nachfolger des Skopas und Praxiteles. Daß die beiden großen Meister Schüler und Nachahmer hatten, ist wohl selbstverständlich; es zeugt aber von der Stärke und Blüte des griechischen Kunstgeistes, daß neben und nach ihm Künstler wirkten, die ihre selbständige Eigenart bewahren und geltend machen konnten. Wir besitzen aus dem 4. Jahrhundert eine Reihe von Werken, welche im Allgemeinen zwar der künstlerischen Richtung entsprechen, welche in Skopas und Praxiteles ihren vollen Ausdruck fand, die aber in ihrer Eigenart unbeeinflußt von jenen erscheinen. In manchen Einzelheiten zeigen diese Werke auch eine höhere Vollendung, einen wirklichen Fortschritt der Kunstfertigkeit, wenn auch nicht immer in der Auffassung.
Man kann wohl sagen, daß jedes dieser berühmten Stücke irgend einen besonderen Vorzug aufweist;
in ihrer Gesamtheit betrachtet, lassen sie hauptsächlich folgende Punkte erkennen: das Streben nach immer größerer Naturtreue paart sich mit jenem, den Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften recht deutlich wiederzugeben, daher Vermehrung und stärkere Betonung der Einzelzüge;
man begnügt sich nicht mehr mit den einfacheren Mitteln, da die Wirkung gesteigert werden soll;
am meisten kommt dies der Bildniskunst zu statten, welche ganz Vorzügliches leistet.
Lysippos und die peloponnesische Kunstrichtung. Die athenische oder attische Kunst, deren Entwicklung im Vorstehenden kurz gekennzeichnet wurde, hatte seit Praxiteles die Vorherrschaft gewonnen, indessen erstand auch auf dem Peloponnes zu Ende des 4. Jahrhunderts noch ein Meister, der eine besondere Stellung einnimmt und zu bedeutendem Einfluß gelangte.
Es ist dies Lysippos, der Liebling Alexander des Großen, welcher nur von diesem Künstler nachgebildet sein wollte. Lysippos arbeitete ausschließlich in Erz, wie sein Vorbild Polyklet, dem er auch darin gleicht, daß die Darstellung des männlichen Körpers ihn vor allem beschäftigt. Die Durchbildung der Form, also das «Aeußerliche», ist ihm die Hauptsache, auf welcher er allen Fleiß verwendet, auf den geistigen Ausdruck legt er weniger Gewicht. Seine männlichen Gestalten zeichnen sich durch hohe Schönheit der
^[Abb.: Fig. 117. Ruhender Satyr des Praxiteles.
Marmornachbildung. Rom, Kapitol.]
^[Abb.: Apollon Sauroktonos des Praxiteles.
Marmornachbildung. Rom, Vatikan.]
^[leere Seite]
Verhältnisse aus und hierin wich auch er von der Natur ab, die er sonst - vor allem in seinen Personenbildnissen - mit scharfer Beobachtung getreulich wiederzugeben suchte. Dieser «naturalistische» Zug tritt auch in seinen «idealen» Gestalten - Herakles, Poseidon - zu Tage, und man versteht auch, daß er als Tierbildner besonders gerühmt wurde. Seine Stellung zu Alexander gab wohl auch Anlaß, daß er die Darstellung von Vorgängen des gewöhnlichen Lebens und geschichtlicher Ereignisse in die Kunst einführte.
Das Streben nach Naturwahrheit. Lysippos erscheint bereits als Vertreter der «Naturwahrheit», welche für die Kunst der nächsten Zeit immer mehr maßgebend wird, die im übrigen sich in den von den großen Meistern eröffneten Bahnen bewegt und im Grunde nichts wesentlich Neues bringt. Es treten auch keine einzelnen Künstler mehr besonders hervor; die voll ausgebildete Arbeitsfertigkeit und Geschicklichkeit ist Gemeingut der zahlreichen Werkstätten geworden, die auf sorgfältige und saubere Ausführung achten. - Der reiche Formenschatz der athenischen (attischen) Kunstschulen, im geringeren Maße auch jener der peloponnesischen Richtung, wird ausgenützt, indem man die einzelnen Formgedanken und -Züge (Motive) der älteren Meister mit mehr oder minder Geschick und Verständnis mannigfach umgestaltet und verändert; die Anordnung und Zusammenstellung (Komposition) wird reichhaltiger, und darin bethätigt sich eine lebhafte Erfindungsgabe.
