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Pädagogik 294, Kunst 137, verschiedene 1070. Auf dem engern Gebiete der Litteratur hat der charakteristische russische Realismus, teilweise unter dem Einfluß der französischen naturalistischen Schule, eine sichtliche Schwenkung in letzterer Richtung gethan, die für das litterarische Schaffen im allgemeinen keineswegs vorteilhaft gewesen ist. Mit Vorliebe werden in kleinern Erzählungen und Skizzen in naturalistischer Beleuchtung [* 2] Sittenschilderungen entworfen, soziale Konflikte und psychologische Probleme gestreift, aber zu größern gediegenern Produktionen gebricht es den gegenwärtigen jüngern Vertretern der Tageslitteratur an tieferer schöpferischer Kraft [* 3] und höherm geistigen Aufschwung, wobei der Druck, der auf dem politischen und öffentlichen Leben Rußlands in der gegenwärtigen Reaktionsperiode lastet und die Behandlung mancher Stoffe aus dem russischen sozialen Leben einschränkt, jedoch auch seine Rolle spielen mag.
Roman und Erzählung.
Das bedeutendste Talent des modernen Rußland, Graf Leo Tolstoi, setzt das Gold [* 4] seiner großen Kunst immer mehr in Scheidemünze um, sich in Irrwegen scholastischer Deutungen, didaktischer Phantasien, sozialen Moralisierens verlierend. In der Erzählung »Die Kreutzer-Sonate« bietet er einen Beitrag zur Frage von der Ehe und kommt zum Ergebnis, daß angeblich neunundneunzig Hundertstel aller Ehen auf Lüge und Haß basieren, ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit seien, und daß ferner nur die Sinnlichkeit den Mann zum Weibe, das Weib zum Manne treibe, weshalb die Ehe ein Hindernis sei für alles höhere, rein geistige Thun und Schaffen; nur im Zustand der Ehelosigkeit und der Askese könne Großes geleistet werden, wie dies nach Tolstois Auffassung auch das Christentum predige.
Nur im letzten Viertel atmet die unerquickliche Erzählung dichterische Kraft, während die ersten drei Viertel in einseitigen und wirren Ausführungen die vermeintlich totale sittliche Verwilderung der modernen Gesellschaft durch geschlechtliche Ausschweifung behandeln. In Rußland lief die Erzählung nur als Manuskript um, da sie von der Zensur verboten war. In einer andern, besser geschriebenen Erzählung, »Der Tod von Iwan Iljitsch«, enthüllt er, teilweise direkt didaktische Zwecke verfolgend, mit großer realistischer Schärfe in der Person des höhern russischen Beamten Iwan Iljitsch Golowin die Tragik eines Menschenlebens, dem am Ausgang desselben das Bewußtsein aufdämmert, wie alles, was während dieses Lebens geleistet worden ist, verkehrt und verfehlt war.
Eine Reihe kleinerer Erzählungen hat Tolstoi für das Volk geschrieben, deren rein litterarischer Wert nicht bedeutend ist. Einige muntern in glücklicher Weise zur echten Frömmigkeit und Einkehr in sich selbst auf, andre hingegen mit satirischer Pointe sind total verfehlt, so namentlich die »Fabel von Iwan dem Einfältigen und seinen beiden Brüdern«, in welcher die Geistesarbeit verspottet und die physische Arbeit als einzig heilsam gefeiert wird, entsprechend der kulturfeindlichen, Kunst und Wissenschaft mißachtenden Richtung Tolstois, der in krankhafter Verbildung des Geistes das Bedeutendste, was er geleistet, nun selbst verleugnet.
Der greise Belletrist Iwan Gontscharow hat prächtige Typen aus der alten Zeit der Leibeigenschaft geschildert in den Erzählungen: »Diener« und »Aus der Universitätszeit«. Dieselbe Periode hat der 1889 verstorbene Satiriker Stschedrin-Saltykow in den meisterhaft und lebendig geschriebenen Aufzeichnungen »Der alte Poschechonje« behandelt. Ferner hat er in einer Reihe von Skizzen: »Des Lebens Kleinigkeiten«, viele charakteristische Figuren aus dem russischen Leben mit großem Talent vorgeführt und in den »Bunten Briefen« über manche Erscheinungen der russischen Gegenwart in seiner originellen, von warmem Gefühl durchdrungenen Weise die Geißel der Satire geschwungen.
