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Ferner«. Auch die neuen Novellen »Enge Welt« von Ilse Frapan darf man zu den wertvollern Erscheinungen rechnen;
sie bietet in der That jene vielgesuchte Vereinigung von Realismus und Poesie;
die Frapan hat die Kraft, [* 2] bis in jene Tiefe zu steigen, wo das Bewußtsein sich zum Instinkt verdunkelt, und doch zugleich die klare sittliche Weltanschauung zu bewahren;
freilich schreibt sie ungleich, der neuere Band: [* 3] »Bittersüß«, steht nicht mehr auf der Höhe der frühern, weder im Humor noch im Ernst.
Auch die kleinen Erzählungen: »Auch ein Romane, von echt schwäbischer Frische, die Hermine Villinger brachte, dürfen hierher gerechnet werden.
Von neu aufgetretenen Dichtern verdienen die »Wiedergebornen« und der Roman »Das Blut von J. J. David alle Aufmerksamkeit; ein freundliches Talent mit gesunder Natürlichkeit ist Joachim v. Dürow: «Strahlendorf und Reetzow-. In dem schweizerischen Bauerndichter Joseph Joachim trat eine neue Kraft voller Mark und Saft hervor. Seine zweibändige Volksgeschichte »Die Brüder« gibt ein umfassendes, an Gedanken und Gestalten gleich reiches Bild des gesamten schweizerischen Volkslebens der Gegenwart mit edler freimütiger Tendenz: ein rechter Abkömmling von Jeremias Gotthelf.
Ein andrer Schweizer, Wilhelm Sommer, kommt erst nach seinem Tode mit den »Elsässischen Erzählungen« Zur weitern Anerkennung;
Sommer ist ein begabter und liebenswürdiger Erzähler, dessen allzu früher Tod (1888) lebhaft zu bedauern ist.
Auch aus dem Lager [* 4] der Naturalisten sind viele Romane und Novellen gekommen, die freilich nach ihrem eignen Ausdruck zur »Übergangslitteratur« gehören: Versuche, Studien, Experimente auf Grundlage der naturalistischen Ästhetik, die so irreführenderweise vom Dichter die »Objektivität« des Naturforschers fordert. Es ist keine Freude, in diesen tobenden Hollen-Breughel von Stürmern und Drängern hineinzuschauen, doch seien die hervorragendsten Gestalten angemerkt, die sämtlich kein abschließendes Urteil gestatten.
Der Theoretiker der naturalistischen Ästhetik, Wilhelm Bölsche, ist nun auch als Romanschreiber aufgetreten: »Die Mittagsgöttin«, in der mit allen naturalistischen Zuthaten der Kampf Zweier Weltanschauungen, der sensualistischen und der spiritualistischen, dargestellt wird. Große Exzesse gestattete sich Konrad Alberti im Roman: »Das Recht auf Liebe«. Dem ersten Kokottenroman: »Im Liebesrausch«, hat Heinz Tovote einen zweiten: »Frühlingssturm«, nachgeschickt: ohne Zweifel ein Fortschritt in künstlerischer Beziehung, in der Technik und Charakteristik, überall vortreffliche Schilderungen der Sinnlichkeit, die in der Novelle »Der Erbe« freilich ans Empörende grenzte. Ein verwandter Erotiker ist Felix Holländer in den Romanen »Jesus und Judas« und »Magdalena Dornis«. Johannes Schlaf: »In Dingsda«, pflegt im modischen Stil nicht ohne Geschick das Stimmungsbild.
Memoiren. Biographien. Litterarhistorie.
Charakteristisch für die Gegenwart ist das große Interesse, das sie an der Geschichte nicht in der künstlerischen Form eines Ranke, sondern in den elementarern Formen der unverarbeiteten Dokumente und Quellen der Geschichtschreibung nimmt. Die Zeit der Kulturschildereien scheint vorüber zu sein, die Zeit der Memoiren ist gekommen. Die Lebenserinnerungen, die ein alter, vielerfahrener Mann nach einem erfahrungsreichen Leben niederschreibt, sind allerdings Geschichte in der wärmsten persönlichen! Form, auf die Biographie des einzelnen und der Generation hat ja auch Meister Ranke feine großen Werke gegründet.
