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Renntierreste, die sich sowohl aus der vorglazialen als aus der zwischen- und nachglazialen Zeit vorfinden, und zwar solche aus vorglazialer Zeit eben nur in Ost- und Westpreußen, [* 2] sonst nirgends in Europa. [* 3] Der Mensch kann während der ältern Steinzeit [* 4] ebensowenig in Westpreußen gelebt haben wie in Dänemark. [* 5] Selbst nach der zweiten Eisperiode setzte das zunächst noch sehr rauhe Klima [* 6] der Besiedelung Schwierigkeiten entgegen. Reste des Menschen aus der jüngern Steinzeit sind unter anderm in jenen tiefgesenkten Süßwasserschichten aufgefunden worden, stammen also aus einer Zeit vor der erfolgten Senkung. Redner sprach weiter über die Veränderungen der Meeresküsten und der Flußläufe, über die Deltabildung und die Moore, von denen Westpreußen eine ganz ungeheure Anzahl, meist aber von geringer Größe, besitzt.
Den nächsten Vortrag hielt Montelius - Stockholm [* 7] über die Chronologie der jüngern Steinzeit in Skandinavien. Die jüngere Steinzeit (ohne die Kjökkenmöddinger) hat in Skandinavien eine sehr lange Dauer gehabt und beansprucht für dies Land deshalb wohl die Bedeutung einer selbständigen und umfangreichen Entwickelung. Aus diesem Grunde scheint der Versuch lohnend, die dortigen Reste der jüngern Steinzeit unter sich wieder chronologisch zu ordnen. Die Angriffspunkte zu dieser Ordnung bilden die verschiedenen Formen der Gräber sowie die Typen der Waffen [* 8] und Geräte, unter den Waffen namentlich die Feuersteinaxt.
Nach Montelius bestand ein älterer Zeitabschnitt, aus welchem keine Gräber erhalten sind, wohl aber Äxte mit spitz-ovalem Durchschnitt. Diese Form ändert sich bei dem zweiten Zeitabschnitt derartig, daß die Axt Schmalseiten mit dünnem Nacken, bei den folgenden Abschnitten Schmalseiten mit breitem Nacken aufweist. Vom zweiten Zeitraum an treten dann die Gräber auf und zwar zunächst Dolmen (Hünengräber), die gänzlich freistehen, aber keinen Innengang besitzen.
Die dritte Periode enthält Ganggräber, die vierte Steinkisten und zwar anfänglich mit mehr oder weniger frei stehendem Deckel, später völlig von dem aufgehöhten Hügel verdeckt, zum Teil sogar unter der gewachsenen Erdoberfläche. Diese Einteilung wird durch die sonstigen Einschlüsse der Gräber (Steinwerkzeuge und Waffen, Thongefäße, Bernsteinstücke etc.) bestätigt. Die Bernsteinfunde in den skandinavischen Dolmen beweisen, daß das Meer keine trennende Schranke zwischen der Halbinsel und dem Festland gebildet haben kann.
Aber die Beziehungen Skandinaviens zum übrigen Europa gingen viel weiter, denn auch die Formen der skandinavischen Gräber und der sonstigen Funde stehen nicht vereinzelt, sie kehren vielmehr vielfach in Westeuropa, in Mittel- und Südeuropa, ja bis nach Cypern [* 9] wieder. Hieraus ist zu schließen, daß die nordische Kultur durch Einflüsse des Südens gesteigert wurde, und daß in dieser Weise ihre schon in der Steinzeit auffallende Entwickelung erklärt werden muß. Jene Übereinstimmung der Formen wird aber auch dazu führen, die Chronologisierung der skandinavischen Funde zu erleichtern, und aus dem, was sich schon jetzt in diesem Sinn erkennbar macht und was Redner im einzelnen ausführte, ergibt sich (und das Studium der Bronzezeit bestätigt es), daß die Entwickelung der Kultur in den verschiedenen Ländern Europas viel gleichmäßiger, bez. gleichzeitiger vor sich gegangen ist, als man bisher angenommen hat.
