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deren jeder denn auch bereits eine namhafte Dampferflotte besitzt. Die Kosten des Transportes von und nach Europa [* 2] sind unter solchen Umständen so bedeutend, daß nur die wertvollsten Waren sie tragen können. An Ausdehnung [* 3] des Handels ist dabei kaum zu denken. Bei Herstellung einer Eisenbahnverbindung würde das mit einem Schlage anders. Wie die Erfahrung mit der transkaspischen Bahn bewiesen hat, würde ein solches Verkehrsmittel die Ansiedelung sehr rasch steigern und damit überall neue Interessen schaffen.
Die Ausbeutung der natürlichen Reichtümer des Landes würde einen großen Aufschwung nehmen, der Holzhandel, Getreidebau, die Goldgewinnung [* 4] einer ganz andern Entwickelung als bisher fähig werden und vor allem der Transithandel nach und von China [* 5] zunehmen. In Erwägung dieser, Umstände setzte die russische Regierung eine technische Kommission ein, welche S. untersuchen und Pläne! für Bahnbauten entwerfen sollte. Nach dreijähriger Arbeit hat man das anfangs empfohlene System, die großen Wasserläufe der Kama, des Tobol, Irtysch, Ob, Tom, des Amur und Ussuri zu benutzen und dieselben nur durch einzelne Eisenbahnstrecken zu verknüpfen, jetzt fallen lassen, wiewohl es das billigste gewesen wäre, und zwar deshalb, weil infolge klimatischer Verhältnisse die Verbindung nur 4 ½ Monate im Jahre hätte benutzbar sein können.
Auch wären mit diesem kombinierten System vorzugsweise öde Gegenden erschlossen, reiche, zukunftbringende aber vernachlässigt worden. Man hat sich daher für eine ununterbrochene Eisenbahnlinie entschlossen und unter verschiedenen Projekten dem nachstehenden den Vorzug gegeben. Ausgangspunkt ist Samara an der Wolga, das nach W. hin in ununterbrochener Verbindung mit Moskau [* 6] und St. Petersburg [* 7] steht. Nach O. hin reicht von hier aus die Bahn über Ufa bis Slatoust am Westabhange des Ural.
Von dort ab beginnt nun die neue Bahn mit der kurzen Uralstrecke bis Minsk (32 km), worauf dieselbe über Tschelabinsk, Tjukalinsk, Omsk, Kainsk, Tomsk, Mariinsk, Krasnojarsk nach Nishni Udinsk an der Uda geführt wird, im allgemeinen der bekannten großen Straße folgend. Das ist eine Länge von 2912 km, durch den bevölkertsten Teil Sibiriens führend und in Rußland an die fruchtbare Region des Tschernosem anschließend. Die! Kosten dieses Teiles der Bahn werden auf 236 Mill. Mk. veranschlagt.
Nishni Udinsk ist der Mittelpunkt der ganzen Bahn. Die Weiterführung derselben von hier nach dem Kriegshafen Wladiwostok am Japanischen Meer soll folgendermaßen geschehen: Zuerst nach Irkutsk, von da nach dem Mweesowski-Imfen am Südufer des Baikalsees, dann nordöstlich über Tschita und Nertschinsk nach Strjetensk an der Schilka, dem großen Quellfluß des Amur. Im Thal [* 8] der Schilka und des Amur geht es abwärts bis Chabarowka an der Ufsurimündung, alsdann in südlicher Richtung den Ussuri aufwärts und nach Wladiwostok.
Diese zweite große Abteilung der Bahn, von Nishni Udinsk bis Wladiwostok, wird 7656 km lang, die ganze Bahn von Minsk bis Wladiwostok demnach 10,568 km. Die Gesamtkosten sind auf 740 Mill, Mk. veranschlagt, die zu ihrer Erbauung erforderliche Zeit auf 10-12 Jahre. Am östlichen Ende, von Wladiwostok aus, ist bereits eine kurze Strecke vollendet. Durch den Bau dieser Bahn wird die jetzt trotz des fast gänzlichen Mangels von Verkehrswegen sich jährlich steigernde Auswanderung russischer Bauern nach S. noch weit größer werden, denn die Lage der Bauern im europäischen Rußland ist eine sehr traurige.
