[* 11] Das anfänglich beim französischen
Gewehr M/86 angewendete rauchlose S. mußte
wegen mangelnder chemischer
Beständigkeit aufgegeben werden. Es soll das
Pikratpulver von Brugère, bestehend aus 54 pikrinsaurem
Ammoniak und 46
Kalisalpeter, gewesen sein. Gegen Mitte des
Jahres 1888 wurde das von Viville erfundene rauchlose S. bekannt,
durch welches nunmehr diese
Frage in
Fluß kam, da aus taktischen
Gründen kein
Heer dem rauchlosen S. gegenüber
ein rauchendes beibehalten konnte.
Abgesehen von der zweifelhaften chemischen
Beständigkeit dieser
Präparate, hat schon
Abel inWoolwich darauf hingewiesen, daß
die Rauchlosigkeit nur bei einem
Explosivstoff rein organischen Ursprungs erreichbar ist. Gemische aus
organischen
Substanzen und sauerstoffreichen
Salzen, wie
Salpeter, Kaliumchlorat etc., können nie rauchlos sein, weil sie nie
vollständig vergast werden können, denn im Pulverrauch sehen wir die von deren
Gasen fortgetragenen, fein zerstäubten,
nicht vergasbaren
Bestandteile des
Schießpulvers.
Die neuern rauchlosen Pulverarten haben
Nitrocellulose zur gemeinsamen Grundlage, und zwar benutzt man
die niedrigern
Nitrate, welche die Kollodiumwolle bilden, die
in einem Gemisch von 7-8 Teilen
Äther und einem Teil
Alkohol
zu
Kollodium löslich ist und bei ihrer Vergasung in
Kohlensäure,
Kohlenoxyd,
Stickstoff und Wasserdampf zerfällt, also keine
festen Verbrennungsprodukte hinterläßt.
Aus diesem ist das zuerst von
Krupp im Juli 1889 mit überraschendem Erfolg versuchte Nobelsche S.
Patent Nr. 51,471 hervorgegangen,
welches, von den
»Vereinigten
[* 15]
Köln-Rottweiler Pulverfabriken« angekauft und verbessert, als rauchloses S. C/89, von
Italien
[* 16] unter dem
Namen Ballistit eingeführt wurde. Es besteht aus Kollodiumwolle und der gleichen Gewichtsmenge
Nitroglycerin.
Nobel ging von der
Sprenggelatine aus, einer
Lösung von 7-10 Proz.
Nitrocellulose in
Nitroglycerin, und fand, daß
mit dem größern
Gehalt an
Nitrocellulose die Offensivität der
Sprenggelatine sich vermindert, da aber die
Lösung der Kollodiumwolle
in
Nitroglycerin auf gewöhnlichem Wege nur durch Zusatz flüchtiger
Stoffe, wie
Kampfer, erreichbar ist,
welche später verdunsten und damit die
Zusammensetzung des
Explosivstoffes ändern, übergoß
Nobel die
Nitrocellulose bei +6
bis 8° mit einem Überschuß von
Nitroglycerin, machte, um eine möglichst gründliche Durchtränkung zu erzielen, den
Raum,
in welchem die Mischung sich befand, luftleer und beseitigte das überschüssigeNitroglycerin in einer
Zentrifuge
[* 17] oder
Presse
[* 18] so weit, bis das dem Erzeugnis zugedachte Mischungsverhältnis erreicht war.
Bei der nunmehrigen Erwärmung des Gemisches auf 60-90° beginnt die Gelatinierung, welche um so langsamer von statten geht,
je mehr
Nitrocellulose vorhanden ist. Nach beendeter Gelatinierung wird die
Masse unter Innehaltung der hohen
Temperatur in
einer erwärmten
Presse zu 1-2
mm dicken
Platten zusammengedrückt und zwischen erwärmten
Walzen zu etwa 0,1mm dicken Blättern
ausgewalzt. Nach dem
Trocknen bilden dieselben eine hornartige, celluloidähnlich durchscheinende
Masse.
Diese
Blätter werden in entsprechender Anzahl aufeinander gelegt und bei +80° zu
Platten von gewünschter
Stärke
[* 19] zusammengepreßt,
aus welchenStreifen und der Plattendicke entsprechende
Würfel geschnitten werden. Zur
Sicherung der chemischen
Beständigkeit werden bereits
vor der Gelatinierung 1-2 Proz. Diphenylamin zugesetzt.
Krupp und das Grusonwerk haben mit dem
rauchlosen S. C/89 eingehende
Versuche angestellt und gefunden, daß es eine dreimal größere Verwertung als die ältern
Pulversorten ergibt. Es entwickelt schwach bräunliche
Nebel, die so dünn sind, daß unmittelbar nach
dem
Schuß wieder gerichtet werden kann.
Selbst bei starkem Regenwetter verziehen sich die
Nebel innerhalb 3
Sekunden vollständig. Es hinterläßt so wenig Rückstand,
daß die
Seele der
Waffe fast ganz rein bleibt. Die Erwärmung des
Rohres ist geringer als beim Schwarzpulver.
