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spezies eigentümlich und sich in allen Generationen wiederholen, also typisch für sie sind. Wenn wir beispielsweise den Birnbaum betrachten, der in so mannigfachen Kulturformen alle Übergänge von der mit Dornen versehenen wilden Birne bis zu den zartesten Butterbirnen zeigt, so finden wir eine ganz bedeutende Anzahl wesentlicher Abweichungen. Bei den wilden Birnen ist das Fruchtfleisch fest, die Frucht klein, stark steinig, im Geschmack zusammenziehend; bei den guten Kulturformen dagegen zeigt die bisweilen auf eine enorme Größe gebrachte Frucht bei dem Genuß keine Spur mehr von dem zusammenziehenden Gerbsäuregeschmack und nur geringe Andeutungen der zwischen den Zähnen knirschenden Steines wohl aber einen ganz bedeutenden Zuckerreichtum und eine große Weichheit (schmelzende Beschaffenheit) des Fleisches.
Auch im anatomischen Bau sind merkliche Abweichungen zwischen den wilden Birnbäumen und den Kultursorten vorhanden. In der Frucht sind die sogen. Steinzellen, welche die zwischen den Zähnen knirschenden Körnchen darstellen, dünnwandiger und weiter auseinander gerückt; im Zweigbau erweist sich bei den Kultursorten die Rinde fleischiger, der Markkörper größer und der Holzring kleiner, also der Zweig dicker und weicher als bei gleichalterigen Zweigen der Wildbirne.
Trotz dieser und mannigfacher andrer Abänderungen bleiben die Merkmale des Birnbaums doch immer derart, daß wir ihn nur sehr selten, bei genauer Prüfung niemals, mit einer andern Kernobstart verwechseln werden. Der Blütenbau, die kreiselförmige Gestalt der Frucht mit ihren stets vorhandenen Steinzellen, die Blattbeschaffenheit 2c. sind Merkmale, welche bei den verschiedensten Formen immer eine charakteristische Übereinstimmung erkennen lassen, die durch keinerlei natürliche oder künstliche Eingriffe sich dauernd haben verändern lassen.
Wir müssen demgemäß behaupten, daß der pflanzliche Organismus uns in gewissen Typen gegenübertritt, die nicht erschüttert werden können, wohl aber weitgehende Schwankungen in der stofflichen und gestältlichen Entwickelung zulassen. Diese in allen Generationen immer wieder innerhalb bestimmter Zeitepochen zu Tage tretenden typischen Merkmale bezeichnen wir als normale Entwickelung. Eine solche sehen wir zu stände kommen trotz der wechselnden Witterungsverhältnisse verschiedener Jahre, so daß die Vermutung nahegelegt wird, daß der pflanzliche Organismus, im wesentlichen in seiner gestaltlichen und stofflichen Entwickelung von den Witterungsverhältnissen unabhängig, lediglich dem innewohnenden erblichen Gesetze folge.
Genauere Beobachtung läßt jedoch bald das Gegenteil erkennen. Wir bemerken, daß die Witterung von ganz bedeutendem Einfluß ist, daß sie fortwährend ändernd auf die Beschaffenheit des Pflanzenleibes wirkt, daß derselbe bis zu einem gewissen Grade direkt das Spiegelbild der Vegetationsbedingungen wird, die alljährlich auf ihn einwirken, und daß wir nur deshalb große Veränderungen von langer Dauer am Pflanzenkörper nicht auftreten sehen, weil innerhalb größerer Perioden die Jahreswitterungen sich wieder ausgleichen, so daß der langlebige Organismus Beeinflussungen eines Jahres durch entgegengesetzte andrer Jahre auszugleichen im stände ist. Um einen klaren Einblick in das Abhängigkeitsverhältnis der Pflanze von den äußern Vegetationsbedingungen zu erhalten, empfiehlt es sich, kurzlebige, schnellwüchsige Arten zu beobachten.
