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litterarisches Talent an das Bühnendrama. Henry Arthur Jones indessen (s. d.), dessen »Middleman«, seither unter dem Titel: »Arbeit« auch auf der deutschen Bühne beifällig aufgenommen, und »Judah« wir im vorigen Jahr zu verzeichnen hatten, und dessen »Dancing Girl« im laufenden einen großen Erfolg hatte, nimmt nun eine entschiedene Stellung ein. Er veröffentlicht seine dramatischen Werke, deren erster Band: [* 2] »Saints and Sinners«, mit einer orientierenden Einleitung kürzlich erschien, und er hat selbst die Leitung einer Bühne übernommen, die er mit seinem neuesten Stück: »The Crusaders«, eröffnete.
Pinero, ein andrer Versorger der Bühne, tritt ebenfalls vor die Lesewelt, und die Hoffnung, daß nunmehr die englische Bühne nicht bloß durch die Ausstattung, sondern auch durch den Wert des Ausgestatteten sich wieder auf eine höhere Stufe erheben möge, scheint nicht unberechtigt. Die neuerdings allgemein verbreitete Freude am Liebhabertheater, von dem aus manche tüchtige Kräfte zur öffentlichen Bühne übergehen, mag dazu mithelfen. Die Verehrer Ibsens haben ihre Versuche wiederholt, ihn beim englischen Publikum beliebt zu machen; es ist ihnen nur bei den Kritikern gelungen, und auch bei diesen nur zum Teil.
Allerdings hatte »Hedda Gabler« einen unbestreitbaren Augenblickserfolg, der dem Ungeheuerlichen des Titelcharakters, vielleicht aber noch mehr zwei besonders anziehenden amerikanischen Schauspielerinnen zuzuschreiben sein dürfte. Noch rascher vorübergehend war der Erfolg der »Lady from the Sea« in Frau Eleanor Marx-Avelings lebendiger Übersetzung. Die Gesamtausgabe der Werke Ibsens ist mit Archers »Rosmersholm« nun beendigt. Ein neues Independent Theatre gab »Ghosts« (»Gespenster«) unter großem Widerspruch. Dieselben Leute haben seither noch Zolas »Thérèse Raquin« gegeben.
Roman.
Der junge hochbegabte Schriftsteller, den wir in unsrer vorjährigen Jahresübersicht bei unsern Lesern einzuführen hatten, Rudyard Kipling (s. Bd. 18, S.477 u. 244), ist rasch in die erste Reihe der Prosadichter eingerückt. Nur in kleinern, bisweilen halbdramatischen, im höchsten Grad anziehenden Bildern aus dem indischen Leben, dem der Eingebornen wie der Anglo-Indier, hatte er sich damals versucht. Voll von Humor, bald lustig, bald schneidend tragisch, immer von erstaunlicher Einsicht und von gesundem Wirklichkeitssinn durchdrungen, der oft schreiende Gegensätze findet, aber nie den Schmutz sucht und mit poetischer Begabung und anschaulicher Landschaftsmalerei sehr verträglich ist, hat er uns tiefe, oft rührende, oft erschreckende Blicke in das Leben, namentlich des nördlichen Indien, thun lassen.
Nun hat er plötzlich dies Feld verlassen, sich nach Europa [* 3] gewendet und in seiner bisher längsten Erzählung: »The light that failed«, die Geschichte eines Malers erzählt, der allmählich erblindet. Das Buch hat nicht geringes Erstaunen erweckt, da man sah, wie der junge Mann, der in die tiefsten Falten des indischen Lebens eingedrungen, nun ganz unerwartet auch die europäische Künstlerwelt mit fast verblüffender Naturwahrheit zu schildern verstanden hat. Dabei mag nicht unerwähnt bleiben, wie er sich selbst zuerst nicht genug gethan: er hatte (vielleicht unter äußerm Druck) dem Buch einen versöhnlichen Abschluß gegeben;
in der rasch erfolgten zweiten Ausgabe schließt es mit grellem Mißton.
