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Gedanken von deutschen Briefen« und andre Werke, obgleich sie ebensowenig wie die spätern Schriften Benjamin Neukirchs einen wirklichen Fortschritt bedeuten. Das Äußere des Briefes verändert sich in dieser Epoche insofern, als der Gruß am Anfang allmählich abkommt und nur die Anrede gesetzt wird;
als Pronomen der Anrede tritt jetzt das Sie auf;
die Empfehlung in Gottes Schutz weicht höflichen Komplimenten, die meist mit der Unterschrift verbunden sind;
das Datum, das früher nur unter dem Brief stand, wird jetzt auch oft zu Anfang gesetzt.
Das Papier wird feiner, das große Format wird für offizielle Schreiben gebraucht, sonst ist ein Quartformat üblich. Als Verschlußmittel kommt statt des Wachses der Siegellack auf.
Die notwendige Besserung des Briefstiles trat erst im zweiten Drittel des 18. Jahrh. im Zusammenhang mit der durchgreifenden Änderung im ganzen Geistesleben der Nation ein. Eine neue gebildete und natürliche Sprache [* 2] beginnt in den Briefen zu herrschen, als erste Repräsentantin dieses neuen Stiles darf die Jungfer Kulmus, die spätere Frau Gottsched, angesehen werden. Um die Mitte des Jahrhunderts wird dann auch theoretisch eine Reform verfochten. Gellert trat 1751 mit einer Sammlung wirklich geschriebener Briefe hervor, der er eine »Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« voranschickte; die »Grundsätze wohleingerichteter Briefe« von Stockhausen kommen daneben nicht in Betracht.
Gellert drang vor allen
Dingen auf eine natürliche Schreibart, und in seinem reichen Briewerkehr suchte
er sie auch zu bethätigen.
Sein
Beispiel wirkte auch ungemein; die Gellertsche Schreibart (neben ihm ist noch
Rabener zu nennen) war bald die Schreibart
des ganzen gebildeten
Publikums. Sie war leicht und gefällig, vor allen
Dingen ohne
Fremdwörter, aber
doch noch weitschweifig, wässerig und oft affektiert. Die Unsitte der französischen
Briefe blieb in den vornehmen
Kreisen
freilich noch lange bestehen; die
Adressen, auch der deutschen
Briefe, blieben bis in unser
Jahrhundert in der
Regel französisch.
Dagegen geht die lateinische
Korrespondenz der
Gelehrten sehr zurück. In eine neue
Phase trat die
Entwickelung
des deutschen Briefstiles in der
Sturm- und Drangperiode. Man sprach von Gellertschem Gewäsch und suchte
das
Prinzip der Natürlichkeit
in äußerster Übertreibung durchzuführen. Formlosigkeit, Lakonismus, Derbheit, oft dialektische Schreibweise charakterisieren
die
Briefe der jungen Leute. Am meisten änderte aber den
Stil der seit langem vorbereitete Durchbruch
des Gefühlslebens.
Für die Aufgeregtheit des Stiles sind die zahlreichen Ausruf- und Fragezeichen bemerkenswert. Die übertriebene Empfindsamkeit änderte auch Ton und Inhalt der Briefe. Sie sollten ein Abdruck der Seele sein; nur Briefe voll Empfindung und Gefühl schienen den damaligen Menschen die rechten Briefe zu sein. Wertvoll ist aber die neue Entwickelung namentlich dadurch, daß jetzt eine vollendete Individualität des Briefstiles erreicht ist. Hervorragend individuelle Briefschreiber sind Lessing, Merck, Claudius, Lichtenberg, Lavater, Goethe. Nachdem sich das aufgeregte Treiben beruhigt hatte, Zeigt sich der deutsche Brief so auf seiner Höhe. Ganz ausgezeichnete Briefe stammen namentlich von Frauen; Beispiele bieten diejenigen Eva Königs, Charlotte Schillers und die der originellen Frau Rath, der Mutter Goethes. Gleichzeitig gelangt der Briefverkehr zu einer neuen Steigerung. Das 18. Jahrh. ist das Jahrhundert des Briefes; es wird ein wahrer
Briefkultus getrieben. Überall treffen wir
fleißige Briefschreiber, dabei werden die
Briefe selbst ungeheuer
lang; bei manchen ist eine wahre Briefwut zu erkennen. Der freundschaftliche Briefverkehr namentlich ist geradezu ein allgemeines
Lebensbedürfnis geworden; man sucht
überall
Korrespondenten. Oft kennen sich langjährige Brieffreunde gar nicht persönlich.