Wir dürfen nur die besonnten und schattig stehenden, die auf trocknem Sand- und feuchtem Lehmboden wachsenden Exemplare derselben Pflanzenart miteinander vergleichen, um sofort den Einfluß der Beschattung in dem schmächtigen, langgliederigen Bau, den Einfluß der Trockenheit in den kleinblätterigen, behaarter erscheinenden, gedrungener wachsenden Exemplaren herauszufinden. Was von der größern oder geringern Lichtmenge, von der beschränkten oder genügenden Wasserzufuhr gilt, bezieht sich auf alle Faktoren, von denen das Pflanzenleben abhängig ist.
Jeder Vegetationsfaktorwirktnach Maßgabe seiner vorhandenen Stärke [* 2] auf das Pflanzenleben ein und kommt bei dem Aufbau despstanzlichen Organismus zur Geltung. Jede Pflanze braucht zu ihrem Gedeihen eine gewisse Menge von jedem einzelnen Vegetationsfaktor (Licht, [* 3] Wärme, [* 4] Vodennährstoffe, Luftzufuhr 2e.), um sich überhaupt am Leben zu erhalten. Unterhalb dieser Minimalgrenze hören die Thätigkeitsäußerungen des Organismus auf; es tritt ein Starre zustand ein, der bei längerer Dauer zum Tode führt, bei Wiedereintritt der notwendigsten Minimalmengen der einzelnen Lebensbedingungen nach kurzer Unterbrechung einer erneuerten 'Lebensthätigkeit aber wieder Platz macht.
Von dieser Minimalgrenze ab steigern sich die Funktionen des Organismus, wenn Wärme, Licht, Nährstoffzufuhr und die andern lebenbedingenden Faktoren an Menge zunehmen, bis zu einem Gipfelpunkts, dem Optimum, um dann bei weiterer Steigerung der Vegetationsbedingungen wieder an Intensität nachzulassen, an einer Maximalgrenze endlich abermals zum Stillstand zu kommen und in einen Starrezustand einzutreten, der über eine gewisse Zeitdauer hinaus zum Absterben führt.
Der von uns in seinen Wirkungen am leichtesten zu überschauende Faktor ist die Wärme. Die Kulturen der tropischen Pflanzen in unsern Gewächshäusern sind das Nächstliegende Beispiel für die Thatsache, daß jedes der einzelnen Pflanzengeschlechter besondere Ansprüche an die Temperatur stellt, und daß viele Arten schon bei Wärmegraden sterben, bei denen andre noch freudig wachsen. Genauere Beobachtung zeigt aber auch, daß die einzelnen Varietäten derselben Art sich in ihren Wärmeansprüchen verschieden verhalten, ja, daß selbst innerhalb derselben Varietät sich stets einige Individuen finden, die frosthärter als andre sind. Es werden also einzelne Exemplare derselben Art noch bei einer Temperatur Lebensthätigkeit zeigen, bei denen die Mehrzahl schon im Zustande der Kältestarre sich befindet.
Was von dem Wärmebedürfnis gesagt ist, gilt auch sür jeden einzelnen andern Vegetationsfäktor. Einzelne Arten und Individuen sind noch mit Wasserquantitäten zufrieden, bei denen andre schon im Zustande der Trockenstarre sich befinden, begnügen sich mit Lichtmengen, die für andre unzureichend sind und sie in den Zustand der Dunkelstarre versetzen 2c. Ebenso wie es innerhalb jeder Art einzelne Individuen gibt, welche ganz besonders geringe Mengen der einzelnen Vegetationsfaktoren beanspruchen, gibt es anderseits auch solche, die auch extrem große Quantitäten vertragen.