Die dichterischen Fabelwesen werden besonders beliebte Gegenstände der Darstellung, die auch immer mehr das gewöhnliche Leben in ihren Kreis zieht. Die auf Naturwirklichkeit abzielende Richtung bringt es mit sich, daß auch die Göttergestalten immer «irdischer» werden. Am deutlichsten erkennt man dies an den Aphrodite-Standbildern; erhob die ältere Kunst die Gestalt des Weibes in das Göttlich-Erhabene, so wird jetzt die Göttin zum gewöhnlichen Weibe, bei welchem das rein Sinnliche immer stärker hervorgekehrt wird.
«Akademische» Kunstweise. Man kann auf die Kunst dieses Zeitalters das gebräuchliche Wort «akademisch» anwenden, was so viel bedeutet, daß die bewußte Ueberlegung,
^[Abb.: Fig. 118. Hermes des Praxiteles.
Olympia.]
das Verstandesmäßige, anstatt der ursprünglichen inneren und unbewußten Empfindung, die Künstler leitet, sie «lernen» aus Vorbildern sowohl wie aus der Natur und tragen verschiedene Züge solcher Vorbilder zusammen. Man «studiert die Anatomie» des Körpers an Leichen, weil der Verstand die Ursachen der Erscheinungsformen ergründen will, um diese wiedergeben zu können, während die früheren Meister sie einfach mit geistigem Auge erschauten und erkannten.
Ausbreitung der griechischen Kunst im Osten. Mit Alexander war die Kunst wieder nach Osten gewandert und findet dort ihre hauptsächlichsten Pflegestätten, namentlich in Vorderasien und auf ägyptischem Boden. Die Herrscher der verschiedenen hellenischen Reiche, welche auf den Trümmern des persischen entstanden, lieben Glanz und Pracht, und die Kunst muß zu ihrer Verherrlichung beitragen. Dem höfischen Beispiele folgen auch die reichen Volksschichten und so gewinnen insbesondere die Bildnerei und Malerei ein großes Absatzgebiet, was natürlich die Ausdehnung der Kunstthätigkeit ungemein fördert. - Wie schon in früheren Abschnitten erwähnt wurde, verdrängt im ganzen Osten die griechische Kunst die bodenständige fast völlig und nimmt nur bisweilen von letzterer einige Eigentümlichkeiten auf. Sie wird daher zutreffend nicht mehr als bloß «griechische», sondern als «hellenistische» Kunst bezeichnet, denn es sind nicht mehr allein «geborene Griechen», sondern auch «griechisch Gebildete», von griechischem Kultur- und Kunstgeist erfüllte Fremde, welche sie ausüben.
Hellenistische Kunst. - Schule von Rhodos. Es sind insbesondere drei Stätten, an denen die Kunst blühte: Alexandrien, Rhodos und Pergamon. Während aber Alexandrien nur durch umfangreiche Thätigkeit hervorragt, im übrigen aber keine besondere Eigenart aufweist, entstehen in Rhodos und Pergamon Kunstschulen voll selbständiger Bedeutung. Die Insel Rhodos hatte sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren vermocht und bestand als Freistaat selbst noch in der römischen Kaiserzeit. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schwang sich Rhodos zur ersten See- und Handelsmacht im östlichen Mittelmeer auf und gelangte zu gewaltigem Reichtum. Es ist daher begreiflich,
^[Abb.: Fig. 119. Ruhender Hermes.
