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heimisch sind, so würde man eine staunenswerte Veränderung wahrnehmen. Die Zimmerpflanzen, [* 2] die überwiegende Menge der Gewächse unsrer Ziergärten, der Schmuckanlagen unsrer Straßen und Plätze, manche Kulturpflanze und selbst ein Teil der jetzt bei uns wild wachsenden Pflanzen würde verschwinden, und es würde eine erschreckende Verarmung der Vegetation eintreten. Vor einigen Jahrhunderten beschränkte sich unsre Gartenflora auf das, was wir heute etwa in einem Bauerngarten in weit abgelegener Gegend oder in dem wohlgepflegten Garten [* 3] eines Landapothekers vom alten Schlage erblicken.
Allerdings begann schon früh die gelegentliche Einführung fremder Pflanzen, und Konrad Gesner veröffentlichte 1560 ein alphabetisches Verzeichnis nebst Beschreibung der bis dahin in Deutschland [* 4] vorhandenen 1160 fremden Pflanzen. Aber die Masseneinführung der Fremdlinge begann doch erst um die Wende des 15. und 16. Jahrh., wo die geistige Entwickelung und der Verkehr der Völker jenen unvergleichlichen Aufschwung nahmen. 1545 bestimmte der Rat von Padua [* 5] ein Stück Gartenland zur systematischen Bepflanzung mit eingeführten Gewächsen, und so entstand der erste botanische Garten.
Hauptsächlich war es zunächst Nordamerika, [* 6] welches uns mit neuen Pflanzenarten versah. Neben der anfangs als Zierpflanze bei uns gehegten Kartoffel waren es beispielsweise die Akazie, der Tulpenbaum, der Sumachstrauch, der Lebensbaum. Ein bemerkenswerter Umschwung trat ein, als die Holländer aus Südafrika [* 7] eine Menge hier unbekannter Pflanzen, wie Pelargonien, Dracänen, Eriken, Lobelia, Kalla, Aloe, und viele sogenannte Fettpflanzen einführten. Die Kultur der Zwiebelgewächse faßte in Holland Boden; der Leidener [* 8] botanische Garten wurde zum Sammelpunkte dieser Südafrikaner, und sein Katalog wies schon 1668 eine Zahl von 6000 solcher Gewächse auf.
Boerhave, der auch die Regeln zur Konstruktion von Gewächshäusern aufstellte, erwarb sich große Verdienste um die Akklimatisation der »Kappflanzen«. Eine ganz neue Richtung nahm die Einfuhr der Pflanzen an, als der alte französische Gartenstil dem englischen wich. Die Nachahmung der freien Landschaft in dem letztern rief das Bedürfnis nach neuen Holzgewächsen hervor; das Landschaftsbild sollte durch Bäume und Sträucher von abweichendem Wuchs und ungewohnter Belaubung möglichst vermannigfacht werden.
Wieder war es Nordamerika, welches man hierzu in Anspruch nahm; man holte von dort Eichen- und Pappelarten, Weißdorne, Nußbäume, die rotblühende Kastanie und vieles andre. Dazu kam dann Asien, [* 9] besonders Sibirien, welches unter anderm die Karagane und kleinfrüchtige Äpfel, und Ostasien, welches (allerdings erst in den 50er Jahren unsers Jahrhunderts) beispielsweise die Forsythien und Weigelien in unsre Gärten sandte. Wie diese Länder für Nordeuropa, so erwies sich Neuholland als Pflanzenspender für Südeuropa, und es darf als ein seltsamer Wandel des Geschickes betrachtet werden, daß diejenigen Pflanzen, welche ursprünglich während der Tertiärzeit in Europa [* 10] selbst heimisch waren, heutzutage als Fremdlinge bei uns erscheinen und allmählich wenigstens in Teilen des Kontinents sich wieder heimisch machen.
