Kirchenrecht
(lat.
Jus ecclesiasticum), Inbegriff der Rechtsnormen, welche für die Rechtsverhältnisse der
Kirche (s. d.)
als solcher und für diejenigen des Einzelnen als Mitglied dieser
Gemeinschaft maßgebend sind. Je nachdem es sich dabei um
das in den
Satzungen einer bestimmten
Kirche und in den
Gesetzen eines bestimmten
Staats enthaltene oder
um das aus
Begriff und
Wesen der
Kirche im allgemeinen sich ergebende Kirchenrecht
handelt, spricht man von positivem im
Gegensatz zu dem
natürlichen Kirchenrecht.
Ferner pflegt man zwischen allgemeinem und besonderm Kirchenrecht
zu unterscheiden, je nachdem dasselbe
für die Gesamtheit der
Kirche oder
nur für einzelne
Kirchengemeinden Geltung hat.
Quellen des positiven Kirchenrechts
sind
Gewohnheitsrecht, geistliche und weltliche
Gesetze und
Verordnungen, für das katholische
Kirchenrecht
die
Tradition, die Bestimmungen der
Kirchenväter, die Beschlüsse der
Päpste und der
Konzile und die
Konkordate. Dazu kommen
die
Verfassungen und die
Kirchenordnungen der einzelnen
Staaten. Die vorreformatorische
Kirche, die nach
der Art, wie sie die weltlichen
Regierungen beherrschte, über die Exekutivmittel des
Staats nicht weniger als dieser selbst
gebot, konnte die Erzeugung und
Ausbildung ihres
Rechts, des sogen. kanonischen, im wesentlichen in derselben
Weise, in welcher
der weltliche
Staat sich eine Rechtsordnung bildet, selbst vermitteln.
Auch die heutige
römisch-katholische Kirche beansprucht noch für ihre Rechtsbildung die gleiche Selbständigkeit, wird aber
darin von den weltlichen Obrigkeiten nicht mehr anerkannt (s.
Kirchenpolitik). Die protestantischen
Kirchen dagegen erheben
einen solchen Anspruch nicht, und die auf landeskirchlichen
Gesichtspunkten beruhenden Teile des heutigen protestantischen
Kirchenrechts
sind entstanden, indem die evangelischen Landesobrigkeiten sich verpflichtet erachteten,
die vorreformatorisch-kanonische Rechtsordnung für ihre
Landeskirche in einer
Reihe von
Punkten landesgesetzlich umzubilden.
Sie sind dem übrigen im
Territorium gültigen Landesrecht juristisch gleichartig. - In uneigentlichem
Sinne nennt man auch
solche christlich-ethische
Normen des kirchlichen Zusammenlebens kirchenrec
htliche, die vom
Staat nicht als
Recht anerkannt, aber von den
Kirchen mit gesellschaftlichen
Mitteln dadurch aufrecht erhalten werden, daß, wer sie nicht beobachtet,
diszipliniert und eventuell ausgeschlossen wird. - Das als juristische
Disziplin hat die Aufgabe, die kirchliche Rechtsordnung
zu überliefern und in ihrem innern Zusammenhang aufzuweisen.
Nach wissenschaftlicher Sitte zieht es außerdem auch diejenigen Rechtsverhältnisse in den Kreis [* 2] seiner Betrachtung und Darstellung, in welchen die Religionsgesellschaften als Gesamtheiten untereinander und dem Staat gegenüber sich befinden. Es kommt bei ihnen, genauer betrachtet, auf lauter Beziehungen der Kirche zum Staat an, welche, soweit die Kirche nach vorreformatorischer oder nach der von der römisch-katholischen Kirche offiziell noch ¶
mehr
heute beanspruchten Weise als dem Staat koordinierte und auch ihrerseits staatsartige Macht betrachtet wird, mehr völkerrechtlicher,
soweit sie nach heutigen staatsrechtlichen Gesichtspunkten als innerhalb des Staats stehende Korporation behandelt wird, mehr
staatsrechtlicher Natur sind. - Den Unterschied zwischen gemeinem und partikularem Kirchenrecht
(jus ecclesiasticum commune und
particulare) machen die vorreformatorische, die heutige katholische und die lutherische Kirche wesentlich
so, wie er im bürgerlichen Recht gemacht wird, nur daß erstere beide Kirchen dem gemeinen Rechte den Vorrang vor dem partikularen
einräumen wollen. Die lutherische Kirche hingegen, welche das gemeine protestantische Kirchenrecht
teils aus ihrem Dogma und dessen
Konsequenzen, teils aus dem kanonischen Recht, soweit sie dasselbe nicht verworfen hat, schöpft, betrachtet
es nach bürgerlich-rechtlicher Art als bloße Ergänzung des partikularen. Die reformierte Kirche erkennt im allgemeinen
kein Fortgelten des vorreformatorischen Rechts an. - Vom kanonischen Recht (s. oben) unterscheidet sich das Kirchenrecht
, indem es einerseits
weniger, anderseits mehr umfaßt als jenes.
Denn vieles im kanonischen Recht Enthaltene ist heutzutage nicht mehr Kirchenrecht
, weil es Gegenstände betrifft, die zwar in vorreformatorischer
Zeit zur Kompetenz der Kirche gehörten, heute jedoch nicht mehr zu derselben gehörig sind. Mehr aber als das kanonische umfaßt
das Kirchenrecht
, weil vieles, was gegenwärtig kirchenrechtliche Norm ist, aus andern als kanonischen Quellen fließt
(s. Kirchengesetze).
Vgl. Maaßen, Geschichte der Quellen und der Litteratur des kanonischen Rechts (Graz [* 4] 1870, Bd. 1);
v. Schulte, Die Geschichte der Quellen der Litteratur des kanonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart (Stuttg. 1875-80, 3 Bde.);
Richter, Lehrbuch des Kirchenrechts
(8. Aufl., Leipz. 1886);
Mejer, Lehrbuch des Kirchenrechts
(3. Aufl., Götting. 1869);
Hinschius, Kirchenrecht
der Katholiken und Protestanten in Deutschland
[* 5] (Berl.
1869-86, Bd. 1-4);
Friedberg,
[* 6] Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts
(2. Aufl., Leipz.
1884);
v. Schulte, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts
(3. Aufl., Gieß. 1873);
Löning, Geschichte des deutschen Kirchenrechts
(Straßb. 1878, 2 Bde.);
Trusen, Das preußische Kirchenrecht
(Berl. 1883);