mehr
Mit rühmlicher Offenheit erkennt die Denkschrift des preußischen Handelsministeriums trotz aller unleugbaren Fortschritte an, daß die allmähliche Entwickelung des gewerblichen Fachschulwesens in Preußen [* 2] sehr langsam vor sich gegangen ist, und daß das Erreichte nicht im Verhältnis zur Ausdehnung [* 3] und Bedeutung des Gewerbfleißes selbst und ebensowenig zu den Schwierigkeiten steht, die manchen Gewerbe zweigen aus dem Wettbewerbe des Auslandes und den veränderten Arbeitsbedingungen der Gegenwart erwachsen.
»Die Steigerung der Arbeitslöhne, die allgemeine Erhöhung der Herstellungskosten durch die sozialpolitische Gesetzgebung der letzten Jahre, die mit der Änderung der Zollgesetzgebung des Inlandes und des Auslandes für einzelne Industriezweige verbundene Erschwerung der Fabrikation oder des Absatzes nötigen die Gewerbtreibenden, auf Verbesserungen in der Fabrikation bedacht zu sein. Jeder, der Großindustrielle wie der Arbeiter, muß suchen, durch Erhöhung des eignen Könnens leistungsfähiger zu werden, Verluste an Zeit und Geld zu vermeiden, um unter Umständen die kostspielige Hilfe andrer entbehren zu können. Auf der andern Seite bietet die allgemeine Zunahme des Wohlstandes manchem die früher fehlende Gelegenheit, größeres Arbeitsgeschick, größere Kunstfertigkeit und geläuterten Geschmack zu verwerten. Neue Gewerbszweige entstehen, wie die Elektrotechnik, denen es an geschultem Personal fehlt; in andern lichtet sich der in die Fabriken als Werkmeister übernommene Stamm ehemaliger Handwerksmeister oder reicht nicht aus für das wachsende Bedürfnis; dort fehlt es an Zeichnern und Hilfstonstrukteuren, überall an tüchtigen Baugewerksmeistern, um das Bedürfnis nach soliderer, geschmackvollerer und zweckmäßigerer Herstellung der öffentlichen Bauten, der Wohn- und Fabrikgebäude zu befriedigen.«
Aber so anerkannt das
Bedürfnis besserer Vorbildung der gewerblichen
Kräfte, so schwierig ist anderseits die rasche und
stets richtige Befriedigung. Zwar zeigen einzelne
Beispiele, wie die Korbflechtschulen, die Möglichkeit, daß durch Anlegung
von Fachschulen
bessere Verwertung inländischer Rohmaterialien oder Gewinnung besserer Materialien, mithin nützlichere
Verwertung von
Grund und
Boden wie von ländlichen Arbeitskräften angeregt werden kann. Allein im allgemeinen müssen die
Behörden sich darauf beschränken, die Bedürfnisse vorhandener Gewerbszweige sorgsam zu beobachten
und ihnen durch
Gründung von Fachschulen
abzuhelfen.
Diese Bedürfnisse befinden sich aber in einem beständigen, manchmal raschen und überraschenden Wechsel. »An einigen Orten wird ein wichtiger und blühender Gewerbszweig durch die Fortschritte des Maschinenwesens bedroht. So treten in der Weberei [* 4] die mechanischen Stühle an die Stelle der Handstühle, und in der Kleineisen- und Stahlindustrie wird Handarbeit durch das Gießen [* 5] und die Schläge der Maschine [* 6] ersetzt. Die Mode wendet sich von einem Fabrikat ab, sie zieht die Wolle der Seide [* 7] vor, sie will von Samt nichts wissen, sie verwirft die glatten Tuche und will nur gemusterte Zeuge. In solchen Fällen kann von der Verbesserung des bisherigen Betriebes oder vom Übergange zu einer andern Industrie die Erhaltung einer bedeutenden Produktion oder die wirtschaftliche Existenz vieler Tausende abhängen und hierauf die rasche Einrichtung eines guten Unterrichts von wesentlichem Einflüsse sein.« Aus dieser Betrachtung ergibt sich die Unmöglichkeit, mit Sicherheit auf Jahre hinaus Pläne für den Ausbau des gewerblichen
Fachschulwesens zu bilden. Nur einige
Arten von Fachschulen
dürfen in dieser Hinsicht ausgenommen werden, da die
Gewerbe, für die
sie arbeiten, größere
Stetigkeit sowohl in ihrer Verbreitung als in ihrer innern
Entwickelung zeigen. Dies gilt namentlich
von den
Baugewerkschulen, von den
Kunstgewerbe- und gewerblichen Zeichenschulen, auch Handwerkerschulen
genannt, und den
Schulen für
Maschinenbauer. Ein kurzer Überblick sei diesen
Arten von Anstalten denn noch gewidmet.