Die
Versuche ergaben, daß Gasdruck und
Anfangsgeschwindigkeit in den verschiedenen
Kalibern nach Belieben durch die Korngröße
regulierbar ist, so daß man durch geeignete
Wahl der Körnergröße bei geringstem Gasdruck die größte
Anfangsgeschwindigkeit
erzielen kann. Das S. C/89 wird in
¶
In Schweden
[* 21] befindet sich ein vom Ingenieur Skoglund erfundenes rauchloses S. im Versuch, welches Hafergrütze ähnlich sieht
und seiner Farbe nach Graupulver genannt wird. Nach der Patentbeschreibung besteht es aus einem Nitrat, dessen brisante Wirkung
durch Zusatz eines Salzes (vermutlich salpetersaures Ammoniak) herabgemindert wird. Es soll, wie durch nächtliche Schießversuche
festgestellt wurde, beim Schießen
[* 22] keine Flamme
[* 23] geben, wenig Wärme
[* 24] entwickeln und geringen Rückstoß haben. In England ist ein
seines bindfadenförmigen Aussehens wegen Kordite genanntes rauchfreies S. unter der Bezeichnung E. X. E. als Geschützpulver
eingeführt worden. Es hat außerordentlich glänzende Feuererscheinung und stärkern Knall als Schwarzpulver;
es wird in Waltham-Abbey gefertigt. In Österreich
[* 25] ist beim Gewehr 88 ein vom MajorSchwab in der Dynamitfabrik zu Preßburg
[* 26] angefertigtes
rauchfreies S. im Gebrauch, welches sehr befriedigt. Libbrecht, Direktor der Gesellschaft von Copal u. Co. in Wetteren (Belgien,
[* 27] Ostflandern), hat Mitte 1890 ein rauchloses Pulver erfunden, Körner von 2 cm Seitenlänge, welches bei Schießversuchen in Caulille
sich gut bewahrte.
Vgl. Abel, Smokeless explosives, in »Chemical News and Journal of Physical Science«, Nr. 1582 und 1583, März 1890.
Die Anwendung des rauchlosen (rauchschwachen) Schießpulvers übt einen bedeutenden Einfluß auf die Taktik
aus. Durch den Fortfall des Rauches beim Schießen geht das wesentlichste und oft einzige Merkmal verloren, den Feind im Gelände
zu entdecken, seine Stellung in ihrer ganzen Ausdehnung
[* 28] zu übersehen; aber es geht dadurch auch der feuernden Truppe die Deckung
der eignen Bewegungen verloren, die der Pulverrauch gegen feindliche Beobachtung gewährt. Anderseits ist
dadurch das wesentlichste Hindernis scharfen Zielens, wie zur Beobachtung des eignen Feuers und seiner Wirkung beseitigt. Es
handelt sich nun darum, theoretisch und, soweit es die Übungen gestatten, auf Grund praktischer Anschauungen und Erfahrungen
die Grenzen
[* 29] dieses Einflusses auf beiden Seiten sowie diejenigen Maßnahmen festzustellen, mit deren
Hilfeman in den verschiedenen Kampfverhältnissen den Nachteilen dieses Einflusses begegnen und seine Vorteile ausbeuten kann.
Die Ausübung des Sicherheits- und Aufklärungsdienstes wird bedeutend erschwert, da die weithin sichtbare Kavallerie von der
Infanterie mit ihrem weittragenden Gewehr beschossen werden kann, ohne daß sie zu entdecken vermochte, woher das
Feuer kam. Daraus folgt, daß das neue Pulver die Möglichkeit erfolgreicher Überfälle vermehrt. Alle zu Fuß kämpfenden Truppen,
also auch die abgesessen kämpfende Reiterei, werden vom Spaten den ausgiebigsten Gebrauch machen, um sich Deckung zu verschaffen,
denn der gute Schütze kommt bei der Übersehbarkeit des Schlachtfeldes mit seiner ausgezeichneten, weittragenden
Schußwaffe heute viel mehr zur Geltung als je. Die Infanterie wird deshalb schon auf größern Entfernungen sich zum Gefecht
formieren müssen; ihre eigentliche Kampfform ist die aufgelöste
Ordnung, die Schützenlinie.
Die Reiterei findet für ihre Attacken, deren Erfolg nicht selten von ihrer überraschenden Ausführung abhängt, nicht mehr
den deckenden Pulverdampf und wird daher mit Sorgfalt in größern Entfernungen durch das Gelände gedeckte
Aufstellungen suchen müssen und dadurch zu viel weiter ausgreifendem, oft verlustreichem Anlauf
[* 30] gezwungen sein. Den größten
Gewinn vom neuen S. hat die Feldartillerie, deren Wirksamkeit von ununterbrochener, klarer Beobachtung und scharfem Richten abhängt.
Sie ist nicht mehr gezwungen, bei der Wahl ihrer Aufstellung Rücksicht auf die Windrichtung zu nehmen,
sondern geht dahin, wo sie die beste Feuerwirkung erwarten kann und, wenn möglich, gedeckt ist. Das französische Reglement
sagt: vor allem sehen; sodann, wenn möglich, nicht gesehen werden! Das deutsche: jede Rücksicht auf Deckung muß derjenigen
auf Feuerwirkung nachstehen. Um das Krepieren ihrer Geschosse besser beobachten zu können, wird die Artillerie
sich stark rauchender Sprengladungen bedienen. Im Festungskrieg wird die Artillerie, noch viel mehr als bisher, ihre Erfolge
vom Wurffeuer zu erwarten haben, da das für das Demontieren notwendige Erkennen der feindlichen Geschützstellung wegen Mangels
an Raucherscheinung nur ausnahmsweise gelingen wird.
Vgl. v. Löbell, Jahresberichte über Veränderungen
und Fortschritte im Militärwesen (1890,2. Teil);