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Zöckler in
Greifswald
[* 2] eine Kundgebung erlassen, welche ein seither reichlich und unausgesetzt verwertetes
Material liefert
für alle diejenigen, die sich jenes ungebetenen
Gastes gern auf die kürzeste
Weise entledigen mochten. Die
Broschüre stellt
die biblische
Kritik ganz wie eine
wilde Jagd des
Satans dar. »Die besonnen sein Wollenden werden immer
wieder von
Ultras überholt; hinter der halben Zerstörungsarbeit eines
Baur her kommt
Bruno
Bauer als Vollbringer des Ganzen«
(S. 27). »Das
Prinzip ist für beide das gleiche; der Unterschied liegt nur in der mehr oder minder konsequenten Handhabung«
(S. 28). Da begegnen wir gleich in Bezug auf die
Kritik des
Pentateuchs, welche dermalen den beliebtesten
Tummelplatz tendenzkritischer Abenteuerlust abgebe, einer dichtgedrängten
Reihe von Kritikern, »und ein jeder behauptet,
die allein wahre
Theorie gefunden zu haben«, »ein schwer zu überschauendes
Chaos disparater Meinungen:
quot capita, tot
sententiae«
(S. 36).
Das ist so recht ein Muster einer am unrechten Orte angebrachten Advokatenberedsamkeit. Zugegeben, daß sie einzelne Extravaganzen der Eitelkeit und Rechthaberei treffend kennzeichnen mag, so entspricht sie den Thatsachen im großen und ganzen keineswegs. Wenn vielmehr irgendwo sich von einem positiven Erfolg der Wissenschaft reden läßt, so ist solches auf dem Gebiete der alttestamentlichen Forschung der Fall. Der Grundgedanke wenigstens hat durch geschlagen, demzufolge künftig die Propheten als Schöpfer der altisraelitischen Religion zu gelten haben werden, während der angeblich mosaische Pentateuch zur nachgehenden Kodifikation des religiösen Brauches herabgesunken ist.
Das Zusammentreffen der verschiedensten, noch am Leben und in litterarischer Wirksamkeit befindlichen Forscher, eines Reuß [* 3] in Straßburg [* 4] (inzwischen, verstorben), eines Kuenen in Leiden, [* 5] Wellhausen in Marburg, [* 6] die Anerkennung, welche ihre Resultate bei Sachkundigen der verschiedensten Richtungen, wie z. B. Kautzsch, Stade [* 7] und Siegfried, vor allem auch in der 4. Auflage der »Alttestamentlichen Theologie« von H. Schultz (1889) gefunden haben, macht schon an sich einen verblüffenden Eindruck.
Das Resultat selbst aber sieht doch ganz aus, wie wenn eine auf die Spitze gestellte und darum stets mühsamer Stützversuche bedürftige Pyramide durch einfaches Umdrehen auf ihre natürliche Basis gestellt worden wäre. In der That war das Alte Testament durch die rabbinische Redaktion des Kanons mit der Reihenfolge: Gesetz, Propheten, Psalmen zu einem vollständigen Rätsel geworden, indem es die Vorstellung zu bilden nötigte, als habe die altisraelitische Religion mit einem Gesetz angefangen: ein Gedanke, gleich unvollziehbar an sich wie angesichts der angeblich auf das Gesetz erst folgenden prophetischen Litteratur. Aber man mag dieses Resultat auch zurückweisen; man mag auf Lücken der Beweisführung hinweisen und sich auf die Vorsicht berufen, welche z. B. Graf Baudissin in seiner »Geschichte des alttestamentlichen Priestertums« (Leipz. 1889) übt: der Standpunkt der modernen Kritik an sich ist so gut wie allenthalben auf dem Gebiet alttestamentlicher Forschung anerkannt.
