Werke der Uebergangszeit. In die Zeit des Uebergangs fallen nun die Bildwerke, welche den Zeustempel von Olympia schmückten, mit dessen Bau um 470 v. Chr. begonnen wurde. Man sieht, wie der Künstler sich bemüht, die Steifheit des archaischen Stils zu überwinden, mehr lebendige Bewegung zu erzielen und der Natur näher zu kommen, und dabei auch auf malerische Wirkung bedacht ist. Noch vermag aber der Meister seine Absicht nicht ganz zu verwirklichen; wohl verleiht er schon etwas seelischen Ausdruck seinen Köpfen, aber die Hauptsache bleibt ihm doch die Gestaltung des übrigen Körpers; dabei zeigt er sich auch in dem Banne der jonischen Stilrichtung, welche auf Einzelheiten Gewicht legt. (Fig. 99 - 101.)
Zeitalter des Perikles. Ihre Vollendung erreichte die bildnerische Kunst, als in Athen der große Perikles das Staatswesen leitete, und drei Meister - jeder von ausgeprägter Eigenart - ihre Werke schufen: Myron, Polyklet und Phidias, welche nach der Ueberlieferung Schüler des Ageladas von Argos waren.
Myron und seine Werke. Myron arbeitete hauptsächlich in Erz und deshalb sind seine eigenhändigen Werke auch verloren gegangen, wir kennen sie nur aus Abbildungen (auf Münzen und Gefäßen) und späteren Nachbildungen in Marmor (z. B. Diskoswerfer, Marsyas). Was hauptsächlich seine Kunst von der älteren unterscheidet, ist das «Leben» seiner Gestalten. Auch die äginetischen Meister hatten schon ihre Figuren in naturwahrer Bewegung darzustellen versucht; sie kamen jedoch über den bloßen äußerlichen Ausdruck derselben nicht hinaus; man könnte dies etwa so bezeichnen, daß sie nur toten Körpern die einer bestimmten Bewegung entsprechende Stellung gaben.
Der Fortschritt bei Myron zeigt sich darin, daß er die Veränderung der Muskellage in den verschiedenen Körperteilen berücksichtigt, welche bei der Bewegung eintritt. Wenn man von seinen Gestalten sagte: «sie atmen», so ist dies wirklich in dem Sinne zutreffend, daß die Rückwirkung der Atembewegung auf den gesamten Körper zum Ausdruck gelangt.
Damit steht im natürlichen Zusammenhang auch noch der weitere Vorzug, daß Myron jedem Körper seine eigene Einzelart verleiht, also nicht gleichmäßige Durchschnittsmenschen formt, was namentlich in der Durchbildung der Gesichter zur Geltung kommt. Die Zeitgenossen rühmten auch seine Kunst in der Darstellung von Tieren; eine eherne Kuh die in Athen aufgestellt war, wurde besonders gefeiert.
Polyklet. Neben Myron, der die athenische Richtung vertritt, erscheint Polyklet als jener Meister, welcher, an der strengeren Art der peloponnesischen Kunst festhaltend, diese zur reifsten Entwicklung brachte. Auch er schuf fast ausschließlich in Erz, und seine Werke
^[Abb.: Fig. 107. Wettkämpfer, die Siegerbinde umlegend.
Marmornachbildung. Athen.] ¶
sind uns nur in Marmornachbildungen erhalten. In der Darstellung des männlichen Körpers in jugendlicher Schönheit und Kraft lag seine Stärke, er bildete auch hauptsächlich Gestalten von Siegern in Wettkämpfen, nur wenige Götterbildnisse; daß er aber auch weibliche Figuren meisterhaft zu behandeln verstand, bezeugen seine Hera und die Amazone, mit welcher er nach Anschauung der Zeitgenossen selbst Phidias übertroffen hatte. Diese weiblichen Gestalten waren jedoch in gewisser Hinsicht männlich aufgefaßt; das Kräftige, nicht das Anmutige wird betont.
Im Gegensatze zu Myron stellt Polyklet seine Figuren nicht in lebhafter Bewegung, sondern in ruhiger Haltung oder doch nur mäßig bewegt dar, immer aber auch lebensvoll. Er giebt sozusagen die «Ansätze» zur Bewegung, z. B. zum Schreiten. Dies erleichterte das Erreichen des Ziels, welchem, wie die Peloponnesier überhaupt, so auch Polyklet nachstrebte: die bis ins Einzelne vollendete Darstellung des Körpers. Darin hat er wohl auch das Höchste erreicht und selbst Phidias wie die Späteren konnten nichts besseres bieten.
Kanon Polyklets. Daß man schon im Altertum dieser Ansicht war, erhellt daraus, daß eine Statue Polyklets - vielleicht der Speerträger (Doryphoros) - der «Kanon» d. h. Regel, also Musterbild genannt wurde, weil sie den «schönen Mustermenschen» (idealen Normalmenschen) darstellte, bei dem alle Verhältnisse künstlerisch zusammengestimmt sind. In einer Schrift hatte Polyklet die Gesetze für diese Verhältnisse der Teile untereinander und zu dem Ganzen dargelegt, und damit auf die ganze Entwicklung der antiken Kunst einen bestimmenden Einfluß geübt. Wohl wich man - ja auch er selbst - im einzelnen von diesem «Kanon» ab, die Hauptsache blieb aber die gewonnene Erkenntnis, daß der Bau des menschlichen Körpers ein gesetzmäßiger sei, und diese Erkenntnis bewahrte die antike Kunst vor dem «Unnatürlichen».
Darin liegt die große Bedeutung Polyklets, daß er klar aussprach und in seinen Werken verdeutlichte: der Menschenkörper ist ein Ganzes, dessen Teile in notwendiger Wechselbeziehung zu einander stehen und in ihrer Wechselwirkung auf einander die Lebenserscheinung bedingen.
Eine Gefahr lag nahe - für den Meister selbst und noch mehr für seine Schüler - nämlich jene, in einseitige Nachahmung des Musters zu verfallen. Davor blieb die griechische Kunst glücklicherweise bewahrt, da die Künstler auf Naturbeobachtung nicht verzichteten, sich zwar von der Gesetzmäßigkeit «im Ganzen» leiten ließen, aber in den Einzelheiten sich Freiheit gestatteten.
Vollendung der Form. Die Darstellung des rein Körperlichen war somit von Myron und Polyklet zur Vollendung gebracht worden, der Erstere hatte den Weg gewiesen,
^[Abb.: Fig. 108. Wettkämpfer mit dem Schabeisen.
Marmornachbildung. Florenz, Uffizien.] ¶