mehr
trotz der glänzendsten Hilfsmittel: ein schreckliches Stück, das die Einmauerung eines lebenden Weibes auf die Bühne bringt, und doch auch nicht ohne echt poetische Szenen. Von allen den vielen dichtenden Frauen, die leben, hat nur Marie Ebner-Eschenbach Talent zum Drama, was schon Otto Ludwig vor mehr als 30 Jahren (1860) bei Lektüre ihrer »Maria von Schottland« anerkannt hat;
sie wurde aber schon vor vielen Jahren vom Theater [* 2] abgeschreckt;
jetzt schreibt sie zuweilen dialogisierte Novellen, die nach Darstellung durch feine Schauspieler Sehnsucht erwecken;
eine davon: »Ohne Liebe«, ist denn auch mit Erfolg auf der Berliner [* 3] »Freien Bühne« gegeben worden.
Epische Litteratur.
Hier ist die Produktion nun so gewaltig, daß es nicht in der Möglichkeit eines einzelnen liegt, sie zu übersehen und den Schein der Parteilichkeit zu vermeiden. Immerhin sei der Überblick dieser von den Leihbibliotheken und Zeitschriften um die Wette geförderten Thätigkeit weniger Berufenen und vieler Unberufenen gewagt. Soviel Neues auch jeder Tag bringen mag, der Erzähler und Romanschreiber aus allen Ecken und Enden des lieben Vaterlandes herbeischafft, so lebenskräftig und schreiblustig erweisen sich doch auch die nun einmal beglaubigten Schriftsteller, und diesen sei der Vortritt gewährt.
Die Weihnachtsdichter haben die zäheste Arbeitskraft: Georg Ebers fehlt so wenig wie Felix Dahn, der uns »Odhins Rache« bescherte;
in den vorjährigen »Batavern« hat Dahn gezeigt, daß sich naturalistische Elemente auch im historischen Roman gut verwenden lassen;
wunderlich genug haben seine Freunde die »Bataver« eines Bismarck würdig gefunden.
Erfreulicher ist die echte Dichtergestalt Wilhelm Raubes, sein »Stopfkuchen« ist eine wunderliche, aber gehaltvolle Erzählung. Theodor Fontanes Roman »Quitt« ist halb modern, halb romantisch, halb Dostojewskische Verbrecherseelenanalyse, halb märchenhafter Idealismus. Sein Roman »Unwiederbringliche ist weitaus weniger spannend, von gänzlich verschiedenem Charakter, ebenso ruhig, als "Quitt« aufregend, mit vielen schönen Stimmungsbildern aus Kopenhagen [* 4] und seinem Hofleben im J. 1864. Eins der allerschönsten Bücher Fontanes: »Kriegsgefangen. Erlebtes 1870«, ist endlich nach 20 Jahren in zweiter Auflage erschienen und wird sich wohl seine Anerkennung sichern.
Roseggers neue Bücher: »Der Schelm aus den Alpen« [* 5] und »Hoch vom Dachstein«, sind Sammlungen nicht immer vollwertiger, im ganzen aber frisch, ernst oder humorvoll empfundener kleiner Geschichten, deren einzelne Perlen in ihrer Art sind. Die »Judith Trachtenberg von K. E. Franzos gestaltet sich zu einer Apologie der Juden gegen den polnischen Adel, wirkt mit starken Mitteln und unwahrer Sentimentalität. Auch die neue Erzählung Hans Hopfens: Der Stellvertreter«, bedeutet keinen Fortschritt des Dichters des »Alten Praktikanten«.
Heinrich
Seidels »Sonderbare
Geschichten« bezeugen wieder seine Meisterschaft in der stimmungsvollen Naturschilderung,
aber keinen Fortschritt über seinen »Leberecht Hühnchen«. In
Alfred
Biese (»Deutsche
[* 6]
Schriften f. Litt. u
Kunst«, hrsg. von
Eugen
Wolff, 1.
Reihe, 5. Heft,
Kiel
[* 7] 1891) hat
Seidel einen
Ritter gefunden, der ihn an den Gipfel des deutschen
Humors u. zunächst
an
Jean Paul und
Reuter rückt. Das wird wohl kein andrer unterschreiben.