Die Baugewerkschulen haben in ihrer gegenwärtigen Gestalt vier halbjährige Klassen, die ein Schüler hintereinander oder mit Übergehung der Sommer, wo dann praktisch gearbeitet wird, in vier Wintern durchlaufen kann. Wie sehr sie einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkommen, ohne ihm im bisherigen Umfange auch nur entfernt zu genügen, lehrt die Thatsache, daß im Winter 1890/91 die damals vorhandenen neun Anstalten (ohne Posen) [* 8] in überfüllten Klassen 1825 Schüler zählten und 870 Bewerber wegen Platzmangels hatten abweisen müssen, während z. B. die herzoglich braunschweigische Baugewerkschule zu Holzminden in jenem Winter allein über 1000 meist preußische Schüler zählte. Es ist daher neben Erweiterung mehrerer vorhandener die Begründung neuer Baugewerkschulen in Königsberg [* 9] i. Pr., Köln [* 10] a. Nh., Kottbus und in einer noch nicht genannten schlesischen Stadt geplant.
Reges Leben herrscht in einer Anzahl der größern Städte auf dem Gebiete des kunstgewerblichen Schulwesens. Namentlich ist die Handwerkerschule zu Berlin [* 11] von bedeutendem Einfluß auf die Hebung [* 12] des gewerblichen Unterrichts nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in vielen andern Städten gewesen. Unter Leitung des von Hamburg [* 13] herüberberufenen Direktors Jessen hat die Anstalt es in 10 Jahren bis zu dem Umfange von (Winter 1890/91) 127 einzelnen Kursen mit 2204 Schülern gebracht, von denen 161 den Tages-, 2043 den Abend- und Sonntagsunterricht besuchten.
In den übrigen derartigen Schulen (abgesehen von den dem Kultusministerium verbliebenen Kunstgewerbeschulen des Berliner [* 14] Gewerbemuseums und zu Breslau) [* 15] besuchten gleichzeitig 664 Schüler den Tages-, 4888 den Adend- und Sonntagsunterricht. Berlin kamen am nächsten die Anstalten zu Hannover [* 16] mit 1412 (140 und 1272) und Magdeburg [* 17] mit 1093 (38 und 1055) Schülern. Die Gesamtzahl in der Monarchie beträgt demnach 7756 Zöglinge, davon 825 Tages- und 6931 Abend- und Sonntagsschüler.
Daß diese Zahl noch erheblicher Steigerung fähig ist, liegt auf der Hand. [* 18] Wünschenswert erscheint dem Handelsministerium, gewerbliche Zeichen-, Kunstgewerbe- oder Handwerkerschulen mindestens in allen Städten von 33,000 Einw. und darüber einzurichten. Doch rechnet man für die nächsten 6 Jahre auf nicht mehr als 18 neue derartige Anstalten neben gehörigem Ausbau der vorhandenen. Der Aufschwung des kunstgewerblichen Unterrichts ist besonders den gewerblichen Ausstellungen seit Mitte des Jahrhunderts zu danken.
Sie vor allem zeigten, »daß durch schöne und sorgfältige Ausstattung der Wohnungen und entsprechende Ausführung der zum allgemeinen Gebrauche bestimmten Gegenstände deren Wert bedeutend gesteigert, ihr Absatz gleichwohl erleichtert und auf diesem Wege die menschliche Arbeit besser verwertet werden könne«. Frankreich war in dieser Hinsicht allen Ländern voraus. Ihm nach begann man zuerst in England, dann in Österreich [* 19] und im südlichen Deutschland [* 20] (Württemberg, [* 21] Baden, [* 22] Bayern) [* 23] und in Hamburg, zuletzt ¶
mehr
in Preußen kunstgewerbliche Unterrichtsanstalten, Zeichen- und Modellierschulen zu errichten. Der Erfolg ist nicht ausgeblieben; aber freilich ist der Vorsprung, den eine so wohlhabende und kunstsinnige Nation wie die französische einmal gewonnen hat, nicht so rasch einzuholen. Neben der Ausbreitung des kunstgewerblichen Unterrichts ist auch dessen richtige Methode eine wichtige und schwierige Frage, der die Leitung des Fachschulwesens unausgesetzte Aufmerksamkeit widmet.