Seither ist er, abgesehen von allerlei kleinern Beiträgen in Prosa und Versen zu Zeitschriften, auf sein ursprüngliches Feld zurückgekehrt mit dem Buch: »Life's Handicap: being stories of mine own people«. Die Erzählungen sind von verschiedenem Wert, einige von hohem Pathos. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieselben, soweit es sich um die Anglo-Indier handelt, ein Gefühl tiefen Unbefriedigtseins mit dem Leben, Herrschen und Schaffen in dem fremden Lande, das ihnen niemals zur Heimat wird.
Keineswegs nur mit den Höherstehenden beschäftigt er sich; er ist in die niedrigern Klassen eingedrungen; seine Soldaten, Pferdehändler, Gaukler sind höchst lebensvoll gemalt. Und so sagt er auch: »Gott sei gepriesen - was immer später sein wird - ich habe mit Menschen gelebt, mit Menschen mich abgemüht.« Wenn die Verleger und Herausgeber von Zeitungen nicht den jungen Mann zu allzu raschem Schaffen antreiben, so dürfte Rudyard Kipling in der englischen Litteratur die hohe Stellung behaupten, die sein Genie so rasch ihm errungen.
Hier sei gleich in Bezug auf Indien ein Buch angeführt, dem litterarisch ein weniger hoher Wert zukommt, das aber lebhafte Erinnerungen an eine ereignisschwere Zeit weckt: »Eight Days« von R. Englische [* 4] Forrest, eine Geschichte des Ausbruches des Aufstandes von 1857 in Romanform. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist, daß der Schluß des Buches, das zuerst in Lieferungen erschien, mit den neuern tragischen Ereignissen in Manipur zusammenfiel: dort wie hier wurde ein Mr. Melville ermordet.
Die längst anerkannten Meister des englischen Romans waren nicht unthätig. William Black gab uns »Donald Ross of Heimra«, eine schottische Bauerngeschichte aus dem Hochland;
Walter Besant »Armorel of Lyonesse«;
Thomas
Hardy »A group
of noble dames«, ein Novellenkranz, in dem die
Damen nicht allzu engherzig
sind, und der nicht für die höhere Tochter bestimmt
ist;
George Meredith, ein gedankenreicher Schriftsteller, der viele Anhänger hat, andre aber durch einen etwas schwierigen Stil abstößt, »One of our conquerors«.
Ryder Haggard, der seine Stoffe bisher in Afrika [* 5] und der Südsee gesucht, hat sich diesmal nach Island [* 6] gewandt und mit »Eric Brighteyes«, welches einigermaßen an Felix Dahn erinnert, abermals einen großen Erfolg bei denen errungen, welche reiche Phantasie und Fülle der Farben im Verein mit gutem Stil der Photographie des Alltäglichen, der peinlichen Analyse der Charaktere oder der pessimistischen Lebensanschauung vorziehen. Der hochbegabte Robert Louis Stevenson, der dem nordischen Nebel entflohen, sich unter der Sonne [* 7] Samoas eine neue Heimat gegründet und die verlorne Gesundheit wiedergefunden, sendet uns »The wreckers, a story of the Southern Seas«.
Marion Crawford hatte in der Beendigung der im vorigen Jahr begonnenen »Witch of Prague« sich in Hypnotismus und Phantasterei verloren und zum erstenmal seine Leser enttäuscht. Aber mit »Khaled, a tale of Arabia« ist er auf die hohe Stellung zurückgekehrt, in der er seit Jahren ein Liebling des denkenden Publikums geworden. Khaled ist eine Variante der Undine-Sage von dem Entstehen der Seele durch die Gewalt der Liebe; aber hier ist es ein männliches Wesen, an dem das Wunder sich vollzieht, und zwar nicht durch das Bewußtsein des Liebens, sondern des Geliebtwerdens. Das Neueste von Crawford ist »Three Fates«, noch unvollendet. Hall [* 8] Caine (s. d.) gibt aus Marokko [* 9] das kräftige und ergreifende Buch: »The scape-goat«.