Obwohl man meinen sollte, daß hier leicht eine zehnfach stärkere Bevölkerung [* 9] ihren Unterhalt finden könnte, vermögen jetzt die spärlichen Bewohner der Dörfer kaum ihren Unterhalt zu gewinnen. Verschiedene Umstände wirken dabei zusammen. In erster Linie die verfehlte Durchführung der Bauernbefreiung und der Mangel der Gemeinden an Ackerland. Um die adligen Gutsbesitzer nicht allzu sehr zu schädigen, hat man seiner Zeit den Bauern so wenig Land wie möglich zugestanden und ihnen große Lasten aufgebürdet.
Nach der für einen großen Teil Rußlands geltenden Gemeindeverfassung gehört das Land allen Bauern gemeinschaftlich. Sie verteilen dasselbe unter sich in bestimmten Zeiträumen und tragen gemeinsam auch alle Abgaben. Jeder muß mit dem ihm zufallenden, oft wert von andern abgelegenen Landstreifen zufrieden sein, gleichviel, ob derselbe gut oder schlecht ist. Natürlich gibt er sich keine besondere Mühe mit der Bestellung, Meliorationen kommen gar nicht vor.
Auch wächst die Gemeinde beständig an Kopfzahl, die Ackerstücke werden daher immer kleiner; in vielen Gegenden Rußlands lohnen sie gar nicht mehr den Anbau. Daher fortschreitende Verarmung der Bauern wie der Gemeinden, bis schließlich kein andrer Ausweg bleibt, als durch Not gezwungen die heimische Erde zu verlassen, als Feldarbeiter in Südrußland sich zu verdingen oder nach S. zu gehen. Die Regierung hat, um derartiges zu verhindern, allerdings eine Bauernbank geschaffen, welche den Gemeinden Geld zum Ankauf von Land vorschießt.
Aber dies Institut verlangt ziemlich hohe Zinsen, so daß die dauern im Fall einer Mißernte oder eines andern Unglücks oft nicht im stände sind, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, und ihren Besitz unter den Hammer [* 10] kommen sehen. Die Willkür der Behörden, Anmaßungen der großen Grundbesitzer und religiöse Motive wirken oft mit, um den Leuten die Heimat zu verleiden. So entschließen sich jedes Jahr Tausende von Familien zur Übersiedelung nach S. Das Land wird verkauft, verpachtet oder, findet sich dazu keine Gelegenheit, einfach verlassen.
Gewöhnlich geht der Aufbruch bei Nacht und Nebel ohne Wissen der Behörden, welche die Leute der Steuerrückstände wegen Ulrückhalten würden, im Frühjahr vor sich. Die kleinsten Kinder und das wenige Gepäck sind auf einem Karren [* 11] untergebracht, den ein magerer Gaul zieht. So geht es zur Wolga, und auf dieser und der Kama bringt ein Dampfer die Wanderer in einigen Wochen nach Perm. Von da geht es wieder zu Fuß oder allenfalls mit der Eisenbahn über den Ural nach Tjumen, wo die wochenlange Fahrt auf den sibirischen Strömen nach Tomsk beginnt.
Die aus den südlichen Gouvernements Stammenden und die, welche zu arm sind, um die Dampferfahrt nach Perm zu bezahlen, schlagen meist den Landweg über Samara nach Orenburg und von dort über den Ural nach Tjumen ein. Nicht selten betteln sie sich auch zu Lande durch die ungeheuern Steppen bis zum Altai durch. Die Fahrt von Tjumen nach Tomsk ist an Entbehrungen und Beschwerden überreich und wird oft noch schrecklicher durch den Ausbruch von Epidemien auf den überfüllten Schiffen.
Mit dem Erreichen von Tomsk beginnen neue Schwierigkeiten. Zwar hat die Regierung hier seit kurzem einen Kommissar ernannt, dem einige tausend Rubel zur Verfügung gestellt sind, um den Leuten, die, um weiter zu kommen, einen Karren und ein Pferd [* 12] besitzen müssen, die Weiterreise zu ermöglichen; die Stadt Tomsk hat Baracken errichtet und sorgt für Pflege der Kranken, auch die private Wohlthätigkeit ist organisiert worden. Leider aber ist in S. fast nirgends seitens der Behörden ¶
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Vorsorge für Aufnahme von Zuwanderern getroffen. Daher wandern nicht selten ganze Familien wieder nach Rußland zurück, wo sie die ohnehin sehr zahlreichen Bettlerscharen vermehren. Den meisten freilich gelingt es, ihren Wunsch endlich doch zu verwirklichen. Sie lassen sich hauptsächlich in Turkistan, in den Ländern des Altai und in denen des Amur am Stillen Ozean, dem sogen. Nssuriiskischen Grenz land, nieder. Das letzte, in Rußland als eine Art neues Kalifornien angesehen, berechtigt zu den meisten Hoffnungen.
