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Bildung, als gesundes
Kind 1829 geboren. Mit zwei
Jahren hatte sie bereits einige
Worte plappern und einzelne
Buchstaben des
Alphabets
kennen gelernt, als sie durch ein Scharlachfieber
Gehör
[* 2] und
Gesicht
[* 3] verlor. Das
Gehör war sofort gänzlich geschwunden; das
rechte
Auge
[* 4] blieb noch einige Jahre so weit empfänglich
für Lichteindrücke, daß eine im
Dunkel brennende
Kerze,
[* 5] das von der
Sonne
[* 6] erhellte
Fenster oder ein nahe gebrachter weißer, vielleicht auch scharlachroter Gegenstand ihre
Aufmerksamkeit
erweckte, ohne jedoch ihr
Eindrücke zu geben, die irgend geistbildend hätten wirken können. Da auch
Geruch und
Geschmack
des
Kindes nicht besonders scharf waren, blieb sie für den
Verkehr mit ihrer Umgebung fast ausschließlich
auf den
Tast- und
Gefühlssinn angewiesen.
Dennoch lernte sie im wesentlichen sich sicher durch das elterliche Haus zu tasten und hatte, wie spätere schriftliche Aufzeichnungen beweisen, ein gewisses Verständnis für das wirtschaftliche Thun der Mutter, die begreiflicherweise das hilflose Kind selten von der Seite ließ. Auch eine begrenzte Anzahl natürlicher Gebärden, die sich allmählich zur anerkannten Zeichensprache über die unentbehrlichsten Bedürfnisse des Verkehrs befestigten, war in Übung. So bedeutete Streicheln des Gesichts Zufriedenheit, Schlagen des Rückens Unzufriedenheit der Eltern, Ausstrecken der Hand [* 7] Hunger des Kindes, Streichen einer Hand über die andre den Wunsch, Butter zum Brote zu erhalten etc. Oft genug jedoch ward Laura nicht verstanden und geriet dann in Wut, die nur durch väterliche Züchtigung eingedämmt werden konnte.
Mütterliche Geduld brachte dem unglücklichen Mädchen, das die Thätigkeit der Mutter mit tastenden Händen zu verfolgen liebte, auch die Anfangsgründe des Strickens, Flechtens, Nähens bei. Howe, der in jungen Jahren den griechischen Freiheitskrieg mitgemacht und beschrieben, hatte inzwischen die Blindenanstalt in seiner Vaterstadt begründet und zu Blüte [* 8] gebracht. Er hörte von der kleinen Blindtaubstummen und erreichte von den Eltern, daß sie ihm zur Ausbildung anvertraut ward. Im 8. Lebensjahr trat Laura in die Anstalt ein.
Die Geschichte ihrer Erziehung und ihres Unterrichts kann hier in ihren einzelnen Stufen nicht verfolgt werden. Durch ein sinnig erdachtes Verfahren brachte man der Kleinen zunächst bei, daß Gegenstände, später auch Eigenschaften, Thätigkeiten etc., durch momentan dargestellte Zeichen, Typen in Blindenschrift, dargestellt werden könnten. Leichter ging es dann von der Zusammensetzung der Worte aus Metalllettern zur Fingersprache der Taubstummen und endlich zur Blindenschrift fort, da mit der Übung die Findigkeit zunahm und jeder Fortschritt in Können und Verstehen der Schülerin selbst die innigste Freude bereitete.
»Im Laufe von 2 Jahren hatte Laura die Sprache [* 9] sich so weit angeeignet, daß sie sich mit denjenigen Personen, welche die Fingersprache der Taubstummen kannten, direkt verständigen und auch schriftlich mit ihren Lieben verkehren konnte«; dies selbstredend damals erst im bescheidensten kindlichen Sinne. Auch in die ideale Welt erhob sich ihr Geist immer sicherer, so daß sie über Gott, Schöpfung, Vorsehung, selbst über die geschichtlichen Grundlagen und die Hauptlehren des Christentums in der Art schlichter Leute, deren Gefühl lebendiger wirkt als ihr kritischer Verstand, mit gutem Urteil zu reden vermochte. Selbst einige Gedichte von ihr gibt es, die eigenartige, wenngleich nicht gerade ausgezeichnete Vorstellungen zum Ausdruck bringen. 50 Jahre nach ihrem Eintritt in die Bostoner Anstalt (1887)
bereitete diese ihrer berühmtesten Schülerin eine Jubelfeier, wozu die Gefeierte eine erbauliche Ansprache verfaßte, die den Festgästen vorgelesen ward. Ihre Grundstimmung in Hinsicht des eignen Daseins drückt, obzwar sie die Mängel ihrer körperlichen Ausrüstung wohl erkannte und empfand, ein Wort aus, das als ein Zeugnis von ihr, der fast grausam von der Natur Geprüften, Howe und seine Mitarbeiterinnen mit gerechtem Stolz erfüllte: »Wie froh bin ich, daß ich geschaffen bin!« Unter voller Würdigung der humanitären und philanthropischen Seite des Falles unterzieht Jerusalem [* 10] ihn nach allen in Betracht kommenden Seiten eingehender wissenschaftlicher Analyse, worin ihm der amerikanische Gelehrte Stanley-Hall, Präsident der Clark University zu Worcester (Massachusetts), bereits durch Versuche und Beobachtungen physiologischer Art an der noch lebenden Laura Bridgman (1879) vorangegangen ist.