Julius
Rodenberg hat seinen gemütvollen
Humoresken: »Des
Herren Schellenbogens
Abenteuer«, eine neue Sammlung kleinerer
Stücke folgen lassen:
»Klostermanns
Grundstück«.
Hans
Blum hat in seiner Renaissancegeschichte »Der
Kanzler von
Florenz«
[* 8] das tragische
Schicksal Nicolo
Macchiavellis behandelt:
reicher an historisch-politischem
Geist als an
Poesie.
Hermann Heiberg hat seinen zahlreichen Romanen auch diesmal einen Band [* 9] Berliner Sittenmalerei zugesellt: »Todsünden«. Theophil Zollings »Kulissengeister«, Ossip Schubins »Thorschlußpanik«, Ernst Ecksteins »Dombrowsky« befriedigen die Bedürfnisse des großen Lesepublikums in ihrer Weise. Und ebenso haben die zahlreichen Romandichter und Novellisten, denen wir jahraus jahrein in unsern Zeitschriften und Familienblättern begegnen, redlich geschaffen, ohne der Litteratur des Jahres ein besonderes Gepräge zu verleihen.
Dennoch sind einige besonders denkwürdige Erscheinungen auf diesem Gebiete zu verzeichnen, die mehr als bloß das Tagesbedürfnis befriedigen, und diesen wollen wir uns nun zuwenden. Da sei zuerst der neuen Dichtung des Züricher Meisters Konrad Ferdinand Meyer: »Angela Borgia«, gedacht.
Sie war die bedeutendste Erscheinung der Erzählungslitteratur des letzten Weihnachtsmarktes, aber im Vergleich mit seinen eignen Meisterwerken eine schwächere Arbeit;
doch prägen sich auch die Hauptszenen und Charaktere dieser Novelle dem Leser unvergeßlich ein.
Die Erzählung: Margarete« von Marie v. Ebner-Eschenbach ist eins ihrer aus früherer Zeit stammenden Werke, das nur erst jetzt in die Öffentlichkeit kam;
doch ist der Geist der berühmten Aphorismen-Schreiberin nicht zu verkennen.
Ihr sehr spärlich produzierender Landsmann Ferd. v.
Saar hat wieder ein schmächtiges Bändchen
Novellen: »Frauenbilder«,
mit feiner
Kunst der
Charakteristik veröffentlicht.
Hans
Hoffmann hat sich mit seinem deutschen
Don Quichotte: »Der eiserne
Rittmeister«,
in die vorderste
Reihe der Erzähler gestellt. Diesem humoristischen Werk mit geschichtlichem
Hintergrund ließ er nun zwei
Bände
Novellen folgen, die in der Gegenwart spielen und ein beliebtes
Motiv der Humoristen (das Schulmeisterleben) in geistreichster
Art, ganz originell behandeln: »Das
Gymnasium zu Stolpenburg« und
»Ruhm«.
Seit Jean Paul ist der lebensunkundige, mit der Jugend jung gebliebene Schullehrer Gegenstand mehr oder minder würdigen Humors. Hoffmann hat den Kern des Motivs in dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zum Nebenmenschen, in der Fähigkeit des einzelnen, auf den Willen des andern zu wirken, erfaßt und die schwere Kunst des Disziplinhaltens zum Ausgang seiner psychologischen Betrachtung genommen. Wie geistvoll er nun dieses Verhältnis variiert, wie lebenswahre und fesselnde Gestalten rührender und heiterer Art er in seiner Lehrergesellschaft zeichnet, mit welch vornehmer Bildung er die menschlichen Schwächen und gelehrten Übel des Standes beleuchtet, die Satire zum Humor verklärend: das ist von unvergänglicher Schönheit.
Keine geringere Anerkennung verdienen Hoffmanns »Geschichten aus Hinterpommern«, die sich zu einer Apologie der Heimat des Dichters zuspitzen. Auch Paul Heyses »Weihnachtsgeschichten muß man als eine Bereicherung unsrer Novellenpoesie bezeichnen, so wenig Lärm sie auch in der partejjschei: Tageskritik gemacht haben. Mit wie reinen Händen weiß Heyse seinem Schönheitsideal zu opfern! Wie fern steht seiner Sinnlichkeit alle Frivolität der Nachahmer der Franzosen! Wie wohlthuend ist es, das Ohr [* 10] im Wortklang seiner geklärten Prosa zu baden! Eine ganz originelle Schöpfung ist Karl du Prels hypnotisch-spiritistischer Roman: «Das Kreuz [* 11] am ¶
mehr
Ferner«. Auch die neuen Novellen »Enge Welt« von Ilse Frapan darf man zu den wertvollern Erscheinungen rechnen;
sie bietet in der That jene vielgesuchte Vereinigung von Realismus und Poesie;
die Frapan hat die Kraft, [* 13] bis in jene Tiefe zu steigen, wo das Bewußtsein sich zum Instinkt verdunkelt, und doch zugleich die klare sittliche Weltanschauung zu bewahren;
freilich schreibt sie ungleich, der neuere Band: »Bittersüß«, steht nicht mehr auf der Höhe der frühern, weder im Humor noch im Ernst.
Auch die kleinen Erzählungen: »Auch ein Romane, von echt schwäbischer Frische, die Hermine Villinger brachte, dürfen hierher gerechnet werden.
Von neu aufgetretenen Dichtern verdienen die »Wiedergebornen« und der Roman »Das Blut von J. J. David alle Aufmerksamkeit; ein freundliches Talent mit gesunder Natürlichkeit ist Joachim v. Dürow: «Strahlendorf und Reetzow-. In dem schweizerischen Bauerndichter Joseph Joachim trat eine neue Kraft voller Mark und Saft hervor. Seine zweibändige Volksgeschichte »Die Brüder« gibt ein umfassendes, an Gedanken und Gestalten gleich reiches Bild des gesamten schweizerischen Volkslebens der Gegenwart mit edler freimütiger Tendenz: ein rechter Abkömmling von Jeremias Gotthelf.
Ein andrer Schweizer, Wilhelm Sommer, kommt erst nach seinem Tode mit den »Elsässischen Erzählungen« Zur weitern Anerkennung;
Sommer ist ein begabter und liebenswürdiger Erzähler, dessen allzu früher Tod (1888) lebhaft zu bedauern ist.
Auch aus dem Lager [* 14] der Naturalisten sind viele Romane und Novellen gekommen, die freilich nach ihrem eignen Ausdruck zur »Übergangslitteratur« gehören: Versuche, Studien, Experimente auf Grundlage der naturalistischen Ästhetik, die so irreführenderweise vom Dichter die »Objektivität« des Naturforschers fordert. Es ist keine Freude, in diesen tobenden Hollen-Breughel von Stürmern und Drängern hineinzuschauen, doch seien die hervorragendsten Gestalten angemerkt, die sämtlich kein abschließendes Urteil gestatten.
Der Theoretiker der naturalistischen Ästhetik, Wilhelm Bölsche, ist nun auch als Romanschreiber aufgetreten: »Die Mittagsgöttin«, in der mit allen naturalistischen Zuthaten der Kampf Zweier Weltanschauungen, der sensualistischen und der spiritualistischen, dargestellt wird. Große Exzesse gestattete sich Konrad Alberti im Roman: »Das Recht auf Liebe«. Dem ersten Kokottenroman: »Im Liebesrausch«, hat Heinz Tovote einen zweiten: »Frühlingssturm«, nachgeschickt: ohne Zweifel ein Fortschritt in künstlerischer Beziehung, in der Technik und Charakteristik, überall vortreffliche Schilderungen der Sinnlichkeit, die in der Novelle »Der Erbe« freilich ans Empörende grenzte. Ein verwandter Erotiker ist Felix Holländer in den Romanen »Jesus und Judas« und »Magdalena Dornis«. Johannes Schlaf: »In Dingsda«, pflegt im modischen Stil nicht ohne Geschick das Stimmungsbild.
Memoiren. Biographien. Litterarhistorie.
Charakteristisch für die Gegenwart ist das große Interesse, das sie an der Geschichte nicht in der künstlerischen Form eines Ranke, sondern in den elementarern Formen der unverarbeiteten Dokumente und Quellen der Geschichtschreibung nimmt. Die Zeit der Kulturschildereien scheint vorüber zu sein, die Zeit der Memoiren ist gekommen. Die Lebenserinnerungen, die ein alter, vielerfahrener Mann nach einem erfahrungsreichen Leben niederschreibt, sind allerdings Geschichte in der wärmsten persönlichen! Form, auf die Biographie des einzelnen und der Generation hat ja auch Meister Ranke feine großen Werke gegründet.