Bronzefigur. Neapel.]
daß hier ein günstiger Boden für die Kunst war und sich eine eigene Bildhauerschule entwickeln konnte, welche im Allgemeinen der von Lysippos eingeschlagenen Richtung folgte.
Als «Weltwunder» berühmt war das Riesenstandbild (34 m hoch) des Sonnengottes aus Erz, der «Koloß von Rhodos», welches nach kaum 60jährigem Bestand durch ein Erdbeben umgestürzt wurde. Unserer Zeit ist nur ein Hauptwerk der rhodosischen Schule erhalten geblieben, die Gruppe des Laokoon. Die Darstellung körperlicher Qual ist wohl nirgends vollendeter als in diesem Gebilde.
Schule von Pergamon. Viel reichhaltiger sind die Zeugnisse für das Wirken der Kunstschule von Pergamon in Kleinasien, der Hauptstadt eines im 3. Jahrhundert gegründeten Reiches, dessen Könige, Attalos I. und Eumenes, das Entstehen einiger bedeutsamer Bauwerke und Bildhauerwerke veranlaßten.
Attalos hatte die in (277 v. Chr.) Kleinasien eingedrungenen Gallierstämme besiegt und unterworfen, und ließ zum Andenken dieses Sieges sowohl in Pergamon wie auf der Akropolis zu Athen Gruppen von Erzbildwerken aufstellen, von welchen uns Nachbildungen einiger Figuren in Marmor erhalten blieben. Sie zeigen, welche hohe Vollendung in der naturwahren Wiedergabe des Körpers und in Auffassung der persönlichen Eigenart die pergamenische Schule erreicht hatte.
Die Bildwerke vom Fries des von Eumenes errichteten Altarbaues gehören ebenfalls zu dem Besten, was die hellenistische Kunst geschaffen hatte. Der Fries enthielt die Darstellung des Kampfes der Götter mit den Riesen (Giganten) in Flachbildnerei; die Vorgänge sind ungemein lebendig und bewegt geschildert, die überreiche Fülle voll Gestalten gab den Künstlern Gelegenheit, eine erstaunliche Erfindungsgabe und Vielseitigkeit in der Kennzeichnung der Einzelnen, in den Stellungen und Bewegungen zu entfalten.
Das Hauptgewicht ist aber immer auf diese äußerliche Formgebung gelegt, und man sieht, wie auf «Wirkung» abgezielt wird, wozu auch das starke Herausarbeiten der Figuren aus dem Hintergrunde dienen sollte. Auch ragen bisweilen einzelne Glieder aus der Wandfläche heraus, was die ältere Flachbildnerei vermieden hatte.
Andere Schulen. Daß auch außerhalb der genannten Kunststätten Bedeutsames geschaffen wurde, ist zweifellos, wenn sich auch im einzelnen nichts Bestimmtes darüber nachweisen läßt, inwieweit der Einfluß der genannten Schulen reichte oder Selbständigkeit anzunehmen ist. Der «Farnesische Stier» wird beispielsweise von einigen der rhodosischen Schule, von anderen der pergamenischen zugeschrieben. Unter den Werken, welche von
^[Abb.: Fig. 120. Ruhender Ares.
Sog. Ares Ludovisi. Rom, Museo Boncompagni.]
unbestimmbarer «Schule» sind, befinden sich mehrere, welche viel genannt werden, so auch die Aphrodite von Milo, welche übrigens deutlich zeigt, wie die hellenistische Kunst die einzelnen Züge aus Vorbildern entlehnte und mit großem Geschick zusammenstellte, so daß das Werk trotz des Mangels innerlicher Einheit einen starken Eindruck macht.