Innerhalb der Minimal- und Maximalgrenze jedes einzelnen Vegetationsfaktors schwankt die Intensität des Wachstums nun fortwährend hin und her; es vollziehen sich alle Funktionen, und alle Phasen der Entwickelung werden normal durchlaufen. Das Pflanzenleben bewegt sich dann innerhalb der Breite [* 5] der Gesundheit. Sinkt ein einziger der für das Pflanzenleben notwendigen Faktoren unter die für die Spezies eigentümliche Minimalmenge oder wird er über die ¶
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malgrenze hinaus gesteigert, so erhält der typische' Entwickelungsgang eine Störung durch Aussetzen einzelner Funktionen, und damit ist die Existenz der Pflanze bedroht. Jeder derartige Stoß^ auf den typischen Entwickelungsmodus ist eine Krankheit. I Die Disziplin, welche sich mit dem Studium der ^ Pflanzenkrankheiten [* 7] beschäftigt, heißt die Phytopathologie. ! Das Studium beginnt mit der Charakterisierung ^ des Krankheitszustandes, also einer Beschreibung nach den einzelnen Anzeichen oder Symptomen (Patho- ^ graphic oder Symptomatik). In zweiter Linie folgt i die Erörterung der Frage nach der Entstehung der Krankheit (Pathogenie oder Ätiologie), und nach der , Lösung dieser Frage erst kann die Heilmittellehre (Therapie) zur Wirksamkeit kommen. Von größerer praktischer Bedeutung aber als die Heilmittellehre ist jedenfalls derjenige Zweig der Pathologie, welcher! sich mit den Vorbeugungsmaßregeln zur Verhütung ! der Krankheiten befaßt (Prophylaxis). Die besten ! Vorbeugungsmaßregeln werden in der Ausbildung ! der Lehre [* 8] von der Erhaltung der Gesundheit der Pflanze, also der Pflanzenhygiene, gefunden.
Die Aufgabe der Phytopathologie aber ist damit nicht abgeschlossen, daß sie nur diejenigen Störungen in Betracht zieht, welche die Existenz des pflanzlichen Organismus bedroheil (absolute Krankheiten). Wir müssen bedenken, daß wir eine große Anzahl von Gewächsen aus ihren natürlichen Wachstumsverhältnissen entfernt und der Züchtung unterworfen haben. Die Züchtung hat den Zweck, die Pflanzen in bestimmter Richtung zu einer gesteigerten Produktion zu veranlassen.
Unsre Kultur wünscht eine Erhöhung gewisser Eigenschaften. Bald wünschen wir eine Vermehrung der Masse, wie bei der Ausbildung der Getreidekörner, bald die möglichst reiche Entwickelung bestimmter Inhaltsstoffe, wie z. B. des Zuckers bei der Zuckerrübe, oder wir verlangen die Umwandlung einzelner Organe, wie beispielsweise die Umbildung von Staubgefäßen zu Blumenblättern behufs Erzielung gefüllter Blüten:c. Je mehr unsre Kulturpflanzen den an sie gestellten Züchtungsansprüchen nachkommen, desto mehr pflegen wir sie als vollkommen anzusehen und als normal anzusprechen.
Dieser durch den Kulturzweck geschaffene Begriff der Normalität kann dem Grundbegriff gerade entgegenlaufen, so daß wir eine Rückkehr der Pflanze in den natürlich-normalen Zustand geradezu als abnorm, die Rückkehr zum Typus der Art geradezu als Ausartung bezeichnen. Eins der bekanntesten Beispiele bietet sich in der holländischen Karotte, also jener Mohrrübensorte dar, die sehr zuckerreich, kurz und dick ist, sich plötzlich unten in ein dünnes Wurzelende zusammenzieht und fürdie Frühbeetkulturen ganz besonders geeignet erscheint.
Diese Karotte stammt, ebenso wie die weiße, stärkehaltige Futtermöhre, von unsrer wilden Mohrrübe ab, die eine schlank spindelförmige, weiße, holzige, stärkereiche Wurzel [* 9] besitzt. Jede Neigung bei den kurzen Karotten, die lange, spindelförmige Wurzclgefialt anzunehmen und Stärke statt des Zuckers abzulagern, bezeichnen wir als eine Ausartung, obgleich es eigentlich gerade der Ausdruck eines Streoens der Pflanze ist, zum natürlichen Entwickelungstypus zurückzukehren.
Solche Ausartungen finden sich bei allen von uns kultivierten Gewächsen und werden als Störungen des Entwickelungsganges der Pflanze betrachtet, welche von der Pathologie bekämpft werden sollen. Das Arbeitsgebiet der^Phytopathologie umfaßt somit nicht nur die Störungen, welche die Existenz der Pftanzebedrohen, sondern auch diejenigen Abweichungen des durch unsre Kultur abgeänderten Entwickelungsganges, welche lediglich den Kulturzweck schädigen, und die man deshalb als relative Krankheiten den absoluten anzureihen hat.