Die feinsinnige, idealistische, 1889 gestorbene Schriftstellerin W. Krestowskij (Pseudonym) ist durch die fein ausgefeilte Skizze »Wie Menschen leben« und durch die handlungsarme, aber warmblütige Erzählung »Pflichten« vertreten, während ihr Namensvetter Wssewolod Krestowskij in zwei langen Romanen: »Ägyptische Finsternis« und »Tamara Bendavid«, talentvoll, aber tendenziös antisemitisch, Sein und Gebaren der russischen Juden schildert. Dessen Tochter Marie Krestowskaja entfaltete in mehreren kleinen Romanen, unter denen namentlich »Frühgewitter« zu nennen ist, eine frische, junge Begabung für Schilderung weiblicher Charaktere.
Olga Schapir, eine recht fruchtbare Erzählerin, bot unter mehreren schwächern Werken den Roman »Ohne Liebe«, in welchem die Auflösung der Familie, in welcher die Liebe fehlt, recht bewegt gezeichnet wird. Der ganz in den Fußstapfen der französischen Impressionisten wandelnde Peter Bobdrykin hat hauptsächlich einen Roman: »In der Ebbe«, erscheinen lassen, in welchem er ziemlich prägnant einige Figuren und Strömungen aus der unmittelbaren Gegenwart der décadence zeichnet, obwohl der Roman sonst ziemlich konfus geschrieben ist;
daneben ist auch dessen Roman »Die Neuen« zu nennen, der gleichfalls werdende Typen der neuen russischen Gesellschaft behandelt.
Die in den aristokratischen Teilen derselben mehrfach zu Tage tretende materialistische Richtung, welche nur leichten Lebensgenuß erstrebt, schildert nicht ohne Talent Murawlin (Fürst Dmitri Golizyn) in mehreren kleinen Romanen: »Das Übel«, »Die Fürsten«, »Rubel«, »Du sollst nicht töten« (gegen die »Kreutzer-Sonate« Tolstois gerichtet), die jedoch von einer gewissen tendenziösen Einseitigkeit nicht frei sind. Aus derselben Gesellschaft greift auch Grigorowitsch, einer der verdienten ältern russischen Schriftsteller, in der Erzählung »Akrobaten der Wohlthätigkeit« einige Figuren heraus, die aus egoistischen Zwecken geübte Wohlthätigkeit geißelnd; derselbe Schriftsteller hat noch ein paar andre hübsche Erzählungen verfaßt, darunter: »Der Kautschukknabe« und »Die Liebe ist blind«.
Von Jakob Polonskij, einem der bedeutendsten russischen Lyriker, erschienen der Roman »Eine billige Stadt«, dessen Held unter durchsichtigem Namen der begabteste russische Kritiker W. Belinskij ist, ferner mehrere Erzählungen, die jedoch sehr wenig gleichwertig sind, und deren bedeutendste ist: »Die Bekenntnisse Sergei Tschalygins«. Der sehr begabte, wenn auch nach Originalität oft haschende N. Ljesskow, der durch seine in die Tiefe gehenden psychologischen Schilderungen bemerkenswert ist, hat sich in der letzten Zeit hauptsächlich der modernisierten Verarbeitung alter russischer Legenden zugewandt, die in seiner freien künstlerischen Umgestaltung viel Interesse weckten, so: »Der gewissenhafte Danila«, »Die schöne Asa«, »Der Räuber von Ascalon«. Als ein Belletrist aus dem konservativen Lager [* 5] schildert K. Orlowskij (K. Golowin) in dem Roman »Die Jugend« recht zutreffend, wenn auch mit tendenziösern Seitenhieben auf den Petersburger Liberalismus einige Vertreter der Jugend aus verschiedenen Kreisen in den Jahren, welche dem Attentat vom kurz vorhergingen. Ebenso tendenziös ¶
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gegen den Liberalismus und mit etwas mystischem Anstrich, wenn auch sonst talentvoll, ist der Roman »Der dunkle Weg« von Kot Murlyka (Kater Murr, Pseudonym für Prof. N. Wagner). Aus der Gruppe derjenigen Schriftsteller, die dem Lesebedürfnis der Menge in mehr oder weniger guter belletristischer Form entgegenkommen, sind zu nennen: A. Michailow (A. Scheller) mit seinem Roman »Am Abgrund«; W. Nemirowitsch-Dantschenko, ein sehr fruchtbarer, lebendig schreibender und vielgelesener Erzähler, mit den Romanen: »In eiserner Faust«, »Sumpfflammen« und »Das Leben, wie es ist«;
Jassinskij, ein jüngerer begabter Erzähler, mit den Romanen: »Tragiker«, »Irinarch Plutarchow«, »Der Schatz«.