Besonders bedeutsam ist in dieser Hinsicht die richtige Verbindung praktischer Arbeit mit theoretischem Unterricht, der zuliebe
man an verschiedenen Orten sogen. Lehrwerkstätten eingerichtet hat. »Die Verbindung des praktischen Unterrichts mit dem Zeichnen
und Modellieren an kunstgewerblichen Schulen, in den Klassen für Ziseleure und Bijouteriearbeiter in Hanau
[* 25] und in den Klassen der Dekorationsmaler gewährt den Vorteil, daß Lehrer und Schüler veranlaßt werden, bei den schulmäßigen
Übungen und bei ihren Entwürfen die Grenzen
[* 26] innezuhalten, welche die Natur des Stoffes und der Kostenpunkt ihnen zieht, und
anderseits auch die Vorteile, welche Technik und Material bieten, auszunutzen. Das Bestreben muß zugleich
darauf gerichtet sein, den Betrieb der Lehrwerkstätte dem handwerklichen so ähnlich wie möglich zu gestalten und in den
Schülern hier wie bei dem Unterricht im Zeichnen und in der Theorie Überhebung und falschen Künstlerstolz nicht aufkommen
zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß die Arbeiten der Lehrwerkstätten, soweit dergleichen überhaupt
verkaufbar hergestellt werden, auch auf den Markt gebracht werden müssen, weil sonst der Zweck, daß die Schüler für den
Markt arbeiten lernen sollen, vereitelt, ihr Interesse an der Arbeit verringert und der Aufwand, den der Unterricht verursacht,
erheblich gesteigert werden würde. Durch den Verkauf der Fachschularbeiten sind die Ansprüche, die
das Publikum an Schönheit und Güte der Arbeiten stellt, schon mehrfach in erfreulicher Weise allgemein gesteigert worden. Dadurch
ist den Gewerbteibenden bewiesen worden, daß auch schönere und sorgfältigere Arbeiten verkäuflich sind. Die Preise der
Schularbeiten müssen den allgemeinen entsprechen, um nicht begründete Klagen der Gewerbtreibenden des
Faches über die Konkurrenz der Fachschulen
hervorzurufen, und die bei ihrer Herstellung beschäftigten Schüler müssen so
weit bezahlt werden, wie dies ihren Leistungen entspricht. Es versteht sich von selbst, daß in einer Lehrwerkstätte nicht
ausschließlich Anfänger, sondern auch ausgebildete Gehilfen so weit beschäftigt werden müssen, wie
dies nötig ist, um an den zum Verkauf bestimmten Gegenständen Arbeiten ausführen zu können, für die das Können der Schüler
nicht ausreicht, oder soweit der Lehrer deren als Werkmeister bei Ausbildung der Schüler bedarf.« Bei aller Wertschätzung
dieses vereinten theoretisch-praktischen Unterrichts gibt jedoch das Handelsministerium sich nicht der Täuschung hin,
daß, wie zuweilen gefordert, die Lehrwerkstätte der Fachschulen
heute an Stelle der Lehre
[* 27] in der Einzelwerkstatt eines Meisters
allgemein treten könnte.