Der meist genannte unter ihnen ist der Fieberbaum (Eucalyptus). Erst spät hielten die eigentlichen Tropenbewohner, die Palmen, [* 11] Araceen, Melastomaceen, die Baumfarne, letztere in der Mitte unsers Jahrhunderts, bei uns ihren Einzug. Nach den Bananen, Begonien etc. traten als letztes Glied [* 12] die Orchideen [* 13] auf. Der Beginn dieser Periode bezeichnet zugleich die Ablösung des Botanikers als Veranstalter der Einführung durch den Gärtner und damit die Organisation eines geschäftlichen Massenschubes von Pflanzen. Es begann eine Liebhaberwut für neue Orchideenspielarten mit ähnlichen übertriebenen Preisen, wie sie seinerzeit Holland in der Tulpenwut sah.
Von solchen Auswüchsen des Pflanzenluxus hat man wieder zum einfachen Naturgeschmack zurückzukehren, damit die Pflanzenkunde bleibt, was sie sein soll, die sicentia amabilis. Den zweiten Vortrag hielt Ebsteinm Göttingen [* 14] über die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Vortragender hob in einleitenden Bemerkungen die Lust am Leben hervor, welche die weiten Schichten des Volkes beseelt, trotz der pessimistischen Anschauung, welche von einigen modernen Philosophen gelehrt wird, und betonte das Interesse, mit welchem die Kulturstaaten die Erziehung eines langlebigen Geschlechts befördern.
Die Länge des menschlichen Lebens deckt sich nicht mit der mittlern Lebensdauer. Die Untersuchungen von Lexis-Göttingen haben ergeben, daß in den meisten europäischen Staaten die normale Lebensdauer 70-75 Jahre beträgt. Im allgemeinen hat das weibliche Geschlecht ein etwas längeres Leben als das männliche. Die Sterblichkeit ist im ersten Lebensjahr weitaus am größten, und man hat sogar gemeint, diese große Sterblichkeit im frühsten Kindesalter als eine Naturnotwendigkeit ansehen zu müssen.
Bis zum Anfang des zweiten Jahrzehnts, wo sie ihr Minimum erreicht, nimmt die Sterblichkeit stetig ab, sie steigt dann bis zum 50. Lebensjahr ganz allmählich an und ist verhältnismäßig gering. Nach dem Alter von 70-75 Jahren, in welchem die absolute Zahl der Todesfälle am größten ist, sinkt sie, indem die Zahl der Überlebenden sich mehr und mehr erschöpft, und sehr wenig Personen haben Aussicht, mehr als 90 Jahre alt zu werden. Hundertjährige sind Ausnahmen. Besonders aus Griechenland [* 15] werden in neuester Zeit unverhältnismäßig viele über 100 Jahre alte Personen gemeldet.
Die Zeiten sind vorbei, wo man wähnte, das Leben durch spezifische Mittel beliebig verlängern und Greise verjüngen zu können. Die Frage, ob es möglich ist, das menschliche Leben bis zur normalen Lebensdauer von 70-75 Jahren oder etwas darüber hinaus zu verlängern und dem entsprechend günstig zu beeinflussen, kann nur bedingungsweise bejaht werden, insofern dabei unzweifelhaft eine angeborne, häufig vererbte, glücklich geartete Beschaffenheit unsers Körpers die erste Stelle einnimmt.
Indessen gibt es auch Mittel, welche der Langlebigkeit Vorschub leisten. Diese Kunst, das Leben zu verlängern, sollte bereits in der frühsten Kindheit einsetzen. Die Bedeutung einer verständigen Kinderernährung, bez. Erziehung, kann nicht genug hervorgehoben werden; leider bestehen heute in dieser Beziehung betrübende Schäden. Nicht minder wichtig ist der Einfluß, den der Staat mit seinen gesetzlich geregelten Einrichtungen auf die Erziehung eines ausdauernden Geschlechtes hat.