Briefe wurden ein wichtiges Dokument zur Beurteilung der Menschen, nach Briefen verliebte man sich sogar. Man gab sich daher außerordentliche Mühe, da man sich gewöhnte, jeden auch von unbekannten Absendern, zu kritisieren. Das führte teilweise zu einer Effektschreiberei. Um die Briefe hervorragender Leute mühle man sich sehr; sie wurden oft massenhaft, z. B. diejenigen Gellerts, durch Abschriften, oft auch durch den Druck verbreitet.
Das Äußere der Briefe änderte sich auch in dieser Epoche. Das Papier wird feiner, das Format ist in der Regel Quart. [* 3] Umschläge (Kouverts) kommen häufiger als früher vor, doch blieb das Falten der Briefe noch bis zur Mitte unsers Jahrhunderts eine Kunst, die jeder lernen mußte. Die Adresse ist einfach und kurz geworden, ohne die früher üblichen langen Zusätze.
Die Art der
Briefe des 18. Jahrh. dauerte bis in die 40er Jahre unsers
Jahrhunderts. Die langen Briefergüsse blieben beliebt,
ebenso die Offenheit und Traulichkeit des persönlichen
Verkehrs.
Empfindung und
Geist suchte
jeder in seine
Briefe hineinzulegen.
Seit 1848 trat dann eine starke Änderung ein. Der Umschwung im Verkehrsleben, die rasche Verbindung durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen, [* 4] die rastlose Geschäftigkeit der Neuzeit beeinflußte den Briefverkehr. Kürze wird die Seele des Briefes. Unsre Zeit charakterisiert die Postkarte mit ihrer Kürze und Bequemlichkeit. Charakteristisch ist sie namentlich auch als Ausdruck dafür, wie wir aus unsern Briefen immer mehr die früher so wertvollen Äußerlichkeiten und Formalien verbannen. Die Postkarte wieder wird übertroffen durch das Telegramm. Die einfache Vergleichung eines Glückwunschtelegramms und eines Glückwunschbriefes aus dem 17. oder 18. Jahrh. zeigt, wie sehr sich die Zeit geändert hat.
Vgl. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes (Berl. 1889-91, 2 Bde.).
Die Briefform in der Litteratur.
Sobald die Briefschreibekunst eine besondere Pflege genießt, bemächtigt sich auch die Litteratur der Brief: form, um beliebige Stoffe zwanglos zu behandeln. Bei den Griechen der spätern Zeit sind fingierte Briefe, zumal die Sophistik diese Form sehr bevorzugte, nicht selten. Der Rhetor Lesbonax, der zur Zeit des Kaisers Augustus lebte, verfaßte erotische Briefe. Später schrieb Melesermos aus Athen [* 5] 14 Bücher Hetärenbriefe, ferner Briefe von Landleuten 2c. Von Alkiphron existieren Briefe von Fischern, Landleuten, Hetären, die ein treffliches Bild des damaligen Lebens in Athen geben.
