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Vorsorge für Aufnahme von Zuwanderern getroffen. Daher wandern nicht selten ganze Familien wieder nach Rußland zurück, wo sie die ohnehin sehr zahlreichen Bettlerscharen vermehren. Den meisten freilich gelingt es, ihren Wunsch endlich doch zu verwirklichen. Sie lassen sich hauptsächlich in Turkistan, in den Ländern des Altai und in denen des Amur am Stillen Ozean, dem sogen. Nssuriiskischen Grenz land, nieder. Das letzte, in Rußland als eine Art neues Kalifornien angesehen, berechtigt zu den meisten Hoffnungen.
Die Bevölkerung [* 2] besteht hier aus Russen, Koreanern, Japanern und Orotschen. Die Chinesen (8500 Köpfe), welche sich besonders längs der Küste und in Wladiwostok niedergelassen haben, sind meist Handels- und Dienstleute, die Koreaner zählen 10,000, die Orotschen und Japaner je 500 Köpfe. Die Russen, vorwiegend Ackerbauer, Soldaten und Beamte, sind teils ussurische Kosaken, teils Einwanderer aus Tschernigow. Doch ist die Zahl derjenigen, welche auf dem langen Landweg hierher gelangen und dann gegen die fleißigen, genügsamen Chinesen aufzukommen vermögen, eine geringe.
Die Regierung begann daher in den 80er Jahren, Kolonisten auf Staatskosten mittels der Dampfer der freiwilligen Flotte zur See nach dem ussuriiskischen Lande zu schaffen. Auf diese Weise ist die russische Bevölkerung dort auf 35.000 Seelen gebracht worden. In neuester Zeit werden nur Leute zur See übergeführt, welche das Reisegeld und die Niederlassung aus eignen Mitteln bestreiten können. Im Altai bilden meist Strafkolonisten den Kern der Ansiedler. Die Zahl der freien Einwanderer hierher betrug 1866-83 nur 48,250 Seelen, aber in den folgenden 6 Jahren kamen 95,501 Kolonisten an, und ihre Zahl wächst beständig.
Die Ansiedler gedeihen hier gut. Nach wenig Jahren besitzt jede fleißige Familie Haus, Land und Vieh. Rückwanderungen sind von hier selten, aus den Amurländern desto häufiger. In Transkaspien sind die Verhältnisse ganz anders. Die Verbindung mittels der neuen zentralasiatischen Bahn ist eine bequeme, die Verwaltung eine weit bessere. Aber die dortigen Verhältnisse sind den russischen Bauern ganz fremd und ungewohnt, wie der Anbau von Baumwolle, [* 3] die Zucht von Seidenwürmern u. a. mit Hilfe kostspieliger künstlicher Bewässerung, wenngleich der Ertrag ein sehr hoher ist.
Dennoch hat man 1886-89 mehr als 9000 Menschen hierher gebracht und sucht mit Hilfe großartiger Bewässerungsanlagen und Wiederinstandsetzung verfallener Kanäle aus alten Zeiten noch mehr dorthin zu bringen, um gegen die eingeborne Bevölkerung ein Gegengewicht zu bekommen. Das transkaspische Territorium ist schon deshalb zur Kolonisation besser geeignet, weil Verbrecher hierher niemals deportiert wurden. Jadrinzew hat in einer 1889 erschienenen Arbeit das ganze in Archiven, Gefängnisregistern etc. verstreute Material veröffentlicht.
Danach sind 1807-1881 im ganzen 642,000 Menschen in die Verbannung gegangen, darunter etwas über 100,000, welche die Verbrecher freiwillig begleiteten. Die Verschickung hat mit der Zeit ganz außerordentlich zugenommen, in den 5 Jahren 1807-11 wurden 10,175 verschickt, 1857-61: 36,821, 1877-81: 86,336. In den 13 Jahren 1867-79 waren 51,8 Proz. der 210,000 Verschickten auf administrativen: Wege, d.h. ohne Richterspruch, auf Verfügung der Regierung oder der Gemeinden verbannt worden;
von den übrigen 48,2 Proz. waren 12,3 Proz. Zu Zwangsarbeit verurteilt, 20.1 Proz. zu Internierung in sibirischen Ortschaften, 2,4 Proz. auf Lebenszeit verbannt, endlich 13 Proz. zur zwangsweisen Kolonisation verurteilt.
Von den 1823-79 Verschickten waren 15,i Proz. Frauen. Die Zahl derer, die freiwillig ihre Verwandten begleiteten, hat absolut und relativ fortwährend zugenommen; sie betrug 1823-32: 4 Proz. der Verschickten, 1870-79 aber an 33 Proz. Unter diesen überwiegen die Frauen. Die Reiseroute der Verbannten geht von Moskau [* 4] über Nishnij, Kasan, [* 5] Perm, Jekaterinenburg nach Tjumen, Tomsk, Atschinsk und Irkutsk. Die Etappengefängnisse müssen oft das Drei- und Vierfache ihrer Fassungsfähigkeit übernehmen; daher zahlreiche Erkrankungen und Sterbefälle. Im Etappengefängnis zu Tjumen erkrankten 1869-75: 10,3 Proz. der Arrestanten, von denen ein Fünftel starb.
Ähnlich ist es in Tomsk. An diesen beiden Plätzen und auf dem Wege zwischen ihnen erkrankt die Hälfte der in die Verbannung Reisenden, jährlich sterben hier 800-1000 Menschen. 1880 und 1881 erkrankten auf dem Wege von Moskau nach Atschinsk 69,n, bez. 68,2 Proz. aller Verbannten, und die Sterblichkeit betrug 7,2, bez. 8,5 Proz. Nahezu ein Zehntel der Verbannten stirbt auf der Reise. Von den Verbannten blieben 1870-81 in Westsibirien 113,375, in Ostsibirien 88,818. Gegenwärtig schätzt man die Zahl der in S. lebenden Verbannten auf 200,000-210,000. Davon kommen auf das Gouvernement Tobolsk 60,000, auf Tomsk 29,000, auf Jenisseisk 50,000, auf Irkutsk 40,000, auf Transbaikalien 21,000, auf Iakutsk 3000. Die ökonomische Lage der Verbannten ist eine sehr traurige.
Von den 1876 gezählten Verbannten im Gouvernement Tobolks waren 9689 beschäftigungslos, 11,681 trieben Ackerbau, die übrigen verschiedene Handwerke. In Tobolsk und Tomsk besitzt nur der vierte Teil der Verschickten eine Hütte; auf je drei Personen kommt ein Hektar Ackerland, auf je zwei ein Pferd [* 6] und eine Kuh. 31,6 Proz. waren kräftige Arbeiter, 15,4 Proz. Greise und Krüppel, 7,6 Proz. Bettler. Da die Zahl der verschickten Frauen eine geringe ist, so bietet sich wenig Gelegenheit, einen Hausstand zu gründen. Im Gouvernement Tobolsk lebt nur ein Drittel der Verschickten in Familien oder in einein Hausstand zusammen.
Von den im Gouvernement Jenisseisk 1873 gezählten Verschickten waren 44,4 Proz. Mörder, 23,3 Proz. Diebe, 15,6 Proz. wegen gewaltthätiger Handlungen Verurteilte, 5,9 Proz. Falschmünzer, 4,6 Proz./ Räuber, 3,3 Proz. hatten sich Verbrechen im Staats- oder Gemeindedienst zu schulden kommen lassen, 2,9 Proz. waren Landstreicher. Die Zahl der jährlich entfliehenden, meist aber wieder eingefangenen Verbannten ist sehr groß. Von den Arbeitern der Saline von Irkutsk entflohen 1860-70 jährlich zwischen 9 und 90,5 Proz. Nach Jadrinzews gründlichen, in 15 Jahren durchgeführten Untersuchungen hat das gegenwärtige System der Verschickung nach S. keineswegs den großen kolonisatorischen Erfolg, den man von ihm erwartete.