Doch ist das Memoirenschreiben bei den Deutschen noch nicht sehr ausgebildet, und vorläufig treten Sammlungen von Briefen an ihre Stelle. Literarhistorisch stand das abgelaufene Jahr im Zeichen Franz Grillparzers und Theodor Körners, deren hundertste Geburtstage mit allem Aufwand litterarischer Ehren gefeiert wurden. Die Grillparzer-Litteratur fand durch das »Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft« (hrsg. von Karl Glossy in Wien) [* 5] eine Bereicherung; die zahlreichen Briefe des Dichters aus allen seinen Lebensstufen haben neues Licht [* 6] über seinen allzu empfindsamen Charakter gestreut; nicht am wenigsten auch der ausgezeichnete Kommentar Glossys.
Dazu sind noch zu nennen: die Jubiläums-Ausgabe der Gedichte Grillparzers von August Sauer, die Grillparzer-Studien von Adolf Lichten Held, die Biographie des Dichters von Richard Mahrenholtz, die freilich mangelhaft in Thatsachen und Beurteilung ist, »Grillparzers Kunstphilosophie von Emil Reich. Die Körner-Litteratur fand in dem stattlichen Prachtwerk von Rudolf Brockhaus (zum Briefe, Dichtungen etc. von und an Körner«) Bereicherung; die liebenswürdigste Gabe spendete aber Alfred v. Arneth, der Sohn von Körners Braut Antonie Adamberger, indem er in seine (nicht im Buchhandel erschienene) »Lebenserinnerungen I« die Aufzeichnungen seiner Mutter aufnahm, die zum Schönsten gehören, was eine deutsche Frau geschrieben haben mag.
Auch die Litteratur über Nikolaus Lenau wurde durch L. A. Frankls Ausgabe seiner an Sophie Löwenthal gerichteten Liebesbriefe stattlich bereichert, und in größerer Stille schritt die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mit dem Abdruck seiner Tagebücher und der »Aristeia« der Mutter vor. Auf Grundlage des reichen Materials, das in den letzten Jahren aus dem Goethe-Archiv in die Welt trat, besonders der zahlreichen Briefe von Goethes Mutter, schrieb Karl Heinemann ihre Biographie in einer besonders dem Frauenpublikum anmutenden Form.
Neue Beiträge zur Goethe-Litteratur lieferten Robert Keils »Goethe-Strauß«, J. Herzfelder, »Goethe in der Schweiz«, [* 7] Kuno Fischers »Goetheschriften«. In der Schiller-Litteratur macht Jakob Minors monumentale Biographie Fortschritte, ein umfängliches Werk, das sich die Vereinigung des gesamten Wissens von Schiller und seiner Zeit zum Ziel setzt. In entgegengesetzter Methode schreibt Kuno Fisch er über Schiller: analytisch, von innen heraus den Genius erklärend.
Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiete der Litterarhistorie war aber der Abschluß des im größten Stil angelegten Werkes: Lessing von Erich Schmidt. Hier ist auf Grundlage einer erstaunlichen Belesenheit eine Darstellung des Lebens und Entwickelungsganges von Lessing im Geiste der neuen Kunstgeschichte gegeben worden;
Schmidt unterscheidet sich von seinem Vorgänger Danzel wie der Weltmann vom Stubenphilosophen: er ist eleganter, konkreter, künstlerischer als dieser, der ihm als Philosoph überlegen sein mag.
Schmidt erzählt fesselnd, Danzel kritisiert mehr. Zur Geschichte der neuern Litteratur verdienen Erwähnung: Julius Rodenbergs Buch über Franz Dingelstedt, die formvollendete, auf neuen Quellen beruhende Lebensgeschichte Otto Ludwigs, die Adolf Stern im ersten Band seiner Ausgabe des Dichters bringt, und die Beiträge zur Kenntnis und Kritik Johann Nestroys, die M. Necker am Schluß der Nestroy-Ausgabe von Ganghofer und Chiavacci veröffentlicht hat. Über ¶
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Robert Hamerling hat sein langjähriger, intimster Freund, P. K. Rosegger, ein wertvolles Buch Persönlicher Erinnerungen« veröffentlicht, wozu auch die von Albert Möser gedruckten Briefe Hamerlingsan Möser gesellt werden dürfen. Von den wenigen eigentlich biographischen Werken, die erschienen sind, heben wir Hayms Biographie Max Dunckers als ganzes Kunstwerk hervor; sie hat mit ihrer Beleuchtung [* 9] des deutschen Kronprinzen und nachmaligen Kaisers Friedrich viel Aufsehen gemacht.