An Maschinen- und metalltechnischen Fachschulen
sind oben sechs gerechnet worden, von denen aber eine (Magdeburg) erst im letzten
Jahr ins Leben getreten ist. Die fünf im Winter 1890/91 schon bestehenden derartigen Anstalten zählten
damals 312 Schüler (263 Tages-, 49 Abendschüler). Alle diese Anstalten sind sogen. Werkmeisterschulen, die der Ausbildung mederer
Fabriktechniker und Vorarbeiter
dienen. Gerade auf diesem Gebiete aber liegt das anerkannte Bedürfnis vor, auch mittlere technische Beamte gehörig schulmäßig vorzubilden. Die für diesen Zweck vorhandenen sogen. Fachklassen sind, wie oben bemerkt, einigen höhern Lehranstalten als Aufsatz auf den sechsklassigen, bis zur Untersekunda einschließlich und zum Recht auf den Einjährig-Freiwilligendienst führenden Unterbau eingefügt und daher mit den Hauptanstalten unterm Unterrichtsministerium geblieben.
Diese Anstalten sind die Oberrealschule zu Gleiwitz [* 28] mit Fachklassen für Maschinentechniker und Hüttenleute (1890: 21 Schüler);
Oberrealschule zu Breslau mit Fachklassen für Maschinenbauer und Chemiker (1891: 42 und 20 Schüler);
höhere Bürgerschule (Gewerbeschule) zu Barmen [* 29] mit Fachklasse für Maschinenbauer (1890: 26 Schüler);
höhere Bürgerschule (Realschule) zu Aachen [* 30] mit Fachklasse für Maschinenbauer (1891: 9 Schüler);
höhere Bürgerschule (Gewerbeschule) zu Hagen [* 31] mit Fachklasse für Maschinenbauer (1891: 80 Schüler).
Im ganzen kann man demnach auf diese Klassen 150-180 Schüler rechnen, eine Zahl, die angesichts des Bedürfnisses nicht bloß vermehrt, sondern vervielfacht werden möchte. Indes ist hierin nicht bloß die Verschiedenheit der leitenden Ministerien, sondern auch das Schwanken der Ansichten im Kreise [* 32] der Interessenten, der deutschen Ingenieure, bisher hinderlich gewesen. Zwar hat die im August 1889 in Karlsruhe [* 33] abgehaltene Hauptversammlung des Vereins der deutschen Ingenieure eine Vorlage ihrer Schulkommission angenommen, welche einige feste Gesichtspunkte für die künftige Einrichtung der technischen Mittelschulen aufstellt. Es sind die folgenden: »1) Die technische Mittelschule hat die Aufgabe, Leiter und Beamte technischer Betriebe sowie Hilfskräfte für Konstruktionsbüreaus auszubilden. 2) Sie ist als selbständige Lehranstalt vom Staate zu errichten und zu leiten. 3) Der Unterricht erstreckt sich im wesentlichen auf das Gebiet der Maschinentechnik. 4) Für die Aufnahme sind nachzuweisen: a) die wissenschaftliche Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst, b) eine praktische Thätigkeit von zweijähriger Dauer. 5) Die Schulzeit umfaßt 2 Jahre in zwei Lehrkursen von einjähriger Dauer; die grundlegenden Wissenschaften, Mathematik 2c., sind als Lehrgegenstand im ersten Jahr zu erledigen.« Aber diese Beschlüsse haben nicht überall einmütigen Beifall in den Einzelvereinen gefunden, begegnen außerdem auch im Handelsministerium unerledigten Bedenken, z. B. hinsichtlich der als Bedingung des Eintritts geforderten zweijährigen Praxis. Der Handelsminister hat sich daher einstweilen begnügt, im Verband [* 34] mit der maschinentechnischen Werkmeisterschule zu Dortmund [* 35] probeweise eine Mittelschule nach dem Programm des Vereins zu errichten.
Als Gesamtzahl aller in den Fachschulendes
Handelsministeriums unterrichteten Schüler ergibt die der Denkschrift beigefügte
Übersicht 10,088, darunter 3290 Tagesschüler, 6798 Abend- und Sonntagsschüler. Daß das für diesen
Zweig des Staatslebens in der großen preußischen Monarchie verantwortliche Ministerium damit sich nicht begnügen will und
kann, ist ohne weiteres klar. Das Mißverhältnis dieser Zahlen zu der Bevölkerungsziffer würde noch greller hervortreten,
wenn nicht in der Denkschrift jede vergleichende Heranziehung statistischer Angaben aus dem Auslande wie aus den
außerpreußischen Reichsstaaten vermieden worden wäre.
Wenn die Denkschrift zum Schlusse noch die Summen nennt, die im Laufe der nächsten 6 Jahre ¶