Manche treffliche Sittenschilderungen aus dem eigentümlichen sibirischen Leben bot D. Mamin in einigen Erzählungen und in dem Roman »Die Ader«. Eine Reihe jüngerer litterarischer Kräfte bewegte sich mit Vorliebe in der engern Form der Skizzen und Studien, so vor allem A. Tschechow in seinen beiden Sammlungen: »Erzählungen« und »In der Dämmerstunde«, in welchen neben vielem Richtigen auch manch scharf erfaßtes Lebensbild bei warmem Sinne für die Natur und für die Menschen sich findet.
Durch viel Wärme [* 7] mit pessimistischer Grundstimmung zeichnen sich die Skizzen von K. Baranzewitsch, »Kleine Erzählungen«, aus. Über das Skizzenhafte kommt trotz verschiedener Anläufe auch Wladimir Korolenko in seinen »Skizzen und Erzählungen« nicht hinaus, in denen die Einfachheit und der künstlerische Sinn der Darstellung angenehm den Leser berühren. Hingegen wirkt bei Matschtett in den »Novellen und Erzählungen« und »Silhouetten« bei guter Beobachtungsgabe und lebensvoller Schilderung störend eine gewisse Effektsucht.
In den »Erzählungen und Skizzen« M. Albows bildet den Hauptreiz die meist fein ausgearbeitete psychologische Analyse. Karonin (Petropawlowskij) zeigt in seinen »Erzählungen« realistische Schärfe, aber auch die unglückliche Neigung, von dem angeblich gesunden »Dorf« die Heilung für die »kranke« Intelligenz zu erwarten; so ziemlich dieselbe Richtung hält auch Gljeb Uspenskij in vielen seiner ermüdend weitschweifigen Erzählungen ein. Das Gebiet der historischen Erzählung pflegte mit Geschick G. Danilewskij (gest. 1890) in »Moskau [* 8] in Flammen« u. »Das schwarze Jahr«; Graf E. Sailhias hat auch mehrere historische Erzählungen: »Die Kammerjungfer«, »Araktschejews Sohn«, geschrieben, die jedoch hinter seinen frühern Werken bedeutend zurückbleiben. D. Mordowzews Roman aus den Zeiten der Kaiserin Katharina und Rasins Aufstand, »Für wessen Schuld?«, sowie andre historische Erzählungen desselben Verfassers sind recht lebendig, aber sehr gedehnt geschrieben. In dem Roman »Zwei Brüder« schildert N. Polewei die beiden interessanten Figuren aus der Zeit Peters d. Gr.: Fürst Wassili und Fürst Boris Golizyn.
Lyrik und Drama.
Das Gebiet der Lyrik wird gegenwärtig in Rußland recht eifrig gepflegt. Auf demselben hat sich auch ein fürstlicher Dichter hervorgethan, der unter den Initialen K. Russische [* 9] (Konstantin Romanow) schreibende Großfürst Konstantin Konstantinowitsch, ein Vetter des Zaren, Sohn des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch. Seine »Gedichte« (2 Bde.) zeichnen sich durch Gefühl und Stimmung, graziöse Form und geschmeidigen Vers aus. Ein nicht unbedeutendes lyrisches Talent entfaltete der zeitweilig in einem Irrenhaus gewesene K. Fofanow in seinen »Gedichten«, in denen eine frische, bilderreiche Phantasie sich in künstlerischer Weise mit warmer Empfindung und tieferm Gehalt verbindet.
Etwas schwerfälliger ist die lyrische Dichtung Minskijs (Nikolai Wilenkin),
durch dessen »Gedichte« ein stark pessimistischer Zug hindurchgeht, zum Teil hervorgehend aus den Klagen um die Schicksale seines Vaterlandes, das sich nicht zu Freiheit und Licht [* 10] hindurch zu kämpfen vermag; seine Dichtung ist, ein reicheres Stoffgebiet umfassend, oft von schönem, poetischem Schwung. Ähnlich verhält es sich auch um die »Gedanken und Lieder« von S. Frug, der gern hebräische Motive verarbeitet, und dessen Lyrik ein grüblerischer Ernst eigen ist.
Der Reiz der »Gedichte« von A. Apuchtin beruht hauptsächlich auf der einfachen künstlerischen Grazie seines melodischen Verses und seiner weichen elegischen Stimmung, welche in den »Gedichten« von S. Andrejewskij in oft verzweiