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Gesetze des Musikhörers betont, so scheint ein noch nicht beendetes, aber bereits auf zwei stattliche Bände angewachsenes Werk von C. Stumpf (»Tonpsychologie«, 1883-90) berufen, die wissenschaftliche Begründung der Musiktheorie ganz auf das Gebiet der Psychologie hinüberzuspielen und die letzten Widersprüche gegen den harmonischen Dualismus zu beseitigen. Stumpf hat nämlich die einseitige Heranziehung des Phänomens der Obertöne [* 2] zur Begründung der Durkonsonanz aufgegeben und sucht vielmehr in diesem Phänomen nur einen Beleg für eine Form der »Verschmelzbarkeit« verschiedener Töne zur Einheit.
Der Gedanke ist noch nicht völlig abgeklärt, dürfte sich aber in den fernern Bänden des Werkes wohl dahin präzisieren, daß in der Übereinstimmung der Bedingungen für Hervorbringung und Verlauf der Schwingungen der Grund für die Verschmelzung mehrerer Töne zur Einheit eines Klanges liegt, daß aber diese Verschmelzung ebenso die Vielfachen vom Einfachen aus zusammenfassen kann, wie die einfachen Bruchteile vom Ganzen aus. Übrigens sind die beiden ersten Bände des Stumpfschen Werkes durchaus nur Voruntersuchungen über das Verhalten des Tonsinns gegenüber einander folgenden Tönen (1. Bd.) und gegenüber gleichzeitig erklingendenTönen (2. Bd.) ohne Beziehung auf die Theorie der Musik.
Das Helmholtzsche Werk wurde auch nach einer andern Seite hin anregend, nämlich zur Erstrebung einer vollkommenen Darstellung der Reinheit der Intervalle. Bekanntlich ist kein Dur- oder Mollakkord, wie ihn unsre Musikinstrumente hervorbringen, wirklich rein, so daß den akustischen Bestimmungen von 2:3 für die Quinte und 4: 5 für die Terz völlig genügt wäre, sondern alle Werte, mit Ausnahme der Oktave, sind um ein Geringes getrübt, die einfachern weniger, die komplizierten: mehr, durch die sogen. Temperatur, welche an Stelle der geradezu unbegrenzten Zahl möglicher Tonhöhenbestimmungen nur zwölf innerhalb der Oktave setzt, eine Ersetzung, die sich durch die Praxis als dem Ohr [* 3] genügend herausgestellt hat, wenn auch schon mehrfach (bereits im 16. Jahrh.) Versuche gemacht wurden, wenigstens die durch die Obertasten des Klaviers repräsentierten Mitteltöne doppelt zu geben (cis und des unterschieden etc.). Schon die Pythagoreer kannten den Unterschied der zwölften Quinte (f.c.g ... eis) von der Oktave (das pythagoreische Komma); Zarlino brachte dazu die Erkenntnis, daß die Terz nicht identisch ist mit der vierten Quinte, sondern um das sogen. syntonische oder didymische Komma verschieden (von Didymos und Ptolemäos bereits berechnet, doch ohne Erkenntnis der Terz als Grundintervall).
Seither spielten diese Unterscheidungen in den zahlreichen Temperaturberechnungen, besonders des vorigen Jahrhunderts, eine große Rolle, Hauptmann unterschied Quinttöne und Terztöne in seiner Buchstabenbezeichnung der Töne (C G D A E, C e), und Helmholtz und v. Öttingen gingen der Sache ganz auf den Grund und boten Mittel schärfster Unterscheidung aller noch so minimalen Tonhöhendifferenzen in der Buchstabentonschrift. Ein in England weitverzweigter Gesangverein, die Tonic-Solfa Association, pflegt mit Hilfe einer der Rousseau-Natorpschen Zifferschrift oder der alten Solmisation nicht unähnlichen, von J. ^[John] Curwen erfundenen, äußerst einfachen Notenschrift den Gesang nach den Prinzipien der reinen Stimmung, und man hat auch verschiedene größere und kleinere Harmoniums oder Orgeln konstruiert, welche statt der 12 Werte der gleichschwebenden Temperatur deren 36-53 setzen und fast exakte Verhältnisse ergeben. (Vgl. G. Engel, Das mathematische Harmonium, 1881, und H. Riemann, Katechismus der Musikwissenschaft, 1891.) Auch hat der Engländer A. Ellis (»Proceedings Royal Society«, 1864) Zeichen vorgeschlagen, welche die übliche Notenschrift in stand setzen, die Komma-Unterschiede der Tonhöhe auszudrücken.