Griechische Kunst im Westen. Unteritalien. Sicilien. Einigermaßen auffallend erscheint es, daß seit dem 5. Jahrhundert das Griechentum des Westens - in Unteritalien und Sicilien - kein selbständiges Kunstleben mehr zeigt, wie ein solches in der Zeit des altertümlichen (archaischen) Stiles bestand. Die Ursachen dürften nicht blos in den politischen Wirren - Kämpfe mit den Karthagern und mit Athen - sondern auch in einer gewissen Erschlaffung des geistigen Lebens zu suchen sein. Reich und prunkliebend waren diese westlichen Griechenstädte zwar immer noch, aber man zog es vor, den Bedarf an Kunstwerken und Künstlern aus dem Mutterlande zu decken. Immerhin halte ich die Möglichkeit nicht für ausgeschlossen, daß es auch dort eine eigene Kunstthätigkeit gab, von deren Werten wir nur keine nähere Kenntniß besitzen, weil die Römer sie verschleppt hatten.
Sicher ist jedoch, daß insbesonders Sicilien die Ausbreitung griechischer Kunst nach dem Westen vermittelte, zunächst im Herrschaftsgebiete Karthagos, wo der griechische Einfluß den «phönikischen Stil» fast völlig in den Hintergrund drängte, und sodann im römischen Italien.
Verpflanzung der griechischen Kunst nach Rom. Im Jahre 212 v. Chr. war Syracus, die führende Stadt des Westgriechentums, von den Römern erobert worden, welche dessen Kunstschätze heimführten. In den nächsten Jahren erlitten Capua und Tarent das gleiche Schicksal, und von da an wurde es zur Regel, daß die römischen Feldherren die Kunstwerke der eroberten Städte in Massen nach Rom sandten. Das war für die Betroffenen allerdings bedauerlich, die griechische Kunst gewann aber damit ein weiteres Herrschaftsgebiet. In erster Linie galt dies für die Bildnerei und Malerei, deren Werke ja eben nach Rom kamen, während jene der Baukunst nicht verschleppt werden konnten. Auf dem Gebiete der letzteren findet demnach mehr eine Vermischung der altitalischen Bauweise mit der griechischen statt, wobei die erstere ihre Eigenart auch zur Geltung bringt. Die römische Baukunst zeigt wesentliche Verschiedenheiten, eine Fort- und Umbildung, was bei der Bildnerei und Malerei nicht der Fall ist, diese erscheinen völlig im Banne der griechischen Richtung.
Es dürfte damit gerechtfertigt sein, daß ich die römische Bildnerei gleich im Anschlusse an die griechische behandle.
Die Bildnerei in Rom. Die Verpflanzung der griechischen Kunst nach dem Osten hatte, wie vorhin gezeigt wurde, das Aufkommen neuer Schulen zur Folge, die «hellenistische»
^[Abb.: Fig. 121. Eros von Centocelle.
Rom, Vatikan.]
Kunstrichtung besitzt eine Eigenart. In Rom entwickelt sich die Sache anders. Hier beschränkt sich die Kunstthätigkeit zunächst auf das bloße Nachbilden (Kopiren), der griechischen Werke. Der Umstand, daß man in Rom alle bedeutsamen Schöpfungen der griechischen Kunst aufgehäuft hatte, macht dies verständlich. Besseres zu schaffen, schien unmöglich, und es konnte daher eine selbständige Regung nicht aufkommen.
Seit der Eroberung Griechenlands (146 v. Chr.) hatte man übergenug «Originalwerke», nicht nur um die Stadt, ihre Plätze und öffentlichen Gebäude zu schmücken, sondern auch für die Heimstätten der römischen Beamten und Feldherren, welche auch «für eigene Rechnung» plünderten. Den Anderen, welche nicht in der Lage waren, sich auf diese Weise Kunstschätze zu verschaffen, genügten aber die Nachbildungen.
Nachbildung griechischer Werke. In der letzten Hälfte des 2. und bis zu Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. sind daher in Rom griechische Künstler aus Athen und Kleinasien thätig, welche die alten Meisterwerke nachbilden. Aus Eigenem leisten sie nichts anderes, als daß sie verschiedene Züge oder Einzelwerke zu Gruppen zusammenstellen.