Die Bevölkerung besteht hier aus Russen, Koreanern, Japanern und Orotschen. Die Chinesen (8500 Köpfe), welche sich besonders längs der Küste und in Wladiwostok niedergelassen haben, sind meist Handels- und Dienstleute, die Koreaner zählen 10,000, die Orotschen und Japaner je 500 Köpfe. Die Russen, vorwiegend Ackerbauer, Soldaten und Beamte, sind teils ussurische Kosaken, teils Einwanderer aus Tschernigow. Doch ist die Zahl derjenigen, welche auf dem langen Landweg hierher gelangen und dann gegen die fleißigen, genügsamen Chinesen aufzukommen vermögen, eine geringe.
Die Regierung begann daher in den 80er Jahren, Kolonisten auf Staatskosten mittels der Dampfer der freiwilligen Flotte zur See nach dem ussuriiskischen Lande zu schaffen. Auf diese Weise ist die russische Bevölkerung dort auf 35.000 Seelen gebracht worden. In neuester Zeit werden nur Leute zur See übergeführt, welche das Reisegeld und die Niederlassung aus eignen Mitteln bestreiten können. Im Altai bilden meist Strafkolonisten den Kern der Ansiedler. Die Zahl der freien Einwanderer hierher betrug 1866-83 nur 48,250 Seelen, aber in den folgenden 6 Jahren kamen 95,501 Kolonisten an, und ihre Zahl wächst beständig.
Die Ansiedler gedeihen hier gut. Nach wenig Jahren besitzt jede fleißige Familie Haus, Land und Vieh. Rückwanderungen sind von hier selten, aus den Amurländern desto häufiger. In Transkaspien sind die Verhältnisse ganz anders. Die Verbindung mittels der neuen zentralasiatischen Bahn ist eine bequeme, die Verwaltung eine weit bessere. Aber die dortigen Verhältnisse sind den russischen Bauern ganz fremd und ungewohnt, wie der Anbau von Baumwolle, [* 14] die Zucht von Seidenwürmern u. a. mit Hilfe kostspieliger künstlicher Bewässerung, wenngleich der Ertrag ein sehr hoher ist.
Dennoch hat man 1886-89 mehr als 9000 Menschen hierher gebracht und sucht mit Hilfe großartiger Bewässerungsanlagen und Wiederinstandsetzung verfallener Kanäle aus alten Zeiten noch mehr dorthin zu bringen, um gegen die eingeborne Bevölkerung ein Gegengewicht zu bekommen. Das transkaspische Territorium ist schon deshalb zur Kolonisation besser geeignet, weil Verbrecher hierher niemals deportiert wurden. Jadrinzew hat in einer 1889 erschienenen Arbeit das ganze in Archiven, Gefängnisregistern etc. verstreute Material veröffentlicht.
Danach sind 1807-1881 im ganzen 642,000 Menschen in die Verbannung gegangen, darunter etwas über 100,000, welche die Verbrecher freiwillig begleiteten. Die Verschickung hat mit der Zeit ganz außerordentlich zugenommen, in den 5 Jahren 1807-11 wurden 10,175 verschickt, 1857-61: 36,821, 1877-81: 86,336. In den 13 Jahren 1867-79 waren 51,8 Proz. der 210,000 Verschickten auf administrativen: Wege, d.h. ohne Richterspruch, auf Verfügung der Regierung oder der Gemeinden verbannt worden;
von den übrigen 48,2 Proz. waren 12,3 Proz. Zu Zwangsarbeit verurteilt, 20.1 Proz. zu Internierung in sibirischen Ortschaften, 2,4 Proz. auf Lebenszeit verbannt, endlich 13 Proz. zur zwangsweisen Kolonisation verurteilt.