Desgleichen Ludwig Anzengrubers Leben von Anton Bettelheim, gleichfalls das Werk eines Freundes und Fachmannes; eine kleine Selbstbiographie, ergänzt durch einen alten Aufsatz von Karl Müllenhoff, schrieb Klaus Groth, und Lebenserinnerungen im eigentlichen Sinn erschienen von Felix Dahn, Wilhelm Lübke, Thekla v. Gumpert. Von den neuen Briefwechseln, die erschienen, sind es folgende, denen eine dauernde Bedeutung für unsre Litteratur zukommt: der Briefwechsel Friedrich Hebbels (Bd. 1), der eine höchst willkommene Ergänzung seiner Tagebücher ist, und die unter dem Titel »Zur eignen Lebensgeschichte von Alfred Dove herausgegebenen Briefe Leopold v. Rankes, die uns den unpersönlichen Geschichtschreiber herzlich nahe bringen, ebenso wie die Erinnerungen an Döllinger von Luise v. Kobell aus einem vertrauten langjährigen Umgang und nach gleichzeitigen Tagebuchnotizen. Ein kleines Meisterwerk in dieser Art veröffentlichte auch Adolf Frey in seinen "Erinnerungen an Gottfried Keller«, die uns den Menschen und Dichter vielfach neu beleuchten.
Der Briefwechsel Mörike-Storm, herausgegeben von Jakob Bächtold, ist eine wichtige Ergänzung der schon vorhandenen Briefwechsel Mörikes mit H. Kurz und M. v. Schwind, beleuchtet aber mehr Storm als Mörike, denn jener hat fleißiger geschrieben. Von Sammlungen kritischer Studien und Essays seien genannt: Der dritte Band von Döllingers »Akademischen Vortragen«, aus seinem Nachlaß von Lasson herausgegeben;
die »Episteln und Vorträge« von Wilhelm Jordan;
die Beiträge zur Ästethik ^[korrekt Ästhetik] und Geschichte der Poesie »Aus meiner Studienmappe« von Friedrich Spiel Hagen [* 10] (Essays über Auerbach, [* 11] Frenzel, Edgar Poe u. a.);
die »Litterarischen Essays« von Ernst Gnad.
Eins der merkwürdigsten kritisch-ästhetischen Werkchen ist das »Kunstbüchlein« vom Wiener Dichter Richard Kralik, das in der wahrhaft klassischen Form eines Organons die paradoxesten Forderungen aufstellt. Nicht leicht hat ein andrer Ästhetiker tiefere Einsichten in das Wesen der Poesie als Richard Kralik, er sagt viel Beherzigenswertes; aber indem er die alten Sagen als den einzigen würdigen Stoff der Poesie bezeichnet, die nicht ein Abbild ihrer Zeit geben, nicht neue Motive aufsuchen, sondern immerfort die über allem Wandel der Zeiten erhabenen Sagenstoffe behandeln sott, isoliert sich Kralik, man kann sagen, von der ganzen Litteratur, von beiden Parteien, den Idealisten und Naturalisten.
Gerade als wir diese Übersicht schließen, erscheint das umfangreiche Buch von Johannes Proelß über das »Junge Deutschland«, das durch Erschließung neuer Quellen (z. B. des Archivs der Cottaschen Buchhandlung) eine Bereicherung unsrer Kenntnisse jener Zeit bildet. Das »Junge Deutschland« von Georg Brandes (6. Band seiner »Hauptströmungen«) hat in eleganter Form eine fesselnde, aber keine erschöpfende Darstellung geboten; Proelß ist viel gründlicher, wenn er auch in der Wertschätzung Gutzkows und der andern zu weit gehen dürfte.