In der dritten Sitzung wurde Ulm [* 10] zum Vorort des nächsten Kongresses gewählt. Helm - Danzig [* 11] sprach über die chemische Zusammensetzung der westpreußischen Bronzen. Er fand besonders bei einer beträchtlichen Zahl von Exemplaren der ältesten Zeit einen auffallend hohen Antimongehalt. Da in einzelnen Fällen dieser Gehalt auf 7 Proz. steigt, so ist die Annahme ausgeschlossen, daß das Antimon durch irgend einen Zufall in die Bronze [* 12] gelangt sei. Von großem Wert sind daher die Angaben Virchows über prähistorische Gewinnung und Verarbeitung von Antimon im Kaukasus.
Die Frage, wie das heute so seltene Antimon in die prähistorischen Bronzen gelangt sei, glaubt Helm damit beantworten zu können, daß zu Anfang der Bronzezeit noch viel herumexperimentiert wurde, um die vorteilhafteste Mischung herauszubekommen. Unterstützt wird diese Annahme dadurch, daß einzelne Legierungen aus 6-8 Metallen zusammengeschmolzen sind. Waldeyer - Berlin [* 13] sprach über die sogen. Reilsche Insel und die Sylvische Furche des Gibbon und die bei den übrigen menschenähnlichen Affen, [* 14] dem Orang-Utan, Gorilla und Schimpanse, vorhandenen entsprechenden Bildungen.
Die Inselwindungen dieser Affen zeigen stufenweise eine Fortentwickelung vom Gibbon bis zum Schimpanse, indem sich der Orang-Utan unmittelbar an den Gibbon anlehnt, der Gorilla eine weitere Ausbildung aufweist, der Schimpanse aber die höchste Stufe unter den Geschöpfen dieser merkwürdigen Gruppe erreicht. Wenn auch die Grundform der Insel bei den Anthropoiden und dem Menschen dieselbe ist, so zeigt sich doch zwischen dem letztern und dem Schimpanse in der Ausbildung der Inselfurchung eine auffallende Kluft.
Die Zahl der Windungen ist beim Menschen größer, namentlich hat der untere oder temporale Lappen der Insel, welcher bei den Anthropoiden windungsfrei bleibt oder höchstens schwache Spuren von Windungen zeigt, beim Menschen 3-4 deutliche Windungen. Ein Fall von erblicher Zwerghaftigkeit, welchen Lissauer - Danzig vorstellte, regte lebhaften Meinungsaustausch an. Es handelte sich um einen 42jährigen Bernsteinarbeiter, dessen Beine und Arme außerordentlich kurz sind.
Das infolgedessen sehr kleine Männchen hat eine normal gebaute Person zur Frau, und aus dieser Ehe sind zwei Mädchen hervorgegangen, von denen das ältere, jetzt zehnjährige, die Zwergnatur des Vaters, das jüngere, jetzt vierjährige, den normalen Bau der Mutter geerbt hat, so daß das vierjährige Kind ganz erheblich größer ist als das zehnjährige. Ranke - München [* 15] sprach über das Verhältnis des Schädels zum Gehirn [* 16] beim Tier und beim Menschen. Unter Vorlegung von verschiedenartigen Schädeln suchte er den Nachweis zu führen, daß die räumliche Ausbildung des Gehirns von entscheidendem Einfluß auf den Unterschied in der Form des menschlichen und tierischen Schädels ist. Je stärker entwickelt das Gehirn, um so mehr werden die vordern Schädelteile weiter nach vorn gedrängt, in demselben Verhältnis treten dann die untern Gesichtsteile gegen die obern zurück, und der tierische Prognathismus, die Schnauzenbildung, verschwindet, um der reinern menschlichen Gesichtsform zu weichen.
Mies - Berlin und Rabl - Gratz sprachen über Schädelmessung, darauf berichtete ersterer über die Feststellung der Persönlichkeit für polizeiliche oder gerichtliche Zwecke durch Körpermessung. Die Photographische Fixierung von Leuten, die man sicher wiederkennen will, genügt aus naheliegenden Gründen nicht, namentlich nicht in großen Städten, wo die Blätter des »Verbrecheralbums« ungemein zahlreich werden. Die früher übliche Brandmarkung ¶
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mit glühendem Eisen [* 18] kommt heute nicht mehr in Frage, die gelindere Tättowierung ist nicht untrüglich, da man, wie es scheint, ausreichenden Methoden auf der Spur ist, dieselbe zu beseitigen (Einreiben von Milch in die durch Nadelstiche zugänglich gemachte Haut [* 19] der tättowierten Stelle), Viel zuverlässiger erscheint Bertillons »anthropometrisches Signalement« (s. den folgenden Artikel), welches in Frankreich sich gut bewährt hat und auch bei uns eingeführt werden dürfte. Dabei sind gewisse Einflüsse zu berücksichtigen, welche Körpermaße, namentlich die Körperlänge ändern und von Simulanten benutzt werden können.