Diese vervollständigte Shohé Tanaka (»Studien im Gebiet der reinen Stimmung«, in der »Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft«, 1890, auch separat; der junge javanische Gelehrte Tanaka erklärt darin sein nur 20stufiges, aber mit Transponiervorrichtungen versehenes, »Enharmonion« genanntes Harmonium, das der reinen Stimmung gerecht wird, auch enthält die Schrift wertvolle historische Studien). Selbst M. W. Drobisch, früher ein prinzipieller Verfechter der zwölf Werte für die Oktave, sogar als grundlegender, hat 1877 in einem Aufsatz in den Berichten der Königlich [* 4] Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften sich zur Anerkennung der Nichtigkeit des Prinzips der reinen Stimmung verstanden.
Anderseits verficht G. Engel (»Die Bedeutung der Zahlenverhältnisse für die Tonempfindung«, 1892) das schon von Hauptmann behauptete Bedürfnis des Ohres, gewisse Intonationen im Widerspruch gegen die Aufstellungen der Akustik höher oder tiefer zu nehmen (Leittöne, Septimen),
ohne darum die prinzipielle Bedeutung jener anzuzweifeln. Der Versuch von Karl Eltz (»Das mathematisch reine Tonsystem«, 1891), die Ergebnisse der Bestrebungen für Einführung reiner Stimmung der praktischen Musiktheorie einzuverleiben (eine stark an das Volapük gemahnende neue Terminologie), wird schwerlich über die Gelehrtenstuben hinaus ernsthaft genommen werden. Wenn nun wenig Aussicht ist, daß die reine Stimmung jemals die temperierte ganz verdrängen wird, so ist der Grund dafür nicht etwa in dem Antagonismus einer Partei (des Vereins »Chroma«, dessen litterarisch thätigste Mitglieder I. H. Vincent, Melchior Sachs [»Untersuchungen über das Wesen der Tonarten«, 1884], O. Quantz und A. Hahn [* 5] sind oder waren, zu denen in neuester Zeit der Erfinder der chromatischen Terrassenklaviatur Paul v. Janko kommt), welche im Gegenteil auch die letzten Unterscheidungen der enharmonisch (annähernd) identischen Töne (z. B. eis - des) aus der Notenschrift und Theorie entfernen möchten, sondern vielmehr in der glücklichen Eigenschaft unsers Ohres zu suchen, sehr kleine Tonhöhenunterschiede zu ignorieren und temperierte Intervalle und Akkorde für reine hinzunehmen.
