mehr
auch sonst Aufsehen erregt und die Presse [* 2] wiederholt beschäftigt hat. Am geboren, verlor Helene schon mit 19 Monaten infolge von Krankheit Gehör [* 3] und Gesicht, [* 4] zeigte aber von früh an, schon unter der rein empirischen häuslichen Erziehung ihrer allerdings wohlhabenden und sorgfältigen Eltern ungewöhnliche seelische Begabung, die ihr ermöglichte, bei außerordentlicher Schärfe des Geruchs und des Gefühls in ihrem engern Kreise [* 5] sich sicher zurechtzufinden und verhältnismäßig reiche Erfahrungen zu sammeln.
Ihr eigentlich geistiges Erwachen beginnt jedoch ebenfalls erst mit dem Eintritt in den planmäßig geordneten Unterricht, den ihr unter Aufsicht des jetzigen Leiters der Bostoner Blindenanstalt, Michael Anagnos, eine Lehrerin, Miß Anna Sullivan, seit erteilt. Die in diesem Unterricht erzielten Fortschritte grenzen in der Raschheit und Sicherheit geradezu ans Unglaubliche. Die gedruckten Buchstaben lernte Helene sämtlich in Einem Tage. Schon also nach 4 ½ Monaten, schrieb sie einen Brief an ihre Eltern von einer Reise, der den nach anderthalbjährigem Unterricht verfaßten ersten Brief ihrer ältern Leidensgenossin Laura Bridgman in jeder Hinsicht übertreffen soll. Im J. 1889 begleitete sie im Briefwechsel Herrn Anagnos auf dessen Reise nach Europa [* 6] mit vollem Verständnis für die geographischen und politischen Verhältnisse der von ihm berührten Länder, so weit und so gut man dies von einem vollsinnigen Kinde ihres Alters irgend erwarten könnte.
Professor Jerusalem [* 7] versichert, daß die von ihm eingesehenen und abgeschriebenen Briefe der Neunjährigen jedem gesunden Kinde von 12-14 Jahren Ehre gemacht haben würden. Auch einige Worte seiner griechischen Muttersprache, die Anagnos dem kleinen Zöglinge gelegentlich zur Probe beibrachte, waren im Zusammenhang richtig und verständig angebracht. Seither hat Helene auch mit Eifer begonnen, Französisch und Deutsch zu lernen. Im Unterschied von Laura Bridgman findet Helene Keller besondern Geschmack an poetischer Darstellung. Man darf billig gespannt sein, welches das schließliche Ergebnis der Jugendbildung dieses außergewöhnlichen Mädchens sein wird. Schon jetzt aber ist sie ein ermutigendes Beispiel für den von Jerusalem wiederholt angeführten Wahlspruch Howes: Hindernisse können überwunden werden!
Als Ergänzung des Jerusalemschen Büchleins und der darin niedergelegten überseeischen Erfahrungen ist endlich noch der Bericht des Vorstehers einer preußischen Blindenanstalt anzuführen, den das (amtliche) »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen« [* 8] im Märzheft des Jahres 1891 mitteilt. Es handelt sich dort um einen Knaben, welcher, geboren, also 6 1/2jährig, noch sehend in eine Taubstummenanstalt kam, aber dort durch einen Fall gegen den Ofen, der geschah, seine Sehkraft einbüßte.
Der Taubstummenunterricht, der gerade alles geistige Leben durch den Gesichtssinn entwickelt, erwies sich fortan als unfruchtbar, und so kam der nicht näher bezeichnete Knabe, der in früherer Jugend sehr vernachlässigt, aber in den ersten Monaten seines Aufenthalts in der Anstalt nicht unerfreulich fortgeschritten war, in die Blindenanstalt. Der letzte Schimmer des Augenlichts verging hier rasch vollends, und es zeigte sich, daß die geringen Anfänge der Schulbildung inzwischen wieder vollständig verschwunden waren. Besondere Schwierigkeit bereitete in diesem Falle außer der unbändigen
Wildheit des Knaben der Umstand, daß er schon zu lange gewöhnt gewesen war, Eindrücke sehend in sich aufzunehmen. Nur schwer und langsam entschloß er sich, nunmehr statt dessen den Tastsinn zu verwenden. Lehrreich ist auch in diesem Berichte die Art, wie dem ohne Ton und ohne Licht [* 9] dahinlebenden Knaben allmählich die Begriffe von Gegenständen seiner Tastwahrnehmungen, dann von entfernten Gegenständen, hierauf von Eigenschaften, Thätigkeiten etc. erweckt wurden, und wie er daneben angeleitet ward, Urteile und Sätze mit dem Satzbande ist und der Satzaussage hat zu bilden. Weit konnte selbstverständlich das Vermögen der Abstraktion und das eigne Urteil des Knaben in den 3 Jahren, über die der Bericht sich erstreckt, noch nicht vorgeschritten sein.
Vom Zählen bis 10 war der Lehrer damals eben zu den einfachsten Übungen des Zu- und Abzählens aufgestiegen. Den durchgearbeiteten Lesestoff hatte er zur stillen Beschäftigung für seinen Schüler in ein mit Blindenschrift hergestelltes kleines Lesebuch zusammengefaßt, das 170 Substantiva, 40 Verba, 30 Adjektiva und Adverbia, endlich 10 Zifferreihen enthielt. Im Handarbeitsunterricht wurde der Zögling mit Klöppeln von Wäscheseilen aus Kordel und mit Strohseilflechten beschäftigt, wobei er auch mittels der Schere [* 10] die geflochtenen Seile von überstehenden Spitzen zu reinigen vermochte. Neben den erlangten Kenntnissen hebt der Berichterstatter besonders die sittliche Förderung des Knaben als bemerkenswert hervor.
Auf dem zweiten Kongreß der deutschen Blindenlehrer zu Dresden [* 11] (1876) berichtete der Lehrer Riemer an der Blindenanstalt zu Hubertusburg über gleichfalls erfreuliche Erfolge, die er beim Unterricht eines Blindtaubstummen in der genannten Anstalt erzielt hatte. Einige andre Fälle verwandter Art behandelt ein aus französischer Quelle [* 12] geflossener Aufsatz im laufenden Jahrgange (1892, Heft 2 u. 3) der Zeitschrift »Blindenfreund« vom Taubstummenlehrer Hoffmann zu Ratibor. [* 13]