Geist des Zeitalters. Nicht zu vergessen ist auch, daß ein solcher Fortschritt auch nur in einer Zeit regsten geistigen Lebens stattfinden kann, und eine solche war für Athen das Zeitalter des Perikles, in welchem auch die griechische Dichtkunst zur vollsten Blüte gelangt war und die Wissenschaften nicht mindere Pflege fanden. Damals schuf Sophokles seine Dramen, in welchen er die sittliche Weltordnung darstellte und den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele verkündete, damals schrieb Herodot seine Geschichte, und begründete Anaxagoras eine Weltanschauung, welche dem Stoff die geistige Kraft entgegensetzte.
Die religiösen Vorstellungen läutern sich; die erleuchteten Denker und Dichter vertreten die Einheit der Gottheit, Zeus erscheint als der wahre einzige Gott, der alles beherrscht und über die sittliche Weltordnung wacht. Anschauungen, welche später im Christentum zum vollendeten Ausdruck gelangten, treten schon bei den Griechen jener Zeit auf und bestimmen, wenn auch nicht die Masse des Volkes, doch wenigstens die führenden Geister.
Werke des Phidias. In der Kunst mußte dieser Zeitgeist natürlich auch seinen entsprechenden Ausdruck finden. Sie tritt wieder mehr in den Dienst der Religion, die geläutert ist, Phidias ist in erster Linie Götterbildner, und sein bei Zeitgenossen und Nachkommen berühmtestes Hauptwerk ist der Zeus von Olympia, aus Gold und Elfenbein gebildet. (Die Gold-Elfenbeinbildwerke, wie sie mehrfach für Tempel geschaffen wurden, bestanden aus einem inneren Holzkern, auf welchen das gebogene Elfenbein und Goldblech aufgelegt wurden. Die Holzmasse war von kleinen Röhren durchzogen, in welche Oel gegossen werden konnte, um den Einflüssen der Witterung zu begegnen. Die ganze Herstellungsweise - namentlich das Erweichen und Biegen des Elfenbeins - zeugt von der hohen Arbeitsfertigkeit der Griechen.)
^[Abb.: Fig. 111. Liegender Jüngling vom Ostgiebel des Parthenon.
London, British Museum. (Nach Photographie von Bruckmann.)] ¶
Olympia war der geweihte Mittelpunkt, das Volksheiligtum des gesamten Griechenstammes, und daß man Phidias berief und dem Meister dort eine eigene Werkstatt errichtete, beweist wohl am besten, daß er als der «erste» galt. Das Zeusbild kennen wir nur aus Berichten und aus Nachbildungen (auf Münzen), unmittelbare Zeugnisse für die Kunst des Meisters haben wir jedoch in den Bildwerken, mit welchen das (jüngere) Parthenon in Athen geschmückt war. Wohl stammt nicht alles von seiner Hand, aber das Ganze wurde unter seiner Leitung und in seinem Geiste ausgeführt.
Eigenart der Kunst des Phidias. In jeder Hinsicht zeigt sich hier eine wirklich vollendete Kunst: in der Anordnung und Zusammenstellung der Gruppen (Komposition), in dem edlen Maße und dem Einklang der Bewegungen, in der Durchbildung der Körper, und darin, wie sich die Form ganz der Natur des Stoffes anschließt. Als solcher wurde hier Marmor verwendet, und der ganzen Eigenart des Steins entsprach genau die Behandlung. Bei den früheren Marmorwerken merkt man vielfach, daß die Künstler eigentlich an die Formen gewöhnt waren, wie sie Holzschnitzerei und Metallguß erfordern, die also nur auf Stein übertragen wurden; jetzt nützte man die Eigenschaften des Marmors aus, welcher weit größere Feinheiten gestattet, zumal ja auch die Bemalung noch hinzukam. Liegt in diesem Punkte schon ein Fortschritt gegenüber der älteren Kunst, so tritt ein solcher noch bedeutsamer zu Tage in der Darstellung einerseits der Bewegung, andrerseits - und hierin liegt die Hauptsache - des Geistigen, der inneren Vorgänge in den handelnden Gestalten.
Darstellung der körperlichen Bewegung. Myron hatte bereits verstanden, den Körper in der Bewegung «lebendig» darzustellen; er faßt aber dabei einen einzelnen be-
^[Abb.: Fig. 102. Göttergruppe vom Fries des Parthenon.
Athen, National-Museum.] ¶