Die Verfechter der reinen Stimmung vergessen, daß zwar beim gesonderten Vergleich von Tonhöhendifferenzen das Ohr eine große Schärfe offenbaren kann, daß aber beim Musikhören, das ein Vorstellen ist, ganz andre Gesetze in erster Linie zur Geltung kommen, welche am einfachsten als Ökonomie des Vorstellens bezeichnet werden; das geht so weit, daß der reinen Stimmung zum Trotz das Ohr andre Töne hört als die wirklich hervorgebrachten, wenn solche nicht in den musikalischen Zusammenhang passen. Es stände aber auch schlimm um die Zukunft der Musik, wenn das Ohr nicht geringe Verstimmungen ignorieren könnte; denn bekanntlich ist bei allen Instrumenten mit freier Intonation die thatsächliche, genaue Reinheit ein schöner Traum, dessen Verwirklichung durch unüberwindliche technische Hindernisse unmöglich gemacht wird. II. Kontrapunkt. Über die Kontrapunktlehre können wir uns kurz fassen. Sie ist die älteste Form der Lehre [* 6] des mehrstimmigen Satzes und bildete sich im 14.-16. Jahrh. ¶
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zu höchster Vollkommenheit aus. Die Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Konsonanzen, auf welche die Hausregeln der Kontrapunktlehre basiert sind, entstammt dieser Zeit, was sich deutlich genug darin kennzeichnet, daß man keilt Lehrbuch des Kontrapunktes in die Hand [* 8] nehmen kann, ohne auf Schritt und Tritt lateinischer, mindestens italienischer Terminologie zu begegnen. Den Cantus firmus könnte man sich gefallen lassen, aber wozu der Motus rectus, obliquus und contrarius, der Contrapunctus aequalis, diminutus, ligatus und floridus und bei der Imitationslehre die proposta, und risposta und der ganze übrige veraltete Jargon gut sind, ist doch schlechterdings nicht einzusehen. Heinrich Bellermanns »Kontrapunkt« (1801, 2. Aufl. 1877) sieht viel eher wie ein Stück mittelalterlicher Musikgeschichte aus als wie ein Handbuch für einen Zweig des heutigen Kompositionsunterrichts. S. W. Dehns Manier war es auch, Theorie vorzutragen im Gewand der Musikgeschichte und mit großem Citatenapparat; es ist daher dankbar anzuerkennen, daß der Herausgeber der Dehnschen »Lehre vom Kontrapunkt, dem Kanon und der Fuge« (1859, 2. Aufl. 1883), Bernhard Scholz, mit solchem gelehrt aussehenden Putze sparsam gewesen ist und ohne Zweifel das Dehnsche Manuskript wesentlich vereinfacht hat.
Auch am innern Ausbau der Lehre hat Scholz mancherlei modernisiert, besonders in der zweiten Auflage, ohne jedoch das herkömmliche Schema anzutasten. Während Bellermann sklavisch die alte Fassung der Lehre festhält, selbst die mittelalterlichen Kirchentöne für unentbehrlich zur Gewinnung wirklicher kontrapunktischen Routine ausgibt, unterscheidet Scholz einen strengen (für den Vokalstil vorbildenden) und freien Kontrapunkt und sieht von den Kirchentönen überhaupt ganz ab. Auch fühlt man überall aus Scholz’ Buch das abgeklärte moderne Harmoniesystem heraus, während Bellermanns Werk kaum etwas andres ist als eine Neuherausgabe des »Gradus ad Parnassum« von J. J. ^[Johann Joseph] Fux (1723; deutsch von Mitzler, 1742), der selbst schon in der Zeit seines Erscheinens ein veraltetes Buch war, was nicht verhinderte, das; er allgemeine Verbreitung fand und verschiedentlich in fremde Sprachen übersetzt wurde.
Der Kontrapunkt war eben (und ist noch heute halb und halb) die Hochschule musikalischer Gelehrsamkeit, und man that sich ordentlich etwas darauf zu gute, daß er nicht leicht zu verstehen sei. Es bedarf wohl keiner Worte, daß nur die Lehre ihn schwerverständlich machte, daß seine Erlernung aber nicht von der Lehre, sondern von guter Überwachung der praktischen Übungen abhing und abhängt. Die Lehre des doppelten Kontrapunktes war noch viel überladener als die des einfachen, und gar in der Lehre vom Kanon traten dem Schüler! wahre Schreckgespenster mit fremdsprachigen Namen und rätselhaften Inschriften entgegen, die sich bei näherer Bekanntschaft als harmlose Kunststückchen herausstellten, wie ihrer mit fortschreitender Routine jeder neue Adept selbst neue hinzu erfinden konnte.