Zetert doch die »Kirchliche Monatsschrift« darüber, alles sehe so aus, »als ob der moderne Professorenunglaube schon das Besitzrecht in der Kirche unbestritten in Händen hätte« (S. 816). Die Wahrheit ist diese: soweit hier überhaupt wissenschaftlich gearbeitet wird, soweit geschieht solches auch vermittelst der historisch-kritischen Methode, und selbst die Resultate stehen sich keineswegs, wie auf neutestamentlichen Gebiet wenigstens teilweise noch der Fall ist, direkt gegenüber, sondern unterscheiden sich nur insofern, als die einen unbekümmerter, vielleicht rücksichtsloser voranschreiten, die andern dagegen von dem überlieferten Bestand wenigstens das zu retten suchen, was noch einigermaßen gehen und stehen kann (vgl. Siegfried, S. 115). Aber wie steht es mit der neutestamentlichen Kritik? Über die Ziellosigkeit gerade ihrer Wege wird ja vorzugsweise geklagt.
Zöckler glaubt eine gänzliche »Zersplitterung und Zerfahrenheit« konstatieren zu sollen und exemplifiziert dies an einzelnen neutestamentlichen Büchern, wie erster Petrus-, Jakobus- und Hebräerbrief, die sogen. paulinischen Gefangenschaftsbriefe und Apokalypse (S. 38 f.): eine solche Kritik habe das sic et non Abälards zur Signatur (S. 42). »Eine Wissenschaft, welche ein Chaos unbewiesener Hypothesen als ausgemachte Thatsachen darbietet, kann uns kein sonderliches Vertrauen zur Richtigkeit und Leistungsfähigkeit ihrer Methode einflößen« (S. 49). Sonach könnte, wer den Gang [* 8] der neutestamentlichen Forschung kennzeichnen sollte, seiner Aufgabe am besten durch eine beliebige, nur möglichst krause Schnörkelei genügen. Aber entspräche ein solches Bild der Wirklichkeit? Für diese Frage mochten wir uns noch einige Aufmerksamkeit erbitten.
Seit wann gibt es im theologischen Durchschnittsbewußtsein eine neutestamentliche Kritik in dem Sinn, wie hier davon die Rede ist, also nicht als Textkritik, sondern als sogen. innere Kritik, die ihr Absehen auf Darlegung der Entstehung und Kompositionsweise, des Zweckes und Zeitalters der einzelnen Bücher, welche zusammen das Neue Testament bilden, gerichtet hat? Für uns Deutsche [* 9] wenigstens existiert eine solche seit der großartigen Thätigkeit zweier gerade vor 100 Jahren verstorbener Gelehrten, des Göttingers Johann David Michaelis und des Hallensers Johann Salomo Semler.
Jener schließt das Alte ab, indem er allenthalben die Brüchigkeit desselben erkennen läßt; dieser behaut lauter Steine zum Neubau und stellt das Programm für die kommende Periode fest. Wie lautet dieses Programm? Der Kanon des Neuen Testaments ist das Werk der alten katholischen Kirche und kann schon darum als solcher nicht wohl bindende, autoritative Kraft [* 10] für die protestantische Theologie und Kirche besitzen. In der That beweisen schon Luthers bekannte freie Urteile über einzelne Teile dieses Kanons, daß man sich des Rechtes, wie an dem ganzen überkommenen Bestand von Kirchentum und theologischem Betrieb, so auch speziell an diesem Besitztitel Kritik üben zu dürfen, vollkommen bewußt gewesen ist.
Die Gründe, mit welchen er die Autorität einzelner Bücher angefochten hat, sind zwar zum Teil der Art und Weise, wie solche Bücher geschichtlich bezeugt waren, zum Teil aber auch der litterarischen Form, welche sie aufweisen, zum Teil endlich geradezu dem Inhalt entnommen, sofern derselbe dem Geiste der Hauptschriften nicht homogen erschien. Nach allen diesen Richtungen verfügte nun schon das geschulte Urteil von Theologen wie Michaelis und Semler, verfügt vollends unser heutiges Urteil über ein ungleich größeres Maß von Anhalts- und Angriffspunkten. Dies schon darum, weil das Material, mit welchem gearbeitet und welches verarbeitet werden muß, ungemein gewachsen ist. Schon Semler war darum der Überzeugung, daß der gelehrten Theologie seiner Zeit dasselbe Recht zustehen müsse wie der Theologie derjenigen, die 200 Jahre zuvor in Luthers Nachfolge verschiedene Rangordnungen neutestamentlicher Bücher aufzustellen sich nicht gescheut haben und dabei im übrigen ¶
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Theologen von anerkannter Rechtgläubigkeit geblieben waren. Auch die neutestamentliche Litteratur wurde deshalb bisher bei uns nach denselben Gesetzen verwertet, welchen alle menschliche Schriftstellerei unterliegt, d. h. man beurteilte die Verfasserschaft, Zeitlage u. Tendenz einer Schrift, statt nach der kirchlichen Tradition, vielmehr nach historischen Analogien und innerer Wahrscheinlichkeit aus dem litterarischen Produkt selbst heraus. Auf diesem Wege stellte sich schon dem genannten Bahnbrecher eine gewisse Gegensätzlichkeit zwischen Paulinischer und judenchristlicher Litteratur im Neuen Testament heraus und erschienen ihm die katholischen Briefe als Ausgleichsversuche.
Insonderheit läuft auch schon bei Semler die Scheidelinie mitten durch die Johanneische Litteratur hindurch, indem das vierte Evangelium auf die Paulinische, die Apokalypse auf die judenchristliche Seite zu liegen kam. Und so wenig wie die Apokalypse vom vierten Evangelisten, so wenig konnte der Hebräerbrief von Paulus geschrieben sein, trotz der fast anderthalbtausendjährigen Tradition, die ihn als 14. Paulusbrief kennzeichnete. Der erste Petrusbrief schien kaum mehr als unmittelbare apostolische Schrift gelten zu können; der zweite aber samt dem Judasbrief wurde in das 2. Jahrh. verwiesen.
Sehen [* 12] wir nun von dieser Semlerschen Position auf die heutige Sachlage herüber, so zeigt sich uns auf den ersten Blick eine wesentliche Verwandtschaft. Alle Hauptprobleme sind dieselben geblieben, ja die Resultate waren vor 100 Jahren zum guten Teil schon antizipiert, wenn auch noch nicht methodisch richtig erreicht. Der ganze Strom der neutestamentlichen Kritik hat, weit davon entfernt, in hundert Bächlein nach allen Weltgegenden zu verlaufen, gleich von vornherein ein Fahrwasser gebildet, welches nur immer tiefer und breiter wurde, aber keine grundsatzmäßige Ablenkung aus der einmal genommenen Richtung erfahren hat. Was heute Zöckler und Genossen bekämpfen, sind im wesentlichen die Semlerschen Aufstellungen, und die gleichen Aufstellungen sind es auch, darin sich mit unwesentlichen Abweichungen im Detail die Vertreter aller kritischen Richtungen und Schulen zusammenfinden.
Indem wir diese Behauptung aufstellen, haben wir die Epoche der sogen. Tübinger Schule keineswegs übersehen. Allerdings kennzeichnet gerade der Gegensatz zu dieser Schule die Sachlage heute noch ebensogut wie fast seit 40-50 Jahren, und der auf der Gegenseite stehenden Namen von gutem, wissenschaftlichem Klange sind heute sogar mehr als damals Liegt in dieser Thatsache nicht die Widerlegung unserer Behauptung? Ist die Kontinuität und Geradlinigkeit der Entwickelung damit nicht aufgehoben? Folgende Punkte sind es, welche man behufs einer richtigen Beurteilung der Lage nicht aus dem Auge [* 13] verlieren muß.
Erstlich war die Tübinger Richtung nichts absolut Neues, sondern lag durchaus in der von Semler gewiesenen Linie. Es waren die Semlerschen Grundanschauungen, nur solider fundamentiert, starker befestigt, sorgfältiger ausgebaut, vor allem in einen großartigen historischen Zusammenhang eingefügt. »Die historische Schule innerhalb der Theologie«, diese Bezeichnung, welche Baur und Zeller dem von der Gegnerschaft beliebten Namen »Tendenzkritik« entgegensetzten, entsprach den Thatsachen und war vollkommen berechtigt.
Zweitens aber berührte diese Gegnerschaft selbst, soweit sie ernst zu nehmen war, keineswegs in erster Linie Fragen der litterarisch-historischen Kritik, sondern es handelte sich namentlich seit Ritschls Auftreten um die geschichtliche Situation und Konstellation überhaupt, darunter das Urchristentum sich zur katholischen Kirche fortgebildet und ausgestaltet hat. Es handelte sich namentlich darum, ob dem Judenchristentum eine so allbedingende und durchgreifende Bedeutung im christlichen Altertum zukomme, daß ihm die Existenz der Kirche selbst zum besten Teile auf die Rechnung geschrieben werden kann, oder ob diese Kirche nicht vielmehr als eine heidenchristliche Stiftung zu begreifen sei. Es handelte sich darum, ob das Durchschnittsbewußtsein des nachapostolischen Zeitalters nach alttübingischem Rezept aus dem allmählichen Ausgleich beider Richtungen oder nicht ungleich besser aus den religiösen Dispositionen zu erklären sei, welche die heidnischen Massen, wenn sie in die Kirche hineindrangen, mitbrachten.
Nur in der Beantwortung solcher Fragen stehen die Vertreter der Ritschlschen Konstruktion seit einem Menschenalter in geschlossener Reihe der alttübingischen Auffassung gegenüber. Aber trotzdem darf Karl Weizsäcker in seiner als Kanzler der Universität Tübingen [* 14] gehaltenen Rede von Baur sagen: »Der Grundgedanke ist geblieben, und ich wußte nicht, wie das anders werden sollte, wenn man nicht die Dinge auf den Kopf stellen will. Die ersten Christen waren Juden.« Im übrigen hat freilich auch die kritische Schule im weitern Sinne, wie sie mit der Zeit aus der Tübinger Keimzelle erwachsen ist, wesentliche Konzessionen gemacht und sich nicht wenige Gesichtspunkte angeeignet, welche geradezu als Korrekturen des Tübinger Programms gelten müssen. So sind viele alte Kontroversen mit der Zeit hinter neuen Streitfragen, die sich aus der veränderten Gesamtanschauung ergeben haben, zurückgetreten, und über dem allen ist das Geschichtsbild des Urchristentums wesentlich bereichert worden. Man vergleiche nur etwa den ersten Band [* 15] des »Lehrbuchs der Dogmengeschichte« von dem von Ritschl ausgegangenen jetzigen Berliner [* 16] Professor Adolf Harnack (2. Aufl. 1888) mit dem 30 Jahre ältern Buche Baurs über »Das Christentum der drei ersten Jahrhunderte«.
Ganz anders aber liegt die Sache, sobald man wieder zu den speziell neutestamentlichen Fragen zurückkehrt und die Beurteilung der einzelnen Schriften nach ihrer Entstehung, Echtheit und Abzweckung ins Auge faßt. Hier gibt es keine gemeinsame Fahne der Schüler Ritschls mehr, sondern nur eine mehr oder weniger weit gediehene Annäherung an die Aufstellungen der Tübinger Schule. Als Illustration dient die Stellung, welche zwei der hervorragendsten Schüler Baurs heute einnehmen: auf der einen Seite sein Nachfolger Karl Weizsäcker, der sich auf so vielen Punkten mit Ritschl und den konservativern Strömungen berührte, auf der andern sein schwäbischer Landsmann in Berlin, [* 17] Otto Pfleiderer, welcher wie auf systematischem, so auf historisch-kritischem Boden den Gegensatz zu Ritschl darstellt.
Von jenem haben wir das hervorragende Werk: »Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche« (1886, mit Register 1889),
von diesem die lichtvolle Darstellung: »Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren [* 18] in geschichtlichem Zusammenhang« (1887). Untersucht und vergleicht man beide Werke auf ihre Stellung zu den Fragen der neutestamentlichen Einleitung, so weisen sie ein auf allen Hauptpunkten ganz übereinstimmendes Gepräge auf. Insonderheit sind die Negationen (die Suche nach solchen beschäftigt ja die gegnerische Presse [* 19] vorzugsweise) in beiden Büchern fast durchweg dieselben. Was ist also schließlich das Resultat der zwischen ¶