Die indische Bauweise verbreitete sich nicht nur nordwärts nach den Staaten im Himalaya-Gebiete und nach China, sondern auch nach Hinterindien und die ostindischen Inseln. Sie wurde dabei örtlich zwar mehrfach verändert, so daß man auch von Stilabarten sprechen könnte, im wesentlichen sind es aber derselbe Geist und die gleichen Grundlagen, die uns begegnen. Die Entwicklung der geschilderten, für die indische Kunst bezeichnenden Hauptformen erstreckt sich - das muß ich nochmals betonen - auf einen sehr langen Zeitraum, vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 15. n. Chr. Der Buddhismus gab nur den Anstoß, die Fortbildung erfolgte unter der wiederhergestellten Herrschaft des Brahmaismus und dauerte bis in die Zeit der mohammedanischen Eroberer hinein.
Fremde Einflüsse auf die altindische Bauweise. Ich habe vorhin auch von einem persisch-indischen und griechisch-indischen Stile gesprochen. Dies ist so zu verstehen, daß die altindische Baukunst für Einzelheiten die Bauformen der Perser und Griechen übernahm. Am deutlichsten zeigt sich dies bei den Säulen. Die Bauten aus der Zeit von 500-300 v. Chr. weisen Säulen auf mit einem glockenförmigen Kapitäl, welchem noch ein Tierpaar aufgesetzt ist, und stufenförmigen Säulenfuß, also ganz die persische Form. Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. wurden dann namentlich im nordwestlichen Teile die griechischen Säulenformen mit Vorliebe verwendet. Auch sonst noch wurden manche Eigenheiten der griechischen Kunstweise übernommen, welche vor allem den guten Einfluß übte, daß der Hang zum Ungeheuerlichen und Ausschweifenden etwas gedämpft wurde.
^[Abb.: Fig. 54. Pfeiler aus dem sog. Pferdehofe der Pagode von Siringham.
Die Schäfte werden von Reitern und Tiergestalten gebildet. (Nach Photographie.)]
^[Abb.: Fig. 55. Indo-korinthisches Kapitäl.
Sog. Elefanten-Kapitäl.]
Das ist ja das Bezeichnende für die eigen-indische Kunst, daß sie Einfachheit und Ruhe sowie schön-verhältnismäßige Behandlung und Anordnung der Einzelteile nicht kennt. Ihre Werke sind daher mit Verzierungen überladen, deren krauses Durcheinander und unruhige Bewegtheit der Linien verwirrt. Diese Ueppigkeit im Bauschmuck behielt auch die islamitisch-indische Bauweise bei, von welcher ich später - im Zusammenhang mit der gesamten islamitischen Kunst - sprechen werde.
Indische Bildnerei. Die Bildnerei der Inder steht fast ausschließlich im Dienste der Religion. Da die weltlichen Prachtbauten aus der mohammedanischen Zeit stammen, und der Islam bilderfeindlich ist, so erklärt sich ohne weiteres die Seltenheit weltlicher Bildnerei. Für bildnerische Darstellungen aus der Geschichte hatten die Inder auch wenig Sinn, und so blieb eben dieser Kunstzweig auf die Ausschmückung der Tempel angewiesen.
Diese war in der buddhistischen Zeit auch beschränkt, da nur die Gestalt des Buddha - als Standbild oder als Flachbild in Felsnischen, letztere manchmal von ungeheurer Größe - dargestellt wurde. Der Brahmaismus mit seinen vielen und vielgestaltigen Göttern brachte dagegen die Bildnerei in Schwung, insbesondere die Tempelwände wurden mit zahlreichen Flachbildnerei-Arbeiten bedeckt.
Eigenart der indischen Bildnerei. Zu einer besonderen Vervollkommnung haben es die Inder jedoch trotz fleißiger Uebung und einer hohen Arbeitsfertigkeit nicht gebracht. Es sind zwar gewisse Fortschritte im Laufe der Zeit gemacht worden, die anfängliche Steifheit der Gestalten wird durch einen lebensvolleren Ausdruck der Bewegung ersetzt, der aber zuletzt auch wieder in Uebertreibung ausartet. Verworren ist auch die Anordnung bei Darstellung von Vorgängen; da drängt sich Alles willkürlich und launenhaft durcheinander. Volle Naturwahrheit anzustreben widersprach dem indischen Geiste, der seine Einbildungskraft und Träumerei walten ließ.
Wenn somit auch die Inder in der Darstellung des menschlichen Körpers der Natur ziemlich nahe kamen, so findet sich doch immer irgend ein abweichender und daher störender Zug. Ersichtlich ist die Vorliebe für Darstellung weiblicher Anmut, und in diesem Bemühen hat die indische Bildnerei noch die besten Erfolge aufzuweisen. Die Milde und Weichheit wurde aber auch auf die männlichen Gestalten übertragen. Kraft und Stärke vermißt man daher nicht nur im Ausdrucke und der Haltung der Figuren, sondern überhaupt in der ganzen Linienführung und Formbehandlung.
Kleinkunst. Weitaus erfreulicher als die Bildnerei an den Denkmalen ist jene in der Kleinkunst. Man findet da beispielsweise Thonfiguren, welche eine scharfe Auffassung
^[Abb.: Fig. 56. Buddha mit Gläubigen.
Flachbild aus Takht-i-Bahai. Berlin, Museum für Völkerkunde.]
^[Abb.: Fig. 57. Buddhakopf mit indischen Zügen.]
der Natur und Sinn für einfachere, aber kräftige Formen, sowie in der Bemalung eine feine Farbenstimmung aufweisen.
Es zeigt sich überhaupt die merkwürdige Thatsache, daß der Inder im Kleinen all' jene Fehler vermeidet, die seinen Werken im Großen anhaften. Die reiche, fruchtbare Erfindungsgabe macht sich beispielsweise in den Verzierungsmustern im vollen Maße geltend, ohne jedoch in geschmacklose Uebertreibung zu verfallen. Das gilt auch von den Formen der Schmucksachen und Ziergeräte, die meistens - es giebt natürlich auch Ausnahmen - ein gefälliges Maß einhalten, so daß ich sagen möchte, der indische Geist giebt nur auf dem Felde der Kleinkunst Geschmack kund und hier leistet er sein Bestes. So sind auch die Kleinmalereien aus Elfenbein hinsichtlich der Ausführung manchmal vortrefflich gelungen, während die erhaltenen Wandmalereien in den Grottentempeln ziemlich roh erscheinen.
Bedeutung der indischen Kunst. Mangel an Thatkraft, Neigung zum Maßlosen und Ausschweifenden und Vorliebe für beschauliches Träumen sind jene Eigenschaften der indischen Volksmasse, welche es verhinderten, daß sie zu einer wesentlichen Bedeutung für die Weltkultur gelangte. So hat auch die indische Kunst die allgemeine Entwicklung nicht gefördert, war vielmehr stets mehr oder minder in Abhängigkeit vom Westen, und hat nur auf das hochasiatische Gebiet und die Naturvölker der ostindischen Inselwelt einen gewissen Einfluß geübt. Wenn auch Indien reich an fesselnden und anregenden Erscheinungen ist, so macht sich doch gerade hier am stärksten das Gefühl geltend, daß man es mit einer unserem Wesen und unserer Anschauung ganz fremden Eigenart zu thun hat. Man kann die indische Kunst bewundern, aber wird sie nie gefallsam finden.
^[Abb.: Fig. 58. Standbild des Buddha.
Aus Takht-i-Bahai. Berlin, Museum für Völkerkunde]