Die Schule, das Turnen und die militärische Ausbildung spielen hier die wesentlichste Rolle. Außer diesen durch die häusliche Erziehung und die staatlichen Einrichtungen für die makrobiotischen Bestrebungen gegebenen Hilfsmitteln kommt besonders sowohl bei dem in den Kampf des Lebens eintretenden Jüngling als beim Greise die Selbstdisziplin in körperlicher und geistiger Beziehung in Betracht. Auch die »Muße des Greisenalters« soll nicht in Unthätigkeit bestehen. Das Wesentliche ist, daß die Menschen ¶
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körperlich und geistig möglichst widerstandsfähig gegen die Anstrengungen, Sorgen und Gefahren des Lebens gemacht werden. Je frühzeitiger dies geschieht, um so besser. Man hat die Meinung ausgesprochen, daß es die erste Aufgabe der Makrobiotik sei, die Krankheitsursachen, unter denen die Ansteckung den hervorragendsten Platz einnimmt, zu beseitigen oder zu schwächen. Vortragender ging auf diese Punkte näher ein, bezeichnete die dem menschlichen Wissen und Können dabei gesteckten Grenzen [* 17] und gab der Ansicht Raum, daß auch in dieser Beziehung der gut disziplinierte und widerstandsfähige Mensch sich am besten stehen dürfte.
Trotz aller Bestrebungen sei die Lebensdauer der Menschen seit Jahrtausenden offenbar keine längere geworden, indessen sei ein Nachlassen in unsern makrobiotischen Forschungen durchaus zu vermeiden. Die feststehenden allgemeinen Grundsätze müßten jedem einzelnen Falle angepaßt werden. Man dürfe hier nicht schablonisieren und schematisieren. Eine besondere Fürsorge sei sowohl dem Kindes- als auch dem Greisenalter zuzuwenden. Zum Schlüsse wies Redner gelegentlich der Besprechung des Alkoholgenusses in seinen nachteiligen Folgen auf die Lebensdauer, besonders auf die Gefahren des übermäßigen Biergenusses hin und erörterte den schädlichen Einfluß, welchen die nervöse Konstitution unsers Zeitalters und namentlich auch eine Reihe der zu ihrer Bekämpfung angewendeten Mittel nicht nur für die Langlebigkeit der gegenwärtigen, sondern auch der folgenden Geschlechter haben.
In der sich anschließenden Geschäftssitzung wurde Nürnberg [* 18] zum Orte der nächstjährigen Versammlung erwählt. Es folgte dann eine erregte Beratung der Anträge auf Abänderung der Statuten. Es machen sich drei Parteien bemerkbar. Die eine möchte den gegenwärtigen Zustand zunächst noch unverändert fortbestehen lassen, die zweite erstrebt verschiedene Reformen, und die dritte will zu dem frühern Zustande zurückkehren, die vor kurzem erst gegründete Gesellschaft wieder auflösen.
Der Vorsitzende, His-Leipzig, sprach sich dahin aus, daß eine Wiederauflösung der Gesellschaft gleichbedeutend sei mit einer Bankrotterklärung wissenschaftlichen Gemeinsinnes in Deutschland; sie wäre als ein nationales Unglück zu bezeichnen. Es würde durch eine solche öffentlich bekannt, daß die Gesamtheit deutscher Naturforscher und Ärzte sich außer stände sieht, bei Förderung der gemeinsamen Interessen der Wissenschaft einträchtig zusammenzuwirken.
Die Form, welche ein solches Zusammenwirken nötig macht, muß gefunden werden, und es bedarf dazu nur des festen Willens und des opferbereiten Entgegenkommens aller Beteiligten. Das Ergebnis der Diskussion war die ziemlich unveränderte Annahme der Anträge des Vorstandes. Diese Anträge waren auf Grund der von den verschiedensten Seiten her ergangenen Anregungen und Vorschläge ausgearbeitet worden und fanden nach Durchberatung im einzelnen schließlich bei der Gesamtabstimmung die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Dieselben laufen im wesentlichen auf folgendes hinaus: der Kreis [* 19] der Aufnahmefähigkeit wird dahin erweitert, daß allen, welche überhaupt für Naturforschung und Medizin Interesse haben, der Eintritt offen steht. Bei Leitung der Gesellschaft wird dem Vorstand ein größerer Ausschuß zur Seite gestellt, in welchem neben den frühern Vorsitzenden Abgeordnete der Abteilungen sitzen sollen. Die Leitung der bleibenden Gesellschaftsaufgaben und die der Jahresversammlungen werden auseinander gehalten.