Vielfach ist der Begriff der Ausartung oder Degeneration auch in der Weise gebraucht worden, daß man nicht bloß die obenerwähnten Rückschläge unsrer Kulturformen zu den wilden Stammformen damit bezeichnete, sondern daß man annahm, auch die typische unkultivierte Art zeige aus innern Ursachen allmählich Schwächeerscheinungen und ein Nachlassen oder Einstellen gewisser Funktionen, welche zum Aussterben der Art früher oder später führen müssen. Diese Anschauung beruht auf der Annahme, daß jeder Pflanzenart ein bestimmtes Lebensalter eigentümlich sei, wie solches bei den Individuen erkennbar nt, und daß somit notwendigerweise die Folgen des Alters, also Senilitätserscheinungen sich geltend machen müssen.
Die Verteidiger dieser Ansicht stützen sich auf die Erfahrung, daß gewisse Arten und Varietäten an Örtlichkeiten nicht mehr gedeihen wollen, in denen sie früher in großer Üppigkeit wuchsen. Dieser Ansicht gegenüber ist zu betonen, daß nirgends das plötzliche gleichzeitige Verschwinden einer Art aus den verschiedenen Wohnungsgebieten unzweifelhaft festgestellt ist, daß aber das Au'ssterben gewisser Varietäten und Kulturformen sich durch sehr natürliche Wachstumsvorgänge erklären läßt, die ganz unabhängig vom Alter der Spezies oder des Geschlechts sind. Es ist im vorhergehenden bereits erwähnt worden, daß die Kräftigkeit der Entwickelung einer Pflanze davon abhängt, in welcher Menge ihr die einzelnen Vegctationsfaktoren zur Verfügung stehen.
Nun hat aber außerdem auch jede einzelne Entwickelungsp Hase [* 10] des Individuums ihre besondern Minimal- und Marimalgrenzen innerhalb der Existenzskala. Es vollziehen sich beispielsweise häufig die Keimung und die Laubentwickelung bei Temperaturen und Lichtmengen, welche für die Ausbildung von Blüte [* 11] und Frucht ungenügend sind. Die Pflanze geht nicht zu Grunde, wenn sie die Bedingungen zur Fruchtbildung nicht erhält, aber sie beschränkt ihre Produktion auf diejenigen Phasen, die unter den gegebenen Verhältnissen eben möglich sind.
Wirken derartige ungünstige Umstände dauernd auf Individuen oder ganze Generationen ein, so werden derartige .Neigungen zu einseitiger Produktion erblich, und wir erhalten Rassen mit unvollkommener Entwickelung. Im vorliegenden Beispiel würden Rassen mit Neigung zur Unfruchtbarkeit gebildet werden und wir von einer Degeneration sprechen dürfen. In andern Fällen kann die Unfruchtbarkeit dadurch zu stände kommen, daß von gewissen Vegetationsfaktoren ein Überschuß geboten wird.
Wir sehen die gefüllten Blumen zum Teil dadurch entstehen, daß die Pflanzen dauernd in sehr nährstoffreichem Boden bei günstigster Bewässerung erzogen werden. Es bildet sich dann die Neigung heraus, die Staubgefäße [* 12] in Blumenblätter umzuwandeln, und die Individuen sind für sich allein wegen Mangel der Blutenstaub produzierenden Organe nicht mehr fähig, den Vefruchtungsakt zu vollziehen. So lassen sich zahlreiche Beispiele einer einseitig gesteigerten Entwickelung durch Mangel oder Überschuß einzelner Vegetationsfaktoren vorführen. Geht diese einseitige Ausbildung gewisser Funktionen oder Organe auf Kosten andrer vor sich, deren Erhaltung für den Kulturzweck oder die Fortpflanzung der Art wünschenswert ist, dann haben wir Degenerations 46* ¶