Deutschland. [* 12] Nach den endgültigen Ergebnissen der Volkszählung vom betrug die Bevölkerung [* 13] (mit Helgoland) [* 14] 49,428,470 Seelen (24,230,832 männlich, 25,197,638 weiblich), welche sich auf die einzelnen Staaten wie folgt verteilen:
Staaten | Bevölkerung 1890 | 1885 | Zunahme (- Abnahme) Seelen | Proz. |
---|---|---|---|---|
Preußen ohne Helgoland | 29955281 | 28318470 | 1636811 | 5.3 |
Preußen mit Helgoland | 29957367 | |||
Bayern | 5594982 | 5420199 | 174783 | 3.2 |
Sachsen | 3502K 84 | 3182003 | 320681 | 10.1 |
Württemberg | 2036522 | 1995185 | 41337 | 2.1 |
Baden | 1657867 | 1601255 | 56612 | 3.5 |
Hessen | 992883 | 956611 | 36272 | 3.8 |
Mecklenburg-Schwerin | 578342 | 575152 | 3190 | 0.6 |
Sachsen-Weimar | 326091 | 313946 | 12145 | 3.3 |
Mecklenburg-Strelitz | 97978 | 98371 | - 393 | - 0.4 |
Oldenburg | 354968 | 341525 | 13443 | 3.9 |
Braunschweig | 403773 | 372452 | 31321 | 8.4 |
Sachsen-Meiningen | 223832 | 214884 | 8948 | 4.2 |
Sachsen-Altenburg | 170864 | 161460 | 9404 | 5.3 |
Sachsen-Koburg-Gotha | 206513 | 198829 | 7684 | 39 |
Anhalt | 271963 | 248166 | 23797 | 9.5 |
Schwarzburg-Sondersh. | 75510 | 73606 | 1904 | 2.9 |
Schwarzburg-Rudolst. | 85863 | 83836 | 2027 | 24 |
Waldeck | 57281 | 56575 | 706 | 1.2 |
Reuß ältere Linie | 62754 | 55904 | 6850 | 12.3 |
Reuß jüngere Linie | 119811 | 110598 | 9213 | 8.3 |
Schaumburg-Lippe | 39163 | 37204 | 1959 | 5.3 |
Lippe | 128495 | 123212 | 5283 | 4.3 |
Lübeck | 76485 | 67658 | 8827 | 13.1 |
Bremen | 180443 | 165628 | 14815 | 8.9 |
Hamburg | 622530 | 518620 | 103910 | 20.0 |
Elsaß-Lothringen | 1603506 | 1564355 | 39151 | 2.5 |
Deutsches Reich ohne Helgol. | 49426384 | 46855704 | 2570680 | 5.5 |
Deutsches Reich mit Helgol. | 49428470 | - | - | - |
Genauere Angaben über die einzelnen Staaten s. bei den betreffenden Artikeln. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches ist seit 1871 von 41,058,792 auf 49,428,470 Einw. gestiegen, hat sich also um 8,369,673 Köpfe oder 20,4 Proz. vermehrt. Die Zunahme war während der einzelnen Zählungsperioden keine gleichmäßige. Im Zeitraum 1885-90 betrug sie im Durchschnitt jährlich 1,07 Proz. und blieb hinter der Periode 1875-80 (1,14 Proz.) nur um ein Geringes zurück, übertraf jedoch die Zunahme in den Perioden 1871-75 (1 Proz.) und 1880-85 (0,7 Proz.). Die starke Zunahme im letztvergangenen Jahrfünft erklärt sich einmal durch die stärkere natürliche Vermehrung infolge des Überschusses der Geburten über die Sterbefälle, sodann durch die geringere Auswanderung gegenüber der vorhergehenden Periode.
In den Jahren 1885-90 war die durchschnittliche jährliche Zunahme in folgenden Landesteilen stärker als in einer der frühern Zählungsperioden seit 1871: in den preußischen Provinzen Westfalen [* 15] (jährlich 1,93 Proz. der mittlern Bevölkerung), Brandenburg [* 16] (1,03 Proz., besonders im Regierungsbezirk Potsdam [* 17] um 2,72 Proz.), Rheinland (1,62 Proz., besonders im Regierungsbezirk Köln [* 18] um 1,84 Proz.) und Schleswig-Holstein [* 19] (1,13 Proz.), außerdem in den Regierungsbezirken Hannover [* 20] (1,71 Proz.) und Lüneburg [* 21] (0,96 Proz.); ferner in Oberbayern (1,81 Proz.), den sächsischen Kreishauptmannschaften Leipzig [* 22] (2,32 Proz.), Zwickau [* 23] (1,91 Proz.) und Bautzen [* 24] (0.78 Proz.), endlich den Bundesstaaten Hamburg [* 25] (3,64 Proz.), Lübeck [* 26] (2,45 Proz.), Reuß [* 27] ältere Linie (2,31 Proz.), Anhalt [* 28] (1,83 Proz.), Braunschweig [* 29] (1,61 Proz.), Sachsen-Koburg-Gotha (0,76 Proz.) und Elsaß-Lothringen [* 30] (0,49 Proz., in Lothringen 0,84, im Oberelsaß 0,39 Proz.). Eine ¶