Was die dii minores unter den Romanschriftstellern anbetrifft, so bietet sich uns auch hier manches Lesbare dar. W. Englische Norris, unter dessen ¶
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zahlreichen frühern Werken »The Rogue« besonders bemerkt wird, ist auf seiner novellistischen Laufbahn zu einer höhern Stufe aufgestiegen. Wir haben zwei neuere Bücher von ihm zu verzeichnen: »Jack's father, and other stories« und »Marcia«. George MacDonald fährt fort, Moralpredigt mit Liebesgeschichte zu verbinden; diesmal heißt es »There and Back«; ohne Verdienst sind seine offenbar für die »reife weibliche Jugend« berechneten Sachen nicht. Den Leser zu spannen weiß G. A. Henty, ein gewandter alter Kriegskorrespondent, in »A hidden foe«; es handelt sich darum, Beweise für eine angezweifelte Heirat zu finden, man muß deshalb nach Australien [* 11] reisen, und nun hat man Abenteuer, Liebe und heroische Handlungen in Hülle und Fülle; analysiert wird dabei nicht, es geht alles Schlag auf Schlag.
Aus Australien selbst kommt zu uns »A Sydney-side Saxon« von dem noch Pseudonymen Ralf Boldrewood, den wir schon im Vorjahr als Apostel neuentstandener Litteratur des jüngsten Weltteils zu verzeichnen hatten; er arbeitet ein wenig rasch, und seine Lebensanschauung ist durchweg optimistisch, wie es sich wohl für jene aufblühende Welt schicken mag. Persönliche Erlebnisse aus der wilden Ferne verwertet auch Arthur Paterson, den wir ebenfalls im vorigen Jahr zuerst erwähnten. Er bringt dieses Jahr »A Partner from the West« und »The daughter of the Nez Percés«, mit welchen Rothäuten der Verfasser viel verkehrte. In »The Philadelphian« von dem Parlamentsmitglied Louis Jennings spielt sich die aufgeregte Zeit vor und kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg ab; zwei Helden hat das Buch, und sie gehören den beiden feindlichen Lagern an; die Situation gibt dem geschickten Verfasser Gelegenheit zu feiner Charakterzeichnung, und der Schrecken jener Tage ist mit kräftigen Zügen gezeichnet. Ein kaum je berührtes, vielleicht seit Victor Hugos »Bug Jargal« nicht mehr angebautes Feld betritt der auch sonst günstig bekannte Manville Fenn mit »Mahme Nousie«, in welchem das Leben der frei gewordenen Neger und Mulatten von Haiti geschildert wird, mit interessanten Seitenblicken auf den Wududienst, den alten Schlangenkultus, der neben dem von außen aufgenommenen Christentum üppig fortwuchert.
In die englische Heimat kehren wir mit »The trial of Parson Finch« zurück. Der Verfasser, Somerville Gibney, ein neuer Schriftsteller, bewegt sich in einer längst vergangenen Atmosphäre; er erinnert uns durchaus an den »Landprediger von Wakefield«, und es liegt in der altfränkischen Weise etwas Anheimelndes, während die Geschichte uns in durchaus anziehender Weise erzählt wird, in gesundem Sinn für gesunde Leser. Vielleicht stellen wir am besten hier gleich und ohne Kommentar dem Buch das neueste der Frau Braddon gegenüber: »Gerard, or the World, the Flesh and the Devil«.
Der geistliche Herr Baring-Gould fügt seinen zahlreichen frühern Arbeiten »Urith« bei. Er weiß die Kost, die er seinen Lesern vorsetzt, immer schmackhaft zu machen; diesmal haben wir es mit einer originellen Frauennatur zu thun, die einen deutschen Leser an die »Geier-Wally« erinnern mag. Die wildschöne Gegend von Dartmoor, das wüste Treiben des dortigen Landadels vor 200 Jahren, der politische Zwiespalt, der lebendige Aberglaube der Bevölkerung [* 12] jener abgelegenen Gegend bilden für die Geschichte einen eindrucksvollen Hintergrund.
Frau Humphry Ward hat ihrem freireligiösen Roman »Robert Elsmere« ein ähnliches Buch: »The history of David Grieve«, folgen lassen, auch eine Gesellschaft zur Verbreitung ihrer Ansichten gestiftet. Eine Dame, deren Name auf anderm Feld viel genannt worden, Lady Colin Campbell, die Schwiegertochter des Herzogs von Argyll, die selbst viel erlebt, tritt nun auch in die Litteratur ein mit dem ziemlich günstig aufgenommenen Roman: »Darell Blake«. Ein andrer Neuling ist Frau F. H. Williamson mit »A Child Widow«.
Fergus Hume, ein Australier, dessen »Mystery of a Hansom cab« vor einigen Jahren auf der Bühne einen großen Sensationsspektakel verursachte, hat sich mit »Whom God has joined, or a question of marriage« auf einen höhern Standpunkt geschwungen, und es darf von seinem unzweifelhaften Talent noch mehr erwartet werden. James M. Barrie (s. d.),
bisher nur durch kurze humorvolle Schilderungen aus seiner schottischen Heimat bekannt, tritt mit »The little Minister« auf den Plan des dreibändigen Romans. J. H. Shorthouse, dessen »John Inglesant« vor einigen Jahren einen großen Erfolg errungen, brachte »A teacher of violin, and other stories« und »Blanche Lady Falaise«. Die Enkelin eines großen Schriftstellers, Fräulein Mary Angela Dickens, hat mit »Cross currents« freundliche Aufnahme gefunden.
Die in Frankreich so häufige Autorengemeinschaft findet sich seit einigen Jahren bisweilen auch im englischen Roman. Wir nennen zwei so entstandene Bücher. »He fell among thieves« von Christie Murray und Henry Herman, von denen der erstere durch selbständige Werke längst bekannt ist, erzählt uns, dramatisch bewegt und mit vielem Humor, eine Gaunergeschichte. In »My face is my fortune« (der Titel ist ein Vers aus einem artigen englischen Volkslied) von F. C. Philips und Percy Fendal wird mit vielem realistischen Beiwerk die Geschichte eines hübschen Mädchens erzählt. Als wir zuerst ihre Bekanntschaft machen, singt und tanzt sie um das tägliche Brot [* 13] in der Bude des Concert algérien, dann wird sie eine Lady, hat zwei Ehemänner, und wir scheiden von ihr, da sie ein jährliches Einkommen von 8000 Pfd. Sterl. besitzt, woraus hervorgeht, daß die Tugend wirklich sich bisweilen recht gut rentiert. Denn es wird uns nicht erlaubt, die reine Keuschheit der Heldin einen Augenblick zu bezweifeln.
Ein Inder, D. Chanda Menon, hat in »Induleka« die Form eines Romans erwählt, um uns mit den Sitten seiner Landsleute vertraut zu machen. Er gehört Südindien und dem nicht-arischen Teil der Bevölkerung an. Das Buch ist in Madras [* 14] erschienen.
Ästhetik, Kritik, Litteraturgeschichte.
Auf diesem Gebiet ist dieses Jahr wenig zu verzeichnen, und das Wichtigste ist das Buch eines Franzosen, der seine diplomatische Verbindung mit England zu gründlichem Studium der englischen Litteratur benützt hat. In »Deux gentilhommes-poëtes de la cour de Henry VIII« behandelt Edmond Bapst den Georg Boleyn, Lord Rochford, Bruder der unglücklichen Anna Boleyn, und Henry Howard, Grafen von Surrey, seinen Zeitgenossen (1517-47), ebenfalls hingerichtet, den ersten, der in England den blank verse schrieb, und einer der beiden ersten (Wyatt war der andre), die das Sonett aus dem Italienischen herübernahmen. Der Buchhändler C. Kegan Paul, kürzlich von Freidenkerei zum Katholizismus übergegangen, hat in »Faith and unfaith« über den »English prosestyle« über »Production and life of Books« und verwandte Gegenstände recht Lesenswertes geschrieben. Joseph Jacobs hat sich in ¶