Erst in der Fugenlehre verschwand der Spuk, um verständigen Anweisungen über eine kunstgerechte Gestaltung Platz zu machen. Es sei uns fern, an der Bedeutung der kontrapunktischen Übungen zu zweifeln. Das Erfinden natürlich fließender Gegenstimmen überhaupt und in zweiter Linie auch solcher, welche ohne Fehler ihre Stellung zur Hauptstimme (in Bezug aus oben und unten) wechseln können, ist dem Komponisten gewiß nötig, wenn auch nicht so unentbehrlich wie das freie Erfinden selbständiger Melodien; daß man dieses über jenes und die Harmonielehre vergißt, ist und bleibt unverantwortlich. Frei von gelehrtem Wesen, aber befangen im alten Schema (doch ohne die Kirchentöne) ist E. F. Richters »Lehrbuch des einfachen und doppelten Kontrapunkts« (1872, 3. Aufl. 1879) sowie das ganz in dessen Fußstapfen tretende »Lehrbuch des einfachen, doppelten, drei- und vierfachen Kontrapunkts« von S. Jadassohn (1884). Auch L. Bußlers Kontrapunktlehre (»Der strenge Satz«, 1877)klammert sich zu sehr an die Tradition an und vermag von den neuen Fortschritten in der Erkenntnis der Gesetze der Tonverbindungen nicht genug Nutzen zu ziehen; er steht mit der überlieferten Intervallentheorie und der Zugrundelegung der Kirchentonarten für die Studien im »strengen« Satz neben Bellermann, was um so auffälliger ist, als seine »Praktische Harmonielehre« (1875) das Verbot verdeckter Oktaven und Quinten für ein Hirngespinst der Theoretiker erklärt.
Otto Tiersch (»Kurzes praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung«, 1879) sucht die Ansicht Dehns und Richters, daß der Kontrapunkt aus der Harmonielehre herauszuwachsen habe, in umfassenderer Weise zu bethätigen als die genannten ältern Lehrer und überträgt die Grundsätze seines Systems der Harmonielehre auf den Kontrapunkt. Er stellt dabei eine sehr große Zahl von Regeln auf, deren Berechtigung jedoch nur zum Teil anerkannt werden kann. Einen ähnlichen Versuch machte H. Riemann mit seiner Neuen Schule der Melodik« (1883), die zwar als Entwurf einer Lehre des Kontrapunkts bezeichnet ist, indes für den freien eigentlichen Kontrapunkt (ohne gegebene Harmonie) nur wenige allgemeine Anweisungen enthält und den doppelten Kontrapunkt, Kanon und Fuge gar nicht in ihren Bereich zieht, sondern doch eigentlich nur ein Lehrbuch der Figuration und harmonischen Analyse ist, d. h. zum Verständnis auch der kompliziertesten Auflösungen der Harmonie in Melodiebewegung befähigt unter besonderer Berücksichtigung der Schreibweise I. S. Bachs.
Riemann brachte daher hiernach noch ein besonderes »Lehrbuch des einfachen, doppelten und imitierenden Kontrapunkts« (1888). Die Fugenlehre hat seit F. Moritz Hauptmanns »Erläuterungen zu J. S. Bachs Kunst der Fuge« und desselben Aufsatz Über die Beantwortung des Fugenthemas" nur wenig Bereicherung erfahren. Zu erwähnen sind nur Debrois von Bruycks »Technische und ästhetische Analysen des wohltemperierten Klaviers« (1867),
die 1889 eine neue Auflage erlebten, Jadassohns »Lehre vom Kanon und der Fuge (1884),
desselben »Erläuterungen zur ausgewählten Fuge aus dem wohltemperierten Klavier und Riemanns "Katechismus der Fugenkomposition" (1890). III. Kompositionslehre. Es fehlte vor Marx keineswegs an Werken, welche den Anspruch machten, vollständige Lehrbücher der Tonsetzkunst zu sein; doch beschränkten sich dieselben fast ausnahmslos auf die Abhandlung der Harmonielehre und allenfalls des Kontrapunktes. Reicha hatte zwar der Melodie ein besonderes Buch gewidmet (»Traité de mélodie«) 1814),
war aber damit hinter ältern Behandlungen derselben Materie zurückgeblieben (Matthesons Kern melodischer Wissenschaft, 1737; Riedels »Anfangsgründe zur musikalischen Setzkunst«, 1752; Marpurgs »Anleitung zur Singkompositon«, 1758); ein Werk aber, dessen zweiter und dritter Band [* 9] noch heute einer Neuherausgabe würdig wären, weil thatsächlich bis heute nichts gleich Eingehendes und gleich feinsinnig musikalisch Durchgeführtes über die Grundlage der ¶