Halbkugeln - sind allenthalben die ersten Gestaltungsformen der menschlichen Werke körperlicher Art.
Das gilt aber auch von den unkörperlichen, kurzweg gesagt, von den Gebilden der Ton- und Dichtkunst. Auch hier ist Regelmäßigkeit das Kennzeichen der ersten Anfänge; auf regelmäßigen Tonfall, regelmäßige Wiederholung von Worten und Wortordnungen u. s. w. nach vielfachen Gesetzen, beschränkt sich diese älteste Art Kunst.
Mit Vorstehendem habe ich in Kürze einige Andeutungen über das Gemeinsame gegeben, welches allenthalben den Grundlagen der Kunstentwicklung eigen ist. Noch einige andere Bemerkungen muß ich hier anfügen.
Das «Schöne». Die Grenze zwischen Fertigkeit und Kunst ist nicht scharf ausgeprägt; es ist zwischen beiden ein Uebergangsgebiet vorhanden, das man je nach der Auffassung dem einen oder dem andern zuweisen kann. Gewöhnlich nimmt man Zuflucht zu dem Gesichtspunkt des «Schönen».
Dieser ist aber gänzlich unbrauchbar. «Schön» ist ein veränderlicher, durchaus nur von persönlichen Anschauungen abhängiger Begriff. Das «Schön an sich» läßt sich nicht bestimmen, es giebt kein allgemein gültiges Gesetz dafür, sondern nur Lehrmeinungen, verschieden nach Art der Völker, der Zeiten, ja der Einzelnen.
Den Begriff «Kunst» vom Begriff «Schön» abhängig machen, heißt einseitig verfahren. Das ist nicht anders, als wenn jemand das ganze Wesen einer Stadt nach der Ansicht beurteilen wollte, die er aus dem Fenster eines Hauses gewinnt. Das Weitere hierüber wird sich an anderer Stelle verständlicher erläutern lassen. Dagegen glaube ich vorläufig ein verwendbares Merkmal für Kunst mit den Worten bezeichnen zu können: «Das jeweils - das heißt unter gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen - Gefallsame».
Kleinkunst und Kunstgewerbe. Als einseitige und willkürliche Einschränkung, die namentlich auf dem Gebiete der bildenden Künste in früherer Zeit üblich war, muß es bezeichnet werden, daß man jene Gebilde nicht als Kunstwerke in Betrachtung zog, welche man heute Erzeugnisse der «Kleinkunst und des Kunstgewerbes» nennt. Es liegt doch sicher kein sachlicher Grund vor, das Formen einer meterhohen Figur als Kunst, das Schnitzen
^[Abb.: Fig. 8. Künstlerische Erzeugnisse der Naturvölker. (Nach Ratzel.)
1. Holzlöffel der Kaffern. 2. Geschnitzter Holzspatel aus Neuguinea. 3. Armring der Djur (Afrika). 4. In Holz geschnitzte Verzierungen von einer Trommel der Amduella (Afrika). 5. Die Hälfte eines geschnitzten Schildes mit Tiergestalten aus Neuguinea. 6. Thongefäß vom unteren Niger (Afrika) mit eingeritzten Verzierungen. 7. Thongefäß der Marutse (Afrika). 8. Schmuckplatte aus Perlmutter mit aufgelegtem Schildpatt, von den Admiralitätsinseln.] ¶
eines 3 cm großen Figürchens in Stein jedoch nicht als Kunst aufzufassen. In dieser Hinsicht urteilt man heute richtiger.
Es dürfte nun wohl genug der Allgemeinheiten sein und ich halte es für nützlicher, mich dem Besonderen zuzuwenden. Da deutsche Gründlichkeit eine geregelte Anordnung fordert, so muß ich wohl eine solche bekanntgeben: Die Betrachtung soll nach Völkerkreisen erfolgen, und zwar wird sie nur jene berücksichtigen, welche über die ersten Kulturstufen hinaus gelangten.
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Aelteste Kunstformen. Die Abbildungen auf S. 4-9 bieten eine kleine Auslese aus dem reichen Formenschatze der ersten menschlichen Kunstthätigkeit. Sie sollen das im vorhergehenden Gesagte ergänzen, vor allem aber zum eigenen Nachdenken über die Mannigfaltigkeit der Formen und Höhe des Kunstsinnes und der Kunstfertigkeit in Zeiten und bei Völkern, welche wir meist noch als rein «barbarische» zu betrachten gewöhnt sind, anregen.
Die ältesten Erzeugnisse der europäischen Kunst stellen die Abbildungen der Figur 2 dar. Die Verfertiger derselben gehörten wohl sämtlich reinen Jägervölkern an. Durch ihre Lebensweise waren sie gezwungen, sich eine scharfe Naturbeobachtung und große Handfertigkeit anzueignen. Dieses befähigte sie, einem Drange nach künstlerischer Bethätigung durch Nachbildung der für sie wichtigsten Wesen nachzugeben. Die Tiergestalt ist der hauptsächlichste und am besten gelungene Gegenstand ihrer Kunst. 1, das Bild eines Fisches, und 2, ein Mensch mit Stock oder Speer, zwei Pferdeköpfe, dahinter links ein niedergebeugter Baum, auch als Schlange gedeutet, geben uns zwei Proben, welche deutlich dies Streben nach Naturwahrheit erkennen lassen. Noch schöner tritt dieses bei den Nachbildungen der Tierköpfe oder Körper hervor, wie 3, 6 und 7 zeigen sollen.
Die beiden menschlichen Figuren in 4 und 5 stehen dahinter weit zurück; es sind gleichsam nur Abkürzungen, welche jedenfalls religiösen Zwecken gedient haben; man kann in ihnen also Anfänge einer religiösen Kunst erblicken. - Die Abbildungen der Figur 3 gehören einem Gebiete an, welches wir das Kunstgewerbe nennen. Dieses bietet ja das
^[Abb. 9. Darstellungen des menschlichen und tierischen Körpers bei den Naturvölkern. (Nach Ratzel.)
1. In Knochen geritzte Zeichnung eines Eskimos (Rentierjagd). 2. Zeichnung eines Tschuktschen. 3. Knochenschnitzerei eines Eskimos. 4. Schwirrbrett der Australier (religiösen Zwecken dienend). 5. Amulett aus Ubudschwe (Zentralafrika). 6. Indianische Schnitzerei (Gefäß) aus Nordwestamerika. 7. Ahnenbild der Igoroten von Luzon (Malayische Inseln). 8. Gegossener Messingstab der Ogbonineger (Westafrika).] ¶