Bei den Waffen und Geräten kam der nächste Kulturfortschritt in der Verzierung zum Ausdruck.
Es zeigt sich hierbei eine Gleichartigkeit des Entwicklungsganges, welche ihre natürliche Erklärung in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis findet.
Regelmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit, Gesetzmäßigkeit. Die für den einfachen Sinn auffälligste Erscheinung, welche besonderen Eindruck macht, ist «Regelmäßigkeit». Wer mit schlichten Bauern verkehrt hat, wird wohl beobachtet haben, daß diese recht regelmäßige Formen «schön» finden, und auf Kinder machen solche ebenfalls starken Eindruck. Das Merkwürdige ist, daß vollkommen regelmäßige Formen, «reine» Vierecke oder Kreise, Würfel oder Kugeln, in der Natur nicht zu finden sind, selbst die Krystalle sind niemals vollkommen «rein». Es ist immer eine, wenn auch kleine Abweichung von der geometrisch richtigen Form vorhanden. Die Reinheit der letzteren erkennt der Mensch als einen Vorzug, und indem er sie anstrebt, sucht er die Natur zu verbessern.
Minder sinnfällig und daher erst bei vorgeschrittener Erkenntnis aufzufassen ist die «Verhältnismäßigkeit», das Zusammenstimmen der einzelnen Teile eines Ganzen nach einem bestimmten, aber doch einfachen Gesetze. Die deutsche Sprache hat merkwürdigerweise keinen kurzen handlichen Ausdruck für das «Schön-Verhältnismäßige», und so muß ich wohl den undeutschen gebrauchen, und diese Formen «harmonische» nennen.
Das Letzte und Höchste, nur dem vollgebildeten Geiste erkennbar, ist die «bloße Gesetzmäßigkeit», der Zusammenhang, welcher notwendig bedingt ist durch die Wechselwirkung der einzelnen Teile auf einander, und dem ein nicht mehr einfaches, sondern verwickeltes Gesetz zu Grunde liegt. Das «Harmonische» ist nur eine Einzelart des «Gesetzmäßigen», das «Regelmäßige» wieder eine solche des «Harmonischen».
In allen ordentlichen - das heißt nicht gewaltsam gestörten - natürlichen Erscheinungsformen ohne Ausnahme herrscht «Gesetzmäßigkeit», und ich will gleich hier bemerken, daß sie auch unbedingtes Erfordernis für jedes Kunstwerk ist, was von «Harmonie» und «Regelmäßigkeit» nicht gilt.
Verzierung. Diesen Stufen entspricht genau auch die Entwicklung der Verzierung (Ornamentik). Die ersten Formen waren regelmäßig angeordnete Punkte und Linien, dann kamen höhere geometrische Zeichnungen - Kreise, Schraubenlinien u. s. w. - an die Reihe; später erst die «harmonischen» und zuletzt wirkliche Nachbildungen natürlicher Gegenstände. Den gleichen Vorgang sieht man aber in der Formengebung überhaupt, bei Bauten wie bei Geräten wird zuerst Regelmäßigkeit angestrebt - wenn auch nicht erreicht - dann später Verhältnismäßigkeit oder Harmonie. Rechtecke, Kreise, Würfel, Pyramiden,
^[Abb.: Fig. 7. Einige Formen der La Tène-Zeit.
1. Eisernes Schwert mit Scheide (die Schale des Griffes fehlt). 2, 3, 4. Verzierungen von Eisenschwertern. 5. Lanzenspitzen. 6. Gewandnadel aus Bronze mit Spiralmuster. 7. Bronzene Kriegerfigur aus Idria.] ¶
Halbkugeln - sind allenthalben die ersten Gestaltungsformen der menschlichen Werke körperlicher Art.
Das gilt aber auch von den unkörperlichen, kurzweg gesagt, von den Gebilden der Ton- und Dichtkunst. Auch hier ist Regelmäßigkeit das Kennzeichen der ersten Anfänge; auf regelmäßigen Tonfall, regelmäßige Wiederholung von Worten und Wortordnungen u. s. w. nach vielfachen Gesetzen, beschränkt sich diese älteste Art Kunst.
Mit Vorstehendem habe ich in Kürze einige Andeutungen über das Gemeinsame gegeben, welches allenthalben den Grundlagen der Kunstentwicklung eigen ist. Noch einige andere Bemerkungen muß ich hier anfügen.
Das «Schöne». Die Grenze zwischen Fertigkeit und Kunst ist nicht scharf ausgeprägt; es ist zwischen beiden ein Uebergangsgebiet vorhanden, das man je nach der Auffassung dem einen oder dem andern zuweisen kann. Gewöhnlich nimmt man Zuflucht zu dem Gesichtspunkt des «Schönen».
Dieser ist aber gänzlich unbrauchbar. «Schön» ist ein veränderlicher, durchaus nur von persönlichen Anschauungen abhängiger Begriff. Das «Schön an sich» läßt sich nicht bestimmen, es giebt kein allgemein gültiges Gesetz dafür, sondern nur Lehrmeinungen, verschieden nach Art der Völker, der Zeiten, ja der Einzelnen.
Den Begriff «Kunst» vom Begriff «Schön» abhängig machen, heißt einseitig verfahren. Das ist nicht anders, als wenn jemand das ganze Wesen einer Stadt nach der Ansicht beurteilen wollte, die er aus dem Fenster eines Hauses gewinnt. Das Weitere hierüber wird sich an anderer Stelle verständlicher erläutern lassen. Dagegen glaube ich vorläufig ein verwendbares Merkmal für Kunst mit den Worten bezeichnen zu können: «Das jeweils - das heißt unter gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen - Gefallsame».
Kleinkunst und Kunstgewerbe. Als einseitige und willkürliche Einschränkung, die namentlich auf dem Gebiete der bildenden Künste in früherer Zeit üblich war, muß es bezeichnet werden, daß man jene Gebilde nicht als Kunstwerke in Betrachtung zog, welche man heute Erzeugnisse der «Kleinkunst und des Kunstgewerbes» nennt. Es liegt doch sicher kein sachlicher Grund vor, das Formen einer meterhohen Figur als Kunst, das Schnitzen
^[Abb.: Fig. 8. Künstlerische Erzeugnisse der Naturvölker. (Nach Ratzel.)
1. Holzlöffel der Kaffern. 2. Geschnitzter Holzspatel aus Neuguinea. 3. Armring der Djur (Afrika). 4. In Holz geschnitzte Verzierungen von einer Trommel der Amduella (Afrika). 5. Die Hälfte eines geschnitzten Schildes mit Tiergestalten aus Neuguinea. 6. Thongefäß vom unteren Niger (Afrika) mit eingeritzten Verzierungen. 7. Thongefäß der Marutse (Afrika). 8. Schmuckplatte aus Perlmutter mit aufgelegtem Schildpatt, von den Admiralitätsinseln.] ¶