Morgens ist der Mensch gewöhnlich größer als abends, weil nach längerer Beschäftigung in aufrechter Stellung die zwischen den Wirbeln liegenden Scheiben zusammengedrückt werden. Auch durch nachlässige Haltung kann man sich kleiner machen. Wer nur wenig mehr als Militärmaß besitzt und die Nacht vor der Messung stehend und gehend verbracht hat, auch sich nachlässig hält, kann leicht als zu klein für den Militärdienst befunden werden. Sombathy - Wien [* 20] sprach über die Auffindung einer Bronze-Situla vom Typus derer von Bologna und Match.
Die neue Situla wurde bei Göttweih in Niederösterreich entdeckt und ist demnach die nördlichste unter sämtlichen ihresgleichen. Der dorische Typus ihrer getriebenen Ornamente [* 21] weist auf südliche Abstammung hin. Dorr - Elbing [* 22] berichtete über seine Forschungen an den zahlreichen Steinkistengräbern in der Gegend von Elbing und knüpfte an die Beschreibung der Funde Erörterungen über die vormalige Besiedelung der Elbinger Gegend. Dabei erwähnte er eine Stelle des Plinius, wo Pytheas von den Goten erzählt, daß sie die Küste des aestuarium oceani bewohnten, da, wo die Bernsteininsel Abalus zu Schiffe [* 23] leicht in einem Tag erreicht werden könne.
Vortragender wandte sich gegen die Deutung, daß die Bernsteininsel nach der Nordsee zu verlegen sei, weil aestuarium das der Ebbe und Flut ausgesetzte Land bedeutet, und führte aus, daß man wohl auch annehmen könne, es habe der häufige, durch Nordwind verursachte Aufstau des Haffwassers, welcher in früherer Zeit jedesmal zur Überflutung des damals noch nicht durch die Dämme geschützten Landes führte, Anlaß zu der Anwendung des Wortes Ästuarium [* 24] geboten. An der Nordsee gab es nun einmal keinen Bernstein [* 25] (Olshausen hat dieser Annahme gegenüber darauf hingewiesen, daß die Nordsee keineswegs völlig frei von Bernstein ist, und daß anderseits die Elbinger Gegend zu wenig Funde ergeben hat, um als das von Plinius gemeinte Land gelten zu können).
Grempler - Dresden [* 26] sprach über die Merowinger Fibel. Er suchte nachzuweisen, daß der sogen. Merowinger Typus eigentlich als gotischer Typus bezeichnet werden müsse. Auf der Krim [* 27] hat er nämlich in Kertsch Fibeln [* 28] gefunden, welche ihrem Aussehen nach zu dem merowingischen Typus zu rechnen sind. Lissauer sprach über den Formenkreis der slawischen Schläfenringe. Er erörterte zunächst die verschiedenen Formen, welche diese Ringe an andern Orten, hauptsächlich aber in Ungarn, [* 29] Böhmen [* 30] und Polen zeigen.
Obgleich seit dem Jahr 1877, wo Sophus Müller diese Ringe bereits für slawischen Ursprungs erklärte, etwa sechsmal soviel wie in frühern Jahren gefunden worden sind, hat man dennoch bisher keine Ursache gehabt, von dieser Anschauung abzuweichen. Von großer Bedeutung sind die Funde, welche bei Keszthely in Ungarn gemacht wurden; man brachte hier unter anderm Schläfenringe zu Tage, welche 3-5mal schlangenförmig gewunden waren, also von der gewöhnlichen Form vollkommen abwichen. Allerwärts, wo Slawen herrschten, sind von der Zeit der Völkerwanderung an diese schlangenförmigen Ringe bis zu Anfang dieses Jahrtausends deutlich nachzuweisen. Buschan - Kiel [* 31] legte eine Sammlung von Samen [* 32] prähistorischer Kulturpflanzen vor. Bedeutend sind unter diesen besonders spanische Funde, welche von den Gebr. Siret gemacht wurden und Aufschlüsse über den Zeitpunkt des ersten Auftretens gewisser Kulturpflanzen in Spanien [* 33] gaben.