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auf, aber wirklich gelesen wird da und dort einmal ein Artikel, auf welchen als auf ein besonders merkwürdiges Zeichen der Zeit vielleicht ein guter Freund aufmerksam gemacht hat. Sollte es durchs geschriebene und gedruckte Wort, bez. durchs Papier allein geschehen, so müßten die kirchlichen Bestrebungen längst in unserm Volke zum unbestrittenen Siege gelangt und die von der Kirche erhoffte Niederlage der Sozialdemokratie zur Thatsache geworden sein. Beiläufig sei noch erwähnt, daß das zuletzt Gesagte von der römisch-katholischen Presse [* 2] so gut wie von der evangelisch-protestantischen gilt.
Täuscht uns nicht alles, so ist es eigentlich nur ein Gebiet der theologischen Forschung, welches heute einer verständnisvollen Beachtung von seiten der auf Erweiterung des geistigen Horizonts bedachten Zeitgenossen sicher sein kann: das ist das Gebiet der biblischen Kritik. Eine Bibel [* 3] findet man ja immerhin noch in fast allen Häusern der protestantisch-christlichen Gemeinde. Sie gilt daher als der trockne und feste Rückstand, gleichsam als das Caput mortuum jener chemischen Prozesse, in welchen sich die alte Gläubigkeit im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte zersetzt hat.
Für eine große Zahl von Personen gilt als grundsätzlich entscheidend die Frage, ob die heutige Theologie es thatsächlich leisten und moralisch verantworten kann, die überkommene Stellung zur Bibel als dem unfehlbaren Gotteswort, der von Gottes Geist eingegebenen Quelle [* 4] und Norm aller Lehre, [* 5] dem bewährten Maßstab [* 6] jeder auf religiöse Geltung Anspruch erhebenden Gottes- und Weltanschauung angesichts der Forderungen und Leistungen der modernen Kritik noch ferner festzuhalten.
Wie sehr diese Frage auch der zünftigen Theologie auf dem Herzen lastet und auf dem Gewissen brennt, beweist ein Rückblick auf die Verhandlungsgegenstände der theologischen Versammlungen und pastoralen Konferenzen in den Jahren 1889 u. 1890. Auf dem Sammelpunkt der exklusiv konfessionellen Geistlichkeit des Königreichs Sachsen, [* 7] der sogen. Chemnitzer Konferenz, beleuchtete der Dresdener Oberkonsistorialrat Löber »die gesicherten Resultate der Bibelkritik und das von uns verkündigte Gotteswort«.
Dieser Vortrag ist 1890 schon in dritter Auflage erschienen. Am folgte auf der theologischen Konferenz zu Gieben der Pfarrer Eibach mit einem Vortrag über »die wissenschaftliche Behandlung und praktische Benutzung der Heiligen Schrift«. Vielfach ähnliche Sorgen und Noten veranlaßten 17. Juli auf einer Versammlung des oberhessischen Vereins für innere Mission den Pfarrer Rieger, »über die Abnahme der Bibelkenntnis in der Gemeinde« zu reden. Unter Beschränkung auf die größere und schwierigere Hälfte des Bibelinhalts behandelte auf dem Thüringer Kirchentag 25. Sept. der Jenaer Professor Siegfried »die historische und die theologische Bedeutung des Alten Testamentes«.
Zum Beweis dafür, daß die Frage dermalen wirklich um die Welt geht, erschien dann im J. 1890 ein vor der St. John Clerical Association von Neubraunschweig (Britisch-Amerika) gehaltener Vortrag von J. ^[John] de Soyres über »Christianity and biblical criticism«. Am 5. Juni d. J. sprach vor der Berliner [* 8] Pastoralkonferenz der Greifswalder Professor Schlatter über »die Bedeutung des Wortes Gottes für die evangelische Kirche und die negative Kritik«. In Straßburg [* 9] setzte die Pastoralkonferenz der Reichslande für ihre Versammlung vom 3. Juni die Frage nach »Bibelkritik und Gemeindeerbauung« auf die Tagesordnung.
Eine ebendaselbst 5. Juni tagende Konferenz lutherischer Pastoren verhandelte über »Bibel und Wort Gottes«. Auf der Jahresversammlung des badischen Predigervereins in Karlsruhe [* 10] 2. Juli wurde ein Vortrag gehalten über »die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Bibelkritik und Christenglauben«. Das Verzeichnis könnte noch erheblich erweitert werden, zumal wenn die nebenher gehende Tageslitteratur mit berücksichtigt würde. In dieser Beziehung sei an gegenwärtigem Orte die Kontroverse erwähnt, welche sich in Württemberg [* 11] entsponnen hat, wo der Tübinger Professor Robert Kübel vor einer nicht ausschließlich aus Theologen bestehenden Zuhörerschaft einen Vortrag »über das Wesen und die Aufgabe der bibelgläubigen Theologie« (Stuttg. 1889) gehalten hat, welcher sofort in einem »Zur Bibelfrage« überschriebenen offenen Briefe des schwäbischen Pfarrers Eisele an den Vortragenden eine Erwiderung gefunden hat, welche fast den Eindruck macht, als sei der Pfarrer der Professor, der Professor aber, wenn nicht ein obskurer Pietistenhäuptling, so doch mindestens kein Mann, welcher die Schwierigkeiten der heutigen Sachlage zu begreifen und ihnen gerecht zu werden vermag. Schließlich sei, um die Aktualität dieses Themas darzuthun, noch auf den in England mit Heißhunger verschlungenen, auch ins Deutsche [* 12] übersetzten Roman »Robert Elsmere« von Miß Ward hingewiesen, der sich ja ganz um die Frage dreht, ob und wie ein an seinem Bibelglauben irre gewordener Diener der Kirche noch eine religiös und sittlich fruchtbare Wirksamkeit entfalten könne. Die Laufbahn des Helden scheitert nämlich an dieser Klippe.
Mag man aber auch in der englischen Staatskirche nicht begreifen, wie ein Diener des Evangeliums sich herausnehmen könne, hinsichtlich der Entstehung der biblischen Bücher Ansichten zu huldigen, welchen in Deutschland [* 13] fast kein Schulknabe, trotzdem daß es ihm im staatlich erteilten Religionsunterricht merkwürdigerweise gewöhnlich geradezu verboten wird, sich entziehen kann, so sollte man denken, wenigstens die deutsche Theologie und Kirche müsse stolz sein auf die in ihrem Schoße erwachte und mit so viel Hingebung und Erfolg gepflegte biblische Kritik.
Man sollte denken, es müsse allerorts dankbarst empfunden werden, daß eine solche Kritik da ist und die biblischen Urkunden von dem Verdacht, eine erschwindelte Ausnahmestellung in der Litteratur des Altertums beanspruchen zu wollen, ein für allemal befreit hat. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. In den Kreisen, für welche die »Kirchliche Monatsschrift« gedruckt wird und Persönlichkeiten wie der Berliner Hofprediger a. D. Stöcker maßgebende Autoritäten sind, proklamiert man die biblische Kritik offen als ein Unglück und Verhängnis, welches über die evangelische Kirche in demselben Augenblick hereingebrochen sei, da sie im Kampfe mit den auflösenden Gewalten der sozialistischen Anarchie und der römischen Hierarchie eines festen Standpunktes mehr denn je bedurft hätte.
»Die Kritik hat einen dämonischen Charakter, die kritischen Theologen sind viel gefährlicher als die Sozialisten.« So das Organ der Berliner Hofpredigerpartei. Aber auch in den gemäßigten Zonen unsers heutigen Kirchentums ist die biblische Kritik anerkanntermaßen ein immerhin mit unverkennbarem Mißtrauen beobachteter, nicht eben gern gesehener Gast, den man vielleicht höflich empfängt, vor dem man aber doch gleichzeitig allzu vertrauensvolle Seelen nicht genug warnen zu können glaubt. »Wider die unfehlbare Wissenschaft: eine Schutzschrift für konservatives theologisches Forschen und Lehren«, [* 14] unter diesem Titel hat schon 1887 Prof. ¶
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Zöckler in Greifswald [* 16] eine Kundgebung erlassen, welche ein seither reichlich und unausgesetzt verwertetes Material liefert für alle diejenigen, die sich jenes ungebetenen Gastes gern auf die kürzeste Weise entledigen mochten. Die Broschüre stellt die biblische Kritik ganz wie eine wilde Jagd des Satans dar. »Die besonnen sein Wollenden werden immer wieder von Ultras überholt; hinter der halben Zerstörungsarbeit eines Baur her kommt Bruno Bauer als Vollbringer des Ganzen« (S. 27). »Das Prinzip ist für beide das gleiche; der Unterschied liegt nur in der mehr oder minder konsequenten Handhabung« (S. 28). Da begegnen wir gleich in Bezug auf die Kritik des Pentateuchs, welche dermalen den beliebtesten Tummelplatz tendenzkritischer Abenteuerlust abgebe, einer dichtgedrängten Reihe von Kritikern, »und ein jeder behauptet, die allein wahre Theorie gefunden zu haben«, »ein schwer zu überschauendes Chaos disparater Meinungen: quot capita, tot sententiae« (S. 36).
Das ist so recht ein Muster einer am unrechten Orte angebrachten Advokatenberedsamkeit. Zugegeben, daß sie einzelne Extravaganzen der Eitelkeit und Rechthaberei treffend kennzeichnen mag, so entspricht sie den Thatsachen im großen und ganzen keineswegs. Wenn vielmehr irgendwo sich von einem positiven Erfolg der Wissenschaft reden läßt, so ist solches auf dem Gebiete der alttestamentlichen Forschung der Fall. Der Grundgedanke wenigstens hat durch geschlagen, demzufolge künftig die Propheten als Schöpfer der altisraelitischen Religion zu gelten haben werden, während der angeblich mosaische Pentateuch zur nachgehenden Kodifikation des religiösen Brauches herabgesunken ist.
Das Zusammentreffen der verschiedensten, noch am Leben und in litterarischer Wirksamkeit befindlichen Forscher, eines Reuß [* 17] in Straßburg (inzwischen, verstorben), eines Kuenen in Leiden, [* 18] Wellhausen in Marburg, [* 19] die Anerkennung, welche ihre Resultate bei Sachkundigen der verschiedensten Richtungen, wie z. B. Kautzsch, Stade [* 20] und Siegfried, vor allem auch in der 4. Auflage der »Alttestamentlichen Theologie« von H. Schultz (1889) gefunden haben, macht schon an sich einen verblüffenden Eindruck.
Das Resultat selbst aber sieht doch ganz aus, wie wenn eine auf die Spitze gestellte und darum stets mühsamer Stützversuche bedürftige Pyramide durch einfaches Umdrehen auf ihre natürliche Basis gestellt worden wäre. In der That war das Alte Testament durch die rabbinische Redaktion des Kanons mit der Reihenfolge: Gesetz, Propheten, Psalmen zu einem vollständigen Rätsel geworden, indem es die Vorstellung zu bilden nötigte, als habe die altisraelitische Religion mit einem Gesetz angefangen: ein Gedanke, gleich unvollziehbar an sich wie angesichts der angeblich auf das Gesetz erst folgenden prophetischen Litteratur. Aber man mag dieses Resultat auch zurückweisen; man mag auf Lücken der Beweisführung hinweisen und sich auf die Vorsicht berufen, welche z. B. Graf Baudissin in seiner »Geschichte des alttestamentlichen Priestertums« (Leipz. 1889) übt: der Standpunkt der modernen Kritik an sich ist so gut wie allenthalben auf dem Gebiet alttestamentlicher Forschung anerkannt.
Zetert doch die »Kirchliche Monatsschrift« darüber, alles sehe so aus, »als ob der moderne Professorenunglaube schon das Besitzrecht in der Kirche unbestritten in Händen hätte« (S. 816). Die Wahrheit ist diese: soweit hier überhaupt wissenschaftlich gearbeitet wird, soweit geschieht solches auch vermittelst der historisch-kritischen Methode, und selbst die Resultate stehen sich keineswegs, wie auf neutestamentlichen Gebiet wenigstens teilweise noch der Fall ist, direkt gegenüber, sondern unterscheiden sich nur insofern, als die einen unbekümmerter, vielleicht rücksichtsloser voranschreiten, die andern dagegen von dem überlieferten Bestand wenigstens das zu retten suchen, was noch einigermaßen gehen und stehen kann (vgl. Siegfried, S. 115). Aber wie steht es mit der neutestamentlichen Kritik? Über die Ziellosigkeit gerade ihrer Wege wird ja vorzugsweise geklagt.
Zöckler glaubt eine gänzliche »Zersplitterung und Zerfahrenheit« konstatieren zu sollen und exemplifiziert dies an einzelnen neutestamentlichen Büchern, wie erster Petrus-, Jakobus- und Hebräerbrief, die sogen. paulinischen Gefangenschaftsbriefe und Apokalypse (S. 38 f.): eine solche Kritik habe das sic et non Abälards zur Signatur (S. 42). »Eine Wissenschaft, welche ein Chaos unbewiesener Hypothesen als ausgemachte Thatsachen darbietet, kann uns kein sonderliches Vertrauen zur Richtigkeit und Leistungsfähigkeit ihrer Methode einflößen« (S. 49). Sonach könnte, wer den Gang [* 21] der neutestamentlichen Forschung kennzeichnen sollte, seiner Aufgabe am besten durch eine beliebige, nur möglichst krause Schnörkelei genügen. Aber entspräche ein solches Bild der Wirklichkeit? Für diese Frage mochten wir uns noch einige Aufmerksamkeit erbitten.
Seit wann gibt es im theologischen Durchschnittsbewußtsein eine neutestamentliche Kritik in dem Sinn, wie hier davon die Rede ist, also nicht als Textkritik, sondern als sogen. innere Kritik, die ihr Absehen auf Darlegung der Entstehung und Kompositionsweise, des Zweckes und Zeitalters der einzelnen Bücher, welche zusammen das Neue Testament bilden, gerichtet hat? Für uns Deutsche wenigstens existiert eine solche seit der großartigen Thätigkeit zweier gerade vor 100 Jahren verstorbener Gelehrten, des Göttingers Johann David Michaelis und des Hallensers Johann Salomo Semler.
Jener schließt das Alte ab, indem er allenthalben die Brüchigkeit desselben erkennen läßt; dieser behaut lauter Steine zum Neubau und stellt das Programm für die kommende Periode fest. Wie lautet dieses Programm? Der Kanon des Neuen Testaments ist das Werk der alten katholischen Kirche und kann schon darum als solcher nicht wohl bindende, autoritative Kraft [* 22] für die protestantische Theologie und Kirche besitzen. In der That beweisen schon Luthers bekannte freie Urteile über einzelne Teile dieses Kanons, daß man sich des Rechtes, wie an dem ganzen überkommenen Bestand von Kirchentum und theologischem Betrieb, so auch speziell an diesem Besitztitel Kritik üben zu dürfen, vollkommen bewußt gewesen ist.
Die Gründe, mit welchen er die Autorität einzelner Bücher angefochten hat, sind zwar zum Teil der Art und Weise, wie solche Bücher geschichtlich bezeugt waren, zum Teil aber auch der litterarischen Form, welche sie aufweisen, zum Teil endlich geradezu dem Inhalt entnommen, sofern derselbe dem Geiste der Hauptschriften nicht homogen erschien. Nach allen diesen Richtungen verfügte nun schon das geschulte Urteil von Theologen wie Michaelis und Semler, verfügt vollends unser heutiges Urteil über ein ungleich größeres Maß von Anhalts- und Angriffspunkten. Dies schon darum, weil das Material, mit welchem gearbeitet und welches verarbeitet werden muß, ungemein gewachsen ist. Schon Semler war darum der Überzeugung, daß der gelehrten Theologie seiner Zeit dasselbe Recht zustehen müsse wie der Theologie derjenigen, die 200 Jahre zuvor in Luthers Nachfolge verschiedene Rangordnungen neutestamentlicher Bücher aufzustellen sich nicht gescheut haben und dabei im übrigen ¶