Doch ist das Memoirenschreiben bei den Deutschen noch nicht sehr ausgebildet, und vorläufig treten Sammlungen von Briefen an ihre Stelle. Literarhistorisch stand das abgelaufene Jahr im Zeichen Franz Grillparzers und Theodor Körners, deren hundertste Geburtstage mit allem Aufwand litterarischer Ehren gefeiert wurden. Die Grillparzer-Litteratur fand durch das »Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft« (hrsg. von Karl Glossy in Wien) [* 15] eine Bereicherung; die zahlreichen Briefe des Dichters aus allen seinen Lebensstufen haben neues Licht [* 16] über seinen allzu empfindsamen Charakter gestreut; nicht am wenigsten auch der ausgezeichnete Kommentar Glossys.
Dazu sind noch zu nennen: die Jubiläums-Ausgabe der Gedichte Grillparzers von August Sauer, die Grillparzer-Studien von Adolf
Lichten Held, die Biographie des Dichters von Richard Mahrenholtz, die freilich mangelhaft in Thatsachen und Beurteilung ist, »Grillparzers
Kunstphilosophie von Emil Reich. Die Körner-Litteratur fand in dem stattlichen Prachtwerk von Rudolf Brockhaus
(zum Briefe, Dichtungen etc. von und an Körner«) Bereicherung; die liebenswürdigste Gabe spendete aber Alfred v. Arneth,
der Sohn von Körners Braut Antonie Adamberger, indem er in seine (nicht im Buchhandel erschienene) »Lebenserinnerungen I« die
Aufzeichnungen seiner Mutter aufnahm, die zum Schönsten gehören, was eine deutsche
Frau geschrieben haben
mag.
Auch die Litteratur über Nikolaus Lenau wurde durch L. A. Frankls Ausgabe seiner an Sophie Löwenthal gerichteten Liebesbriefe stattlich bereichert, und in größerer Stille schritt die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mit dem Abdruck seiner Tagebücher und der »Aristeia« der Mutter vor. Auf Grundlage des reichen Materials, das in den letzten Jahren aus dem Goethe-Archiv in die Welt trat, besonders der zahlreichen Briefe von Goethes Mutter, schrieb Karl Heinemann ihre Biographie in einer besonders dem Frauenpublikum anmutenden Form.
Neue Beiträge zur Goethe-Litteratur lieferten Robert Keils »Goethe-Strauß«, J. Herzfelder, »Goethe in der Schweiz«, [* 17] Kuno Fischers »Goetheschriften«. In der Schiller-Litteratur macht Jakob Minors monumentale Biographie Fortschritte, ein umfängliches Werk, das sich die Vereinigung des gesamten Wissens von Schiller und seiner Zeit zum Ziel setzt. In entgegengesetzter Methode schreibt Kuno Fisch er über Schiller: analytisch, von innen heraus den Genius erklärend.
Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiete der Litterarhistorie war aber der Abschluß des im größten Stil angelegten Werkes: Lessing von Erich Schmidt. Hier ist auf Grundlage einer erstaunlichen Belesenheit eine Darstellung des Lebens und Entwickelungsganges von Lessing im Geiste der neuen Kunstgeschichte gegeben worden;
Schmidt unterscheidet sich von seinem Vorgänger Danzel wie der Weltmann vom Stubenphilosophen: er ist eleganter, konkreter, künstlerischer als dieser, der ihm als Philosoph überlegen sein mag.
Schmidt erzählt fesselnd, Danzel kritisiert mehr. Zur Geschichte der neuern Litteratur verdienen Erwähnung: Julius Rodenbergs Buch über Franz Dingelstedt, die formvollendete, auf neuen Quellen beruhende Lebensgeschichte Otto Ludwigs, die Adolf Stern im ersten Band seiner Ausgabe des Dichters bringt, und die Beiträge zur Kenntnis und Kritik Johann Nestroys, die M. Necker am Schluß der Nestroy-Ausgabe von Ganghofer und Chiavacci veröffentlicht hat. Über ¶