Auch sträuben die freien Ansiedler in S. sich gegen die weitere Zufuhr von Verbrechern und verlangen Aufgabe des Verschickungssystems; auch die sibirische Presse [* 7] arbeitet schon seit Jahren in diesem Sinne, aber immer noch ohne Erfolg. Die russische Regierung hat lange der Auswanderung von Bauern nach S. feindlich gegenübergestanden, obschon russische Volkswirte, insbesondere der Publizist Issajew, welcher der Kolonisation Sibiriens besondere Aufmerksamkeit schenkt, die Irrigkeit dieses Verfahrens nachzuweinen sich bemühten. Die entsetzlichen Mißstände bei der Verschickung nach S. sind in neuester Zeit namentlich durch den Amerikaner G. Kennan (s. d., Bd. 18) ¶
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gedeckt worden, und der Zar selbst hat angeordnet, daß oen Aufsehen erregenden Mißständen schleunigst ein Ende gemacht werde. Nach einem Gesetzentwurf des verstorbenen Ministers Tolstoi soll die bisher übliche Verbannung zur Ansiedelung durch Gefängnisstrafe ersetzt, die Versendung von Bauern durch ihre Gemeinden überhaupt unterdrückt werden. Im Reichsrat ist indessen dieses Projekt auf Hindernisse gestoßen, und es sind neue Erhebungen angeordnet worden, deren Dauernoch nicht abzusehen ist.
Man hat sich aber entschlossen, die zu Strafarbeit Verurteilten nur noch nach Sachalin und den Minen von Nertschinsk zu senden. An beiden Orten befinden sich 10,667 Gefangene, davon über die Hälfte auf Sachalin, wo außerdem 3500 Verbannte als Kolonisten angesiedelt sind. Die Insel hat ihre eigne Verwaltung und 1500 Mann Soldaten. Den Verkehr mit der sibirischen Küste, woher die Insel meist die Lebensmittel bezieht, vermittelt eine besondere Dampferlinie. Doch ist der Bezug der Lebensmittel wie der Absatz der Erzeugnisse der Kolonisten noch ziemlich mangelhaft. Da die Auswanderung aus den landarmen und verkommenen Dörfern trotz aller Strafandrohungen fortdauerte, so wurde eine obrigkeitliche Regelung der Bewegung versucht.
Durch das Auswanderungsgesetz vom gestattet die Regierung nicht nur die Übersiedelung nach S., sondern stellt Maßnahmen zur Unterstützung der Kolonisten und ihrer Ansiedelung in Aussicht. Dieselben erscheinen indes durchaus unzureichend, da ganz armen Familien, welche das Reisegeld nicht erschwingen können, die Erlaubnis zuni Auswandern ebensowenig gegeben wird als wohlliabenden Bauern, welche der Zukunft ihrer Kinder wegen nach S. gehen wollen.
Obwohl nun das neue Gesetz denjenigen, welche ohne Erlaubnis auswandern, alle in Aussicht gestellten Vorteile (Gewährung von Reqierungsland, Vorschuß von Vieh und Ackergerät, Befreiung oder Ermäßigung der Steuern für die ersten Jahre, Erlaß der Militärpflicht) abspricht, ja sogar ihren Rücktransport in Aussicht stellt, so lassen sich die Bauern dadurch doch nicht abhalten, zum Nanderstab zu greifen. In anbetracht dieser Umstände hat sich Ende 1890 in St. Petersburg [* 9] eine Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Auswanderer gebildet, zur Errichtung schutzgewährender Baracken an den Hauptpunkten, zur Gewährung ärztlicher Hilfe dort und auf den Dampfern, zur Beihilfe dei Anschaffung von Baumaterial, Vieh und Ackergeräten und zur Errichtung von Kirchen und Schulen in den neuen Ansiedelungen. Als Hauptpunkte für die Thätigkeit der Gesellschaft sind Tjumen und Tomsk ins Auge [* 10] gefaßt.
Vgl. Jadrinzew, Statistische Materialien zur Geschichte der Verschickung nach S. (russisch, Petersb. 1889);
Gowing, Five thousand miles in a sledge (Lond. 1889);
Boulangier, Notes de voyage en Sibérie (Par. 1891);
die Berichte von G. Kennan im »Century Magazine« (danach deutsch von Kirchner: »Sibirien«, Berl. 1891, 3 Bde.),
als Buch verarbeitet in »Siberia and the exile system« (Lond. 1892, 2 Bde.).