Erstere fällt dem Vorstand und dem Ausschuß zu; die Jahresversammlungen sollen dagegen wie früher in erster Reihe von den Geschäftsführern geleitet werden, welche ja auch bei deren Veranstaltung die Hauptmühe und Verantwortlichkeit tragen. Ferner ist ein Teil des Statuteninhalts in einer besondern Geschäftsordnung untergebracht. Für den Bezug der »Verhandlungen« ist in Zukunft von den Mitgliedern ein besonderer Beitrag von 6 Mk. zu entrichten. Die Zulassung von »Teilnehmern« ist der lokalen Geschäftsführung anheimgegeben.
Für die Zeit der Jahresversammlungen ist ein größerer Spielraum als bisher gewährt worden. Dieselbe kann im Juli, August oder September abgehalten werden, muß indes wie gegenwärtig an einem Montag beginnen. Vom Jahre 1893 ab sollen neu eintretende Mitglieder ein Eintrittsgeld von 10 Mk. zahlen. In der dritten Sitzung sprach Ackermann-Halle über Eduard Jenner und die Frage der Immunität. Er schilderte ausführlich Leben und Streben des unsterblichen englischen Arztes, welcher in uneigennützigster Weise mit unablässigem Bemühen aus einigen unscheinbaren, ihm zufällig zu Ohren gekommenen Thatsachen einen der großartigsten und segensreichsten Fortschritte entwickelte.
Die erste Anregung zu seiner Entdeckung empfing Jenner 1768 durch die Angabe einer Bäuerin, welche ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Pocken einem Ausschlag zuschrieb, den sie an der Hand [* 20] infolge Berührung mit Pusteln am Euter einer Kuh erhalten hatte. Diese Thatsache, welcher sich bei näherer Nachforschung noch eine große Anzahl ähnlicher anschloß, beschäftigte Jenner derart, daß ihm seine Kollegen scherzweise drohten, sie würden ihn aus dem ärztlichen Verein ausschließen, wenn er nicht aufhöre, beständig von den Pocken zu reden. 26 Jahre beschäftigte sich Jenner eifrig mit der Angelegenheit, bis er endlich den Versuch wagte, das Kuhpockengift vom Menschen auf den Menschen überzuimpfen. 1798 erschien dann seine Abhandlung über die Kuhpockenimpfung, und schon in den ersten Jahren unsers Jahrhunderts breitete sich diese Impfung [* 21] über große Teile Europas aus.
Bis in die neueste Zeit blieben die Pocken die einzige Krankheit, gegen welche man einen Schutz durch Impfung suchte, gegenwärtig ist es eine ziemlich lange Reihe von ansteckenden Leiden, [* 22] die man mit größerm oder geringerm Erfolg durch Schutzimpfung bekämpft. Es ist dadurch die Frage, worin der Impfschutz besteht, mit großer Lebhaftigkeit zur Erörterung gelangt, sie hat aber eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden. Weder die bakterientötende Kraft [* 23] des Blutserums noch die Ansicht, es trete ein Mangel an Bakteriennahrung oder eine Anhäufung von Bakteriengiften im Blute ein, weder die Phagocytentheorie noch die Annahme, daß nach der Impfung nur die widerstandsfähigen Zellen übrigbleiben, noch irgend eine andre Hypothese liefern einwandsfreie Erklärungen der merkwürdigen Thatsache der Immunisierung, so daß hier noch ein großes Feld der Forschung offen liegt. Den letzten Vortrag hielt Ruß-Berlin über nationalen und internationalen Vogelschutz. Während wir als die bedeutsamsten Ursachen der Verringerung unsrer Vögel [* 24] zunächst die Kulturverhältnisse, die Urbarmachung jeder möglichen Bodenstrecke, das Ausroden von Gebüsch und Hecken, das Niederschlagen aller alten Bäume, Trockenlegung der Sümpfe und Brüche etc. in Betracht zu ziehen haben, wissen wir auch, daß alljährlich zur ¶