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und das württembergische Polizeistrafgesetzbuch; endlich der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich [* 2] § 1546. Ferner sind der Zwangserziehung nicht nur die wegen ihrer Jugend nicht verfolgbaren oder freigesprochenen Personen, sondern unter Umständen auch die zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Jugendlichen bedürftig, sofern die kurze Dauer der Strafe eine hinreichende erzieherische Einwirkung durch den Vollzug nicht gestattet.
Anderseits ist es, um den Umfang der Zwangserziehung zu ermessen, notwendig, darauf hinzuweisen, daß auch der Strafvollzug gegenüber Jugendlichen vorwiegend erzieherische Zwecke verfolgt. Es sind daher auch die gemäß § 57 des Strafgesetzbuches zur Verbüßung von Freiheitsstrafen bestimmten besondern Strafanstalten für Jugendliche ihrem Wesen nach zugleich Zwangserziehungsanstalten. Diese drei Gruppen: verurteilte, freigesprochene und sonstige verwahrloste Jugendliche, werden auch in der ausländischen Gesetzgebung unterschieden: England hat reformatory schools für bestrafte Jugendliche als bessernde Nachhaft, industrial schools für solche Jugendliche, welche der Richter straffrei ausgehen läßt;
in Frankreich unterscheidet man Colonies pénitentiaires für die wegen mangelnder Einsicht Freigesprochenen und die zu Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 2 Jahren Verurteilten, Colonies correctionelles für die zu längerer Freiheitsstrafe Verurteilten;
in Belgien [* 3] bestehen besondere Anstalten für die enfance coupable (Verurteilte und mangels Einsicht Freigesprochene) und andre Anstalten für die enfance abandonnée (Verwahrloste).
Reform in der angezeigten Richtung erscheint für das Deutsche Reich als ein um so dringenderes Bedürfnis, als die Anzahl der jugendlichen Verbrecher in erheblicher Weise gestiegen ist: von 30,719, welche im J. 1882 wegen Verbrechen oder Vergehen gegen Reichsgesetze verurteilt waren, auf 40,905 im J. 1890;
auf 10,000 Angehörige der Bevölkerung [* 4] im Alter von 12 bis unter 18 Jahren kamen 1882: 56,7 und 1890: 72,5 wegen Verbrechen oder Vergehen gegen Reichsgesetze verurteilte Jugendliche;
die Zunahme betrifft hauptsächlich Diebstahl, Raub, Hehlerei und Brandstiftung, in erhöhtem Maße durch Kinder von 12-15 Jahren verübt.
Die Gestaltung des Vollzuges der Zwangserziehung ist von der Lösung verschiedener Systemfragen abhängig.
1) Ist Familien- oder Anstaltserziehung mehr zu empfehlen? Der Internationale Gefängniskongreß zu Stockholm [* 5] 1878 hat sich zu gunsten der erstern ausgesprochen und die letztere nur für den Fall der Undurchführbarkeit jener befürwortet; auch der internationale Kongreß für Gefangenenfürsorge und Schutz der verwahrlosten Jugend (Antwerpen [* 6] 1890) hat die Familienerziehung grundsätzlich als das beste System anerkannt. Die Erziehung in einer Familie würde allerdings idealen Anforderungen mehr entsprechen als die Anstaltserziehung, weil das Kind nur in ersterer einen Ersatz für die eigne Familie finden kann und in der Anstalt das innige Band [* 7] fehlt, welches in der Familie sich in unzähligen Einzelheiten äußert und die Erziehung fördert.
Die Familienerziehung bietet außerdem noch den Vorteil, daß der Zögling in der Familie auch für das spätere Leben eine wertvolle Stütze finden kann. Die Verwirklichung des Ideals stößt jedoch vielfach auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Eltern, welche selbst Kinder haben, werden sich scheuen, dieselben in enge Gemeinschaft mit verwahrlosten Kindern zu bringen;
Eltern, welche eigne Kinder nicht haben, besitzen vielfach nicht die Lust oder nicht die nötigen Eigenschaften, welche eine Bürgschaft für gedeihliche Erziehung bilden;
immer besteht die Gefahr, daß, hauptsächlich das Streben nach materiellen Vorteilen den Beweggrund für die Übernahme der Erziehung abgibt. So bleibt meistens die Anstaltserziehung als der einzige Ausweg;
auch bietet diese gegenüber Kindern, deren Verwahrlosung so erheblich ist, daß der Staat eingreifen muß, wegen ihrer größern Planmäßigkeit mehr Aussicht auf Erfolg als die Familienerziehung.
Der internationale Gefängniskongreß zu Petersburg [* 8] (1890) hat sich daher für eine Verbindung der beiden Systeme ausgesprochen, wie sich dieselbe auch schon in der Praxis bewährt hat. Hiernach soll Familienerziehung zugelassen werden für körperlich gesunde Kinder in den ersten Lebensjahren, für verwahrloste Kinder und solche, welche eine strafbare Handlung begangen haben, erst, nachdem sie einige Zeit mit günstigem Erfolg der Anstaltserziehung unterworfen waren, endlich für Jugendliche, deren Zwangserziehung in einer Anstalt bewerkstelligt wurde, für welche aber noch eine Schutz« aufsicht zweckmäßig erscheint, so daß das Leben in der Familie als Übergangsstadium zu vollständiger Freiheit dient. Geeignete Familien sind durch die Organe besonderer Vereine oder der Vereine für entlassene Sträflinge auszuwählen und zu überwachen.
2) Sind Staats- oder Privatanstalten vorzuziehen? Notwendig sind erstere nur, soweit es sich um den Vollzug einer Erziehungszwecke verfolgenden Freiheitsstrafe handelt; im übrigen kann die Aufgabe der Zwangserziehung unter der Voraussetzung strenger staatlicher Aufsicht unbedenklich Privatanstalten überlassen werden.
3) Innerhalb der Anstalt verdient die Bildung familienähnlicher kleinerer Gruppen unter einem Erzieher vor dem Kollektivsystem den Vorzug, nach welchem Abteilungen von 50-80 Zöglingen in militärischer Ordnung zusammenleben. Dieses Kollektivsystem erschwert die Beobachtung der Individualität und noch mehr die Behandlung des Einzelnen nach seinen persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, während das andre System, wenn es auch die Familie keineswegs ersetzt, doch ein familienähnliches Verhältnis, engern Anschluß der Zöglinge untereinander und an ihren Lehrer sowie individualisierende Behandlung gestattet; für diese letztere Einrichtung hat sich der Petersburger Gefängniskongreß ausgesprochen.
4) Ist Erziehung zu gewerblicher oder zu landwirtschaftlicher Beschäftigung für die Zukunft des Zöglings ersprießlicher? Zu gunsten der Ausbildung für die Landwirtschaft läßt sich geltend machen, daß der Zögling auf diesem Wege später den Verführungen des städtischen Lebens fern gehalten wird und sich somit die Gefahr der Betretung der Verbrecherlaufbahn oder des Rückfalls in dieselbe wesentlich vermindert. Dazu kommt die Aussicht, landwirtschaftliche Arbeiter zu gewinnen, an denen thatsächlich Mangel ist, während die gewerbliche Arbeit angesichts des ohnehin starken Zuganges und der Zunahme des Maschinenwesens sowie der Großbetriebe verhältnismäßig weniger Aussicht auf gesicherten Broterwerb bietet, folglich schon deshalb, abgesehen von dem Einflusse städtischer Genüsse, die Gefahr der Arbeitslosigkeit und infolge hiervon des moralischen Sinkens viel größer ist als dort. Auch hat man in Amerika [* 9] mit der Unterbringung hilfloser und verwahrloster Kinder bei Farmern günstige Erfahrungen gemacht, da die Zöglinge, einmal erwachsen, willkommene Arbeitskräfte wurden und sich häufig gut versorgten. Diesen Erfahrungen steht ¶
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jedoch auf dem europäischen Festlande die Befürchtung und die Thatsache gegenüber, daß diejenigen Zöglinge, welche aus der städtischen oder aus Fabrikbevölkerung stammen, nach der Entlassung aus der Zwangserziehung die Beziehungen zu ihrer Familie in der Stadt wieder aufsuchen und, da sie hier ihre landwirtschaftliche Ausbildung nicht verwerten können, leicht einem unregelmäßigen Leben und schließlich vollständig dem Müßiggang verfallen. Es empfiehlt sich deshalb vielleicht mehr, nur die Zöglinge, welche aus der ländlichen Bevölkerung stammen und mutmaßlich wieder zu derselben zurückkehren, zur Landwirtschaft anzuhalten, Abkömmlingen der städtischen Bevölkerung dagegen eine gewerbliche Ausbildung zu geben, soweit sich nicht ein Mittelweg, z. B. durch Vereinigung landwirtschaftlicher und gewerblicher Ausbildung, finden läßt. Ein andrer Ausweg ist die Bildung einer »Schiffsjungenklasse«, deren Angehörige schon in der Anstalt für den Schiffsjungendienst vorbereitet und unmittelbar aus der Anstalt in eine Schiffsjungenschule gebracht werden.
Die Einrichtung der Anstalt fordert möglichste Einfachheit, damit die Zöglinge nicht an Bedürfnisse gewöhnt werden, welche sie später voraussichtlich nicht befriedigen können. Die Zeit des Aufenthalts ist durch die Anstaltsverwaltung, bei Familienerziehung etwa durch den Vormundschaftsrichter, immer innerhalb einer gesetzlichen Grenze nach freiem Ermessen zu bestimmen. Die Zeit kann durch bedingte Entlassung abgekürzt werden, so daß der Entlassene noch eine bestimmte Frist nach erlangter Freiheit der Gefahr ausgesetzt ist, im Falle schlechter Führung wieder in die Anstalt eingeliefert zu werden; während dieser Probezeit ist eine Schutzaufsicht durch Vereinsorgane angemessen.
Vgl. v. Holtzendorff und v. Jagemann, Handbuch des Gefängniswesens Bd. 2, S. 280 ff. (Hamb. 1888);
Wines, The state of prisons and of child-saving institutions in the civilized world (Cambridge 1880);
Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in England (Berl. 1887);
Derselbe, Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend (das. 1892);
v. Liszt in der »Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft«, Bd. 12, S. 161 ff.; Münsterberg, [* 11] Zwangserziehung, in v. Stengels »Wörterbuch des Verwaltungsrechts«, Bd. 2 (Freib. i. Br. 1889);
Gutachten für den Petersburger Gefängniskongreß (1890) von Fuchs, [* 12] Voisin, Pratesi, Mouat, Toutchew, Taverni, Fowke, Lütken, Krajcsik, Gaal, Reeve, Clifton, Randall im »Bulletin de la Commission pénitentiaire internationale« 1888, 1889, 1890.