Nicht einseitige kleinliche Naturnachahmung, sondern eine freie Nachbildung war maßgebend.
Jonischer (Insel-)Stil. Dadurch unterscheiden sich ihre Werke vorteilhaft von den obenerwähnten der Inselkünstler, welche viel mehr Wert auf Einzelheiten legen und in diesen ihre, allerdings hohe Kunstfertigkeit kundzugeben suchen. Man ersieht dies namentlich an den bekleideten Figuren in der Behandlung der Gewandung, die, an und für sich betrachtet, meisterhaft ist. Das ganze Werk erscheint infolgedessen zwar von zierlicher Pracht - das Schmuckhafte tritt in den Vordergrund -, aber es fehlt die Kraft und der geistige Ausdruck. Dagegen waren die Inselkünstler ein wenig voraus in der Durchbildung der Köpfe, welche bei den Peloponnesiern die schwächsten Teile sind.
Attischer Stil. Die männliche Kraft der peloponnesischen Kunst mußte auch auf die Athener Eindruck machen; äginetische Meister arbeiteten ja auch für die Akropolis. Dem Weibisch-Weichlichen, der Zierlichkeit und auf schmuckhafte Gefälligkeit ausgehenden Formkünstelei der jonischen Stilrichtung stand die dorische mit ihrer etwas herben und scharfen Einfachheit gegenüber. Es ist das Verdienst der athenischen Kunst, daß sie aus den beiden Richtungen das Gute herausholte und - nicht blos einseitig nachahmend, sondern den Anregungen nur folgend - zu einem selbständigen - attischen - Stile verarbeitete. (Attika ist der Name der Gaulandschaft, deren Hauptstadt Athen war.) Nach der siegreichen Beendigung des Kampfes mit den Persern nahm das ganze geistige Leben auf dem griechischen Festlande einen ungeheuren Aufschwung, und Athen stand an der Spitze, natürlich auch auf dem Felde der Kunst.
Meister des ersten Zeitraums. Die oben erwähnte Verbindung der beiden Richtungen gab schon in den Werken einiger Künstler sich kund, die in den ersten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts thätig waren und als Vorläufer der großen Meister des Perikleischen Zeitalters erscheinen. Als solche werden vor allem Kalamis und Pythagoras (aus Rhegion) genannt, von denen zwar keine Werke erhalten blieben, deren Wirken aber nach den Berichten und aus wahrscheinlichen Nachbildungen beurteilt werden kann. Verschiedene auf uns gekommene Standbilder, aus dieser Zeit lassen noch deutlicher den Stand der Kunstübung während dieses Ueberganges erkennen. Nicht ohne Einfluß auf die Bildnerei blieb auch die hohe Entwicklung der Malerei, die sich an den Namen Polygnots knüpft. Die freie Durchbildung der Formen, die Beseelung und das edle Maß in der Bewegung, welche die Werke des Malers auszeichneten, mußte auch die Bildhauer zur Nacheiferung anspornen.
^[Abb.: Fig. 106. Wettkämpfer. Aus der Schule Myrons.
München, Glyptothek. (Nach Photographie von Bruckmann.)] ¶
Werke der Uebergangszeit. In die Zeit des Uebergangs fallen nun die Bildwerke, welche den Zeustempel von Olympia schmückten, mit dessen Bau um 470 v. Chr. begonnen wurde. Man sieht, wie der Künstler sich bemüht, die Steifheit des archaischen Stils zu überwinden, mehr lebendige Bewegung zu erzielen und der Natur näher zu kommen, und dabei auch auf malerische Wirkung bedacht ist. Noch vermag aber der Meister seine Absicht nicht ganz zu verwirklichen; wohl verleiht er schon etwas seelischen Ausdruck seinen Köpfen, aber die Hauptsache bleibt ihm doch die Gestaltung des übrigen Körpers; dabei zeigt er sich auch in dem Banne der jonischen Stilrichtung, welche auf Einzelheiten Gewicht legt. (Fig. 99 - 101.)
Zeitalter des Perikles. Ihre Vollendung erreichte die bildnerische Kunst, als in Athen der große Perikles das Staatswesen leitete, und drei Meister - jeder von ausgeprägter Eigenart - ihre Werke schufen: Myron, Polyklet und Phidias, welche nach der Ueberlieferung Schüler des Ageladas von Argos waren.
Myron und seine Werke. Myron arbeitete hauptsächlich in Erz und deshalb sind seine eigenhändigen Werke auch verloren gegangen, wir kennen sie nur aus Abbildungen (auf Münzen und Gefäßen) und späteren Nachbildungen in Marmor (z. B. Diskoswerfer, Marsyas). Was hauptsächlich seine Kunst von der älteren unterscheidet, ist das «Leben» seiner Gestalten. Auch die äginetischen Meister hatten schon ihre Figuren in naturwahrer Bewegung darzustellen versucht; sie kamen jedoch über den bloßen äußerlichen Ausdruck derselben nicht hinaus; man könnte dies etwa so bezeichnen, daß sie nur toten Körpern die einer bestimmten Bewegung entsprechende Stellung gaben.
Der Fortschritt bei Myron zeigt sich darin, daß er die Veränderung der Muskellage in den verschiedenen Körperteilen berücksichtigt, welche bei der Bewegung eintritt. Wenn man von seinen Gestalten sagte: «sie atmen», so ist dies wirklich in dem Sinne zutreffend, daß die Rückwirkung der Atembewegung auf den gesamten Körper zum Ausdruck gelangt.
Damit steht im natürlichen Zusammenhang auch noch der weitere Vorzug, daß Myron jedem Körper seine eigene Einzelart verleiht, also nicht gleichmäßige Durchschnittsmenschen formt, was namentlich in der Durchbildung der Gesichter zur Geltung kommt. Die Zeitgenossen rühmten auch seine Kunst in der Darstellung von Tieren; eine eherne Kuh die in Athen aufgestellt war, wurde besonders gefeiert.
Polyklet. Neben Myron, der die athenische Richtung vertritt, erscheint Polyklet als jener Meister, welcher, an der strengeren Art der peloponnesischen Kunst festhaltend, diese zur reifsten Entwicklung brachte. Auch er schuf fast ausschließlich in Erz, und seine Werke
^[Abb.: Fig. 107. Wettkämpfer, die Siegerbinde umlegend.
Marmornachbildung. Athen.] ¶