Es entstehen unter anderen auch Bildnisstandbilder, bei denen der Körper nach einem berühmten Vorbilde geformt ist, dem nur der Kopf mit den Zügen des Darzustellenden aufgesetzt wurde. Die Behandlung ist natürlich ungleich, je nach der Fertigkeit der einzelnen Künstler, manche Nachbildungen sind ungemein sorgfältig gearbeitet, andere wieder unbeholfen, auch wurde vielfach willkürlich das Vorbild abgeändert.
Erscheint diese Thätigkeit an und für sich geringwertig, so müssen wir doch dankbar für dieselbe sein, denn ihr verdanken wir überhaupt das Meiste, was wir von der griechischen Kunst wissen, da die ursprünglichen Werke mit verschwindenden Ausnahmen verloren sind und nur die Nachbildungen auf uns kamen.
Vorwiegend wurde Marmor zu den Nachbildungen verwendet - auch für Bildwerke, die ursprünglich aus Erz geformt waren - verhältnismäßig seltener die Bronze, obwohl die einheimisch-italische Kunst im Erzguß eine ziemlich hohe Stufe erreicht hatte. Auch dies zeugt dafür, daß kein Zusammenhang zwischen jener und der eingeführten Kunstweise
^[Abb.: Fig. 122. Dionysos. Torso.
Neapel, Museo Nazionale.]
^[Abb.: Fig. 123. Kopf des Apollon vom Belvedere.
Rom, Vatikan.]
bestand. Die zugewanderten Griechen mochten wohl auch etwas verächtlich auf die einheimische Richtung herabgesehen und es verschmäht haben, an diese anzuknüpfen.
Weltliche Richtung der Kunst im römischen Gebiete. In Griechenland hatte die ältere Bildnerei in erster Linie für religiöse Zwecke geschaffen, in Rom herrschte zur Zeit, als die griechische Kunst eindrang, der «weltliche Sinn» und die Kunstwerke sollten zum Schmucke des öffentlichen und privaten Lebens dienen. Diesem Geiste entsprachen daher die «verweltlichten» Darstellungen der hellenistischen Zeit mehr als jene der älteren Schulen.
Die römischen Nachbildner ziehen daher auch das Gefällige, die Sinne Reizende, vor, so verlieren auch die Göttergestalten immer mehr die Züge des Erhabenen, man sieht in der Aphrodite nur mehr das schöne sinnliche Weib.
Ausbildung der Arbeitsfertigkeit. Das einzige Gute, was dieser fast anderthalb Jahrhunderte währenden Kunstthätigkeit nachzurühmen ist, liegt in der Ausbildung der Arbeitsfertigkeit. Die römischen Künstler haben sich eine Sicherheit in der Behandlung und Verwertung der Formen angeeignet, welche sie schließlich auch zu mehr selbständigen Leistungen befähigte.
Die selbständige Richtung in der römischen Bildnerei. In der Kaiserzeit - vom Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. -
gewinnt die römische Bildnerei wenigstens auf
^[Abb.: Fig. 124. Apollon mit der Kithara.
München, Glyptothek. (Nach Photographie von Bruckmann.)]
^[Abb.: Fig. 125. Schreitender Apollon mit der Kithara.
Rom, Vatikan.]
einem Felde, der Bildniskunst, eine gewisse Eigenart und größere Unabhängigkeit von den griechischen Mustern. Die Kaiser, ihre Familien und ihr Hof, ließen zahllose Bildnisstatuen aufertigen und dies gab den Künstlern nicht nur Beschäftigung, sondern auch Anregung zur Vervollkommnung. Diese lag selbstverständlich in der Richtung der Naturtreue, wobei freilich auch öfter etwas «geschmeichelt» und verherrlicht werden mußte. Diese Aufgabe, die Zuge des Darzustellenden im wesentlichen naturwahr wiederzugeben und ihnen doch wieder einen Ausdruck des Heldenhaften und Erhabenen zu verleihen, wußten spätrömische Künstler trefflich zu lösen.