Nur einzelnes kann hier daraus hervorgehoben werden. Wichtig erscheint der Anteil, den die Erlernung der Sprache auch ohne Laut bei der kleinen Dreisinnigen für die Entwickelung eines höhern Geisteslebens überhaupt, namentlich für die Verwandlung der einzelnen Vorstellungen in feste, allgemeine Begriffe ausgeübt hat; nicht minder für den stufenweisen Fortschritt der begrifflichen Abstraktion und die dadurch bedingte Denkfähigkeit des Kindes, das übrigens auch wie andre Blinde es zu einem verhältnismäßig hohen Grade der Einbildungskraft brachte, welche ihm z. B. ermöglichte, genaue geographische und topographische Kenntnisse über ein nicht allzu enges Gebiet sich anzueignen.
Lebhaft entwickelt war Lauras Empfänglichkeit im Aufnehmen wie Sicherheit im vergleichenden Abschätzen und treuen Bewahren von Zeitvorstellungen. Jerusalem widmet dieser Erscheinung besondere Aufmerksamkeit und erblickt darin eine Stütze für seine schon anderweit vorgetragene geistreiche Hypothese, wonach die Zeitvorstellungen überhaupt aus dem Bewußtwerden der innern Spannung bei geistiger Arbeit erwachsen. Sehr erklärlich, daß das Bewußtsein der innern Arbeit bei der Einschränkung auf den einen Kanal [* 11] zur Aufnahme äußerer Eindrücke ein besonders lebhaftes und unzerstreutes war.
Endlich wird besonderes Gewicht darauf gelegt, daß Laura Bridgman eine Anzahl zunächst unwillkürlicher Töne (ihr selbstverständlich nur durch Tastsinn und Muskelgefühl als Bewegungen bewußt), die sie bei Berührung mit den Personen ihrer nächsten Umgebung ausstieß, allmählich zu bewußt festgehaltenen Quasinamen für die einzelnen erhob; allerdings eine sehr merkwürdige Thatsache, welche die Ansicht zu bestätigen scheint, daß menschliche Sprache überhaupt aus den vom Momente des Ursprunges allmählich gelösten und selbständig ausgebildeten Gefühlslauten entstanden ist. Noch nicht benutzen konnte Jerusalem den Befund der Sektion des Gehirns der Laura Bridgman, der nach der Angabe seines Rezensenten im »Litterarischen Zentralblatt« (Nr. 45 des Jahrganges 1891) inzwischen von Donaldson im »American Journal of Psychology« veröffentlicht worden ist.
Wie bereits angedeutet, steht der im vorigen etwas ausführlicher besprochene Erfolg der Taubstummblinden-Bildung nicht ganz einzeln da. Jerusalem führt am Schlusse seines Berichtes drei Dreisinnige auf, deren kürzere oder längere Behandlung im Bostoner Institut die Bildungsfähigkeit solcher Unglücklichen ebenfalls bestätigt. Genauer geht er dann auf ein noch in der Erziehung begriffenes Mädchen, Helene Keller aus Tuseumbia (Alabama), ein, das ¶
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auch sonst Aufsehen erregt und die Presse [* 13] wiederholt beschäftigt hat. Am geboren, verlor Helene schon mit 19 Monaten infolge von Krankheit Gehör und Gesicht, zeigte aber von früh an, schon unter der rein empirischen häuslichen Erziehung ihrer allerdings wohlhabenden und sorgfältigen Eltern ungewöhnliche seelische Begabung, die ihr ermöglichte, bei außerordentlicher Schärfe des Geruchs und des Gefühls in ihrem engern Kreise [* 14] sich sicher zurechtzufinden und verhältnismäßig reiche Erfahrungen zu sammeln.
Ihr eigentlich geistiges Erwachen beginnt jedoch ebenfalls erst mit dem Eintritt in den planmäßig geordneten Unterricht, den ihr unter Aufsicht des jetzigen Leiters der Bostoner Blindenanstalt, Michael Anagnos, eine Lehrerin, Miß Anna Sullivan, seit erteilt. Die in diesem Unterricht erzielten Fortschritte grenzen in der Raschheit und Sicherheit geradezu ans Unglaubliche. Die gedruckten Buchstaben lernte Helene sämtlich in Einem Tage. Schon also nach 4 ½ Monaten, schrieb sie einen Brief an ihre Eltern von einer Reise, der den nach anderthalbjährigem Unterricht verfaßten ersten Brief ihrer ältern Leidensgenossin Laura Bridgman in jeder Hinsicht übertreffen soll. Im J. 1889 begleitete sie im Briefwechsel Herrn Anagnos auf dessen Reise nach Europa [* 15] mit vollem Verständnis für die geographischen und politischen Verhältnisse der von ihm berührten Länder, so weit und so gut man dies von einem vollsinnigen Kinde ihres Alters irgend erwarten könnte.
Professor Jerusalem versichert, daß die von ihm eingesehenen und abgeschriebenen Briefe der Neunjährigen jedem gesunden Kinde von 12-14 Jahren Ehre gemacht haben würden. Auch einige Worte seiner griechischen Muttersprache, die Anagnos dem kleinen Zöglinge gelegentlich zur Probe beibrachte, waren im Zusammenhang richtig und verständig angebracht. Seither hat Helene auch mit Eifer begonnen, Französisch und Deutsch zu lernen. Im Unterschied von Laura Bridgman findet Helene Keller besondern Geschmack an poetischer Darstellung. Man darf billig gespannt sein, welches das schließliche Ergebnis der Jugendbildung dieses außergewöhnlichen Mädchens sein wird. Schon jetzt aber ist sie ein ermutigendes Beispiel für den von Jerusalem wiederholt angeführten Wahlspruch Howes: Hindernisse können überwunden werden!
Als Ergänzung des Jerusalemschen Büchleins und der darin niedergelegten überseeischen Erfahrungen ist endlich noch der Bericht des Vorstehers einer preußischen Blindenanstalt anzuführen, den das (amtliche) »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen« [* 16] im Märzheft des Jahres 1891 mitteilt. Es handelt sich dort um einen Knaben, welcher, geboren, also 6 1/2jährig, noch sehend in eine Taubstummenanstalt kam, aber dort durch einen Fall gegen den Ofen, der geschah, seine Sehkraft einbüßte.
Der Taubstummenunterricht, der gerade alles geistige Leben durch den Gesichtssinn entwickelt, erwies sich fortan als unfruchtbar, und so kam der nicht näher bezeichnete Knabe, der in früherer Jugend sehr vernachlässigt, aber in den ersten Monaten seines Aufenthalts in der Anstalt nicht unerfreulich fortgeschritten war, in die Blindenanstalt. Der letzte Schimmer des Augenlichts verging hier rasch vollends, und es zeigte sich, daß die geringen Anfänge der Schulbildung inzwischen wieder vollständig verschwunden waren. Besondere Schwierigkeit bereitete in diesem Falle außer der unbändigen
Wildheit des Knaben der Umstand, daß er schon zu lange gewöhnt gewesen war, Eindrücke sehend in sich aufzunehmen. Nur schwer und langsam entschloß er sich, nunmehr statt dessen den Tastsinn zu verwenden. Lehrreich ist auch in diesem Berichte die Art, wie dem ohne Ton und ohne Licht [* 17] dahinlebenden Knaben allmählich die Begriffe von Gegenständen seiner Tastwahrnehmungen, dann von entfernten Gegenständen, hierauf von Eigenschaften, Thätigkeiten etc. erweckt wurden, und wie er daneben angeleitet ward, Urteile und Sätze mit dem Satzbande ist und der Satzaussage hat zu bilden. Weit konnte selbstverständlich das Vermögen der Abstraktion und das eigne Urteil des Knaben in den 3 Jahren, über die der Bericht sich erstreckt, noch nicht vorgeschritten sein.
Vom Zählen bis 10 war der Lehrer damals eben zu den einfachsten Übungen des Zu- und Abzählens aufgestiegen. Den durchgearbeiteten Lesestoff hatte er zur stillen Beschäftigung für seinen Schüler in ein mit Blindenschrift hergestelltes kleines Lesebuch zusammengefaßt, das 170 Substantiva, 40 Verba, 30 Adjektiva und Adverbia, endlich 10 Zifferreihen enthielt. Im Handarbeitsunterricht wurde der Zögling mit Klöppeln von Wäscheseilen aus Kordel und mit Strohseilflechten beschäftigt, wobei er auch mittels der Schere [* 18] die geflochtenen Seile von überstehenden Spitzen zu reinigen vermochte. Neben den erlangten Kenntnissen hebt der Berichterstatter besonders die sittliche Förderung des Knaben als bemerkenswert hervor.
Auf dem zweiten Kongreß der deutschen Blindenlehrer zu Dresden [* 19] (1876) berichtete der Lehrer Riemer an der Blindenanstalt zu Hubertusburg über gleichfalls erfreuliche Erfolge, die er beim Unterricht eines Blindtaubstummen in der genannten Anstalt erzielt hatte. Einige andre Fälle verwandter Art behandelt ein aus französischer Quelle [* 20] geflossener Aufsatz im laufenden Jahrgange (1892, Heft 2 u. 3) der Zeitschrift »Blindenfreund« vom Taubstummenlehrer Hoffmann zu Ratibor. [* 21]