In den erotischen Briefen des Aristänetos tritt die Briefform fast ganz zurück. Übrigens lieben es die griechischen Romanschreiber, Briefe häufig in ihre Romane einzufügen. Bei den Römern findet man zunächst den didaktischen, poetischen Brief. Am meisten ragen des Horaz Episteln und des Ovid Herolden und Tristien hervor. Auch Lucilius und Catull verwenden die Form hin und wieder. In prosaischen fingierten Briefen wurden ebenfalls mannigfache Stoffe behandelt. Lehrhafte Tendenz haben Catos Briefe an seinen Sohn; in Briefform wurden ferner juristische, medizinische, politische und litterarische Gegenstände behandelt. Die Verwendung der Briefform zu ¶
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didaktischen Zwecken findet sich auch im Mittelalter. Meist ist die Form eine poetische. Daneben bemächtigte sich auch die Minnepoesie früh der Briefform, um die wechselnden Liebesthemata darin zu behandeln. Die extremste Art dieser künstlichen Verwendung Zeigen die sogen. Büchlein. In neuerer Zeit nimmt die Briefform in der Litteratur eine große Stelle ein. Im 16. und 17. Jahrh. handelte man gern politische Themata in fingierten Briefen ab, die als Flugschriften verbreitet wurden (am berühmtesten die »Epistolae obscurorum virorum«). Zu didaktischen Zwecken wird die Briefform zuerst wieder von dem Spanier Antonio Perez, der 1611 starb, verwandt.
Von Franzosen ist Cyrano de Bergerac zu nennen. In Deutschland [* 7] zeigt die Mode schon Harsdörfer, der in seinem »Teutschen Secretarius« »nachsinnige juristische, historische und philosophische Briefe« bringt. Im 18. Jahrh. wurde diese Form für die abhandelnde Prosa überaus häufig. Einen regen Anstoß dazu mögen auch Montesquieus »Lettres persanes« gegeben haben. Von deutschen Schriften seien nur angeführt Bodmers Briefwechsel von der Natur des poetischen Geschmacks, Breitingers kritischer Brief, die Litteraturbriefe, Schillers Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend, und Briefe über Horaz, Sulzers Briefe von der Freundschaft, Goethes Briefe aus der Schweiz [* 8] 2c. Alle möglichen Themata werden in Briefen abgehandelt (Briefe eines Arztes an seinen Freund, forstwirtschaftliche Briefe, Briefe über das Blatterbelzen), und noch heute ist die Form sehr beliebt. Briefe in Versen sind in neuerer Zeit namentlich in Frankreich beliebt gewesen. In Deutschland erregten zuerst Hoffmann von Hoffmannswald aus Heldenbriefe Aufsehen; nach seinem Vorgang wurde die Form der Heldenbriefe eifrig gepflegt. Nach französischem Vorgang bevorzugte dann die galante Lyrik die Briefform (z. B.
Benjamin Neukirchs galante Briefe und Gedichte). Besonders gebräuchlich war sie für Gratulations- und Trauergedichte. Das Versmaß war in der Regel der Alexandriner. Von spätern poetischen Briefen seien zunächst die moralischen Briefe genannt (Wielands »Moralische Briefe«, angeregt durch die »Épîtres diverses« von v. Bar). Weiter mögen dann die poetischen Episteln der Halberstädter, namentlich von Michaelis, der sich Horaz und Pope zum Muster nahm, genannt sein.
Auch Goethe schrieb poetische Episteln. Die Briefform wurde ferner in der satirischen Dichtung gebraucht (Rabeners satirische Briefe) und diente auch nicht selten als Angriffswaffe in der Politik (»Juniusbriefe«). Endlich ist der Roman in Briefen anzuführen. In England schrieb solche zuerst Richardson (»Pamela«, »Clarissa Harlowe«, »Sir Charles Grandison«),
in Frankreich später Rousseau »Nouvelle Héloise«. Richardson rief in Deutschland »Grandison den Zweiten«, von Musäus, und »Sophiens Reise von Memel [* 9] nach Sachsen«, [* 10] von Hermes, [* 11] hervor. Er ist auch Muster für Sophie La Roches »Geschichte des Fräulein von Sternheim«, für Knigges »Geschichte des armen Herrn von Mildenburg« u. a. Rousseauscher Einfluß macht sich dagegen mehr in dem bedeutendsten deutschen Roman in Briefen, in Goethes »Leiden [* 12] des jungen Werther« geltend. Der Werther hatte viele andre Romane in Briefen zur Folge. Auch später blieb die Form beliebt (Tiecks »William Lowell«).