Römische Bildniskunst. Die Standbilder und Büsten der Kaiserzeit sind denn auch das Beste dessen, was als eigene Leistung des römischen Kunstgeistes betrachtet werden kann. Man bildete die Gestalten sowohl stehend, wie zu Pferde ab, in gewöhnlicher Kleidung (statua togata, mit der Toga bekleidet) oder in Rüstung (statua thoracata). Die Behandlung des faltenreichen Gewandes, wie jene der Rüstung, erheischte besondere Sorgfalt und dabei kam den Römern ihre scharfe Beobachtungsgabe zu statten, wie andererseits selbst bei der Bildung der Pferde ihr Sinn für das Große und Mächtige sich kundgiebt. Wirkungsvoll sind daher diese Bildnisse immer, wenn ihnen auch eine gewisse Trockenheit anhaftet und das Schwungvolle fehlt. Dafür entschädigt eben die volle Lebenswahrheit, der vollendete Ausdruck der ganzen inneren Eigenart der Persönlichkeit.
Verfall der Kunst. Mit der allmählichen Auflösung des römischen Reiches verfiel auch die gesamte Kunst immer mehr, und am stärksten war der Niedergang der Bildnerei. Zur Zeit Kaiser Trajans (117 n. Chr.) entstanden noch Werke - z. B. der Flachbildschmuck an der Trajanssäule - welche wenigstens durch lebendige Darstellung der Vorgänge und anschauliche Kennzeichnung der Gestalten sich auszeichnen, wenn auch eine höhere Auffassung mangelt. Doch schon in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts werden die Formen steif und leblos, im 3. Jahrhundert geht auch das Formgefühl immer mehr verloren und die Arbeiten werden völlig roh ausgeführt.
Daß damals das Christentum der Bildnerei abhold war, ist begreiflich, es mußte Alles vermeiden, was an den heidnischen Götzendienst erinnerte. Das trug natürlich auch noch dazu bei, daß selbst die bloße Arbeitsfertigkeit dahin schwand.
Verlust der ursprünglichen Werke. Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein, daß gerade für die Hauptzeiträume der Geschichte der griechischen Bildnerei
^[Abb.: Fig. 126. Fliegende Nike aus Delos.]
^[Abb.: Fig. 127. Frauenstandbild von Antenor.]
die zweifellos sicheren Belege - nämlich die eigenen Werke der bahnbrechenden und führenden Meister - fehlen; solche sind nur in sehr spärlichem Maße vorhanden und wir sind zumeist auf spätere Nachbildungen angewiesen. Für die Zuteilung der letzteren sind die Berichte der alten Schriftsteller maßgebend und im Uebrigen müssen Rückschlüsse aushelfen. Streng genommen bleibt also unsere Kenntnis immer nur eine mittelbare und unsichere.
***
Besprechung der Abbildungen. Bevor ich die Abbildungen zu diesem Abschnitt bespreche, möchte ich einiges über den leichtesten Weg sagen, welcher zum Verständnis der Kunstwerke führt. Das bloße Betrachten von Abbildungen nützt nicht viel, danach kann man sich nur allgemeine Begriffe bilden. Man muß das Auge und das Empfinden möglichst an guten Nachbildungen zu schulen suchen.
In den größeren Städten giebt es ja meist eine Sammlung antiker Kunstwerke oder deren Abgüsse. Unter diesen ist jedoch häufig nur weniges von wirklichem Wert, man suche sich deshalb ein paar gute Stücke aus jeder Zeit heraus und vertraue dabei seinem
^[Abb.: Fig. 128. Schreitende Artemis.
Marmornachbildung. Neapel, Museo Nazionale.]
^[Abb.: Fig. 129. Athena Parthenos des Phidias.
Verkleinerte Marmornachbildung. Athen, National-Museum.]
^[Abb.: Athena Lemnia des Phidias.
Dresden, Albertinum. (Nach Photographie von Bruckmann.)]