Von den 1823-79 Verschickten waren 15,i Proz. Frauen. Die Zahl derer, die freiwillig ihre Verwandten begleiteten, hat absolut und relativ fortwährend zugenommen; sie betrug 1823-32: 4 Proz. der Verschickten, 1870-79 aber an 33 Proz. Unter diesen überwiegen die Frauen. Die Reiseroute der Verbannten geht von Moskau über Nishnij, Kasan, [* 15] Perm, Jekaterinenburg nach Tjumen, Tomsk, Atschinsk und Irkutsk. Die Etappengefängnisse müssen oft das Drei- und Vierfache ihrer Fassungsfähigkeit übernehmen; daher zahlreiche Erkrankungen und Sterbefälle. Im Etappengefängnis zu Tjumen erkrankten 1869-75: 10,3 Proz. der Arrestanten, von denen ein Fünftel starb.
Ähnlich ist es in Tomsk. An diesen beiden Plätzen und auf dem Wege zwischen ihnen erkrankt die Hälfte der in die Verbannung Reisenden, jährlich sterben hier 800-1000 Menschen. 1880 und 1881 erkrankten auf dem Wege von Moskau nach Atschinsk 69,n, bez. 68,2 Proz. aller Verbannten, und die Sterblichkeit betrug 7,2, bez. 8,5 Proz. Nahezu ein Zehntel der Verbannten stirbt auf der Reise. Von den Verbannten blieben 1870-81 in Westsibirien 113,375, in Ostsibirien 88,818. Gegenwärtig schätzt man die Zahl der in S. lebenden Verbannten auf 200,000-210,000. Davon kommen auf das Gouvernement Tobolsk 60,000, auf Tomsk 29,000, auf Jenisseisk 50,000, auf Irkutsk 40,000, auf Transbaikalien 21,000, auf Iakutsk 3000. Die ökonomische Lage der Verbannten ist eine sehr traurige.
Von den 1876 gezählten Verbannten im Gouvernement Tobolks waren 9689 beschäftigungslos, 11,681 trieben Ackerbau, die übrigen verschiedene Handwerke. In Tobolsk und Tomsk besitzt nur der vierte Teil der Verschickten eine Hütte; auf je drei Personen kommt ein Hektar Ackerland, auf je zwei ein Pferd und eine Kuh. 31,6 Proz. waren kräftige Arbeiter, 15,4 Proz. Greise und Krüppel, 7,6 Proz. Bettler. Da die Zahl der verschickten Frauen eine geringe ist, so bietet sich wenig Gelegenheit, einen Hausstand zu gründen. Im Gouvernement Tobolsk lebt nur ein Drittel der Verschickten in Familien oder in einein Hausstand zusammen.
Von den im Gouvernement Jenisseisk 1873 gezählten Verschickten waren 44,4 Proz. Mörder, 23,3 Proz. Diebe, 15,6 Proz. wegen gewaltthätiger Handlungen Verurteilte, 5,9 Proz. Falschmünzer, 4,6 Proz./ Räuber, 3,3 Proz. hatten sich Verbrechen im Staats- oder Gemeindedienst zu schulden kommen lassen, 2,9 Proz. waren Landstreicher. Die Zahl der jährlich entfliehenden, meist aber wieder eingefangenen Verbannten ist sehr groß. Von den Arbeitern der Saline von Irkutsk entflohen 1860-70 jährlich zwischen 9 und 90,5 Proz. Nach Jadrinzews gründlichen, in 15 Jahren durchgeführten Untersuchungen hat das gegenwärtige System der Verschickung nach S. keineswegs den großen kolonisatorischen Erfolg, den man von ihm erwartete.
Auch sträuben die freien Ansiedler in S. sich gegen die weitere Zufuhr von Verbrechern und verlangen Aufgabe des Verschickungssystems; auch die sibirische Presse [* 16] arbeitet schon seit Jahren in diesem Sinne, aber immer noch ohne Erfolg. Die russische Regierung hat lange der Auswanderung von Bauern nach S. feindlich gegenübergestanden, obschon russische Volkswirte, insbesondere der Publizist Issajew, welcher der Kolonisation Sibiriens besondere Aufmerksamkeit schenkt, die Irrigkeit dieses Verfahrens nachzuweinen sich bemühten. Die entsetzlichen Mißstände bei der Verschickung nach S. sind in neuester Zeit namentlich durch den Amerikaner G. Kennan (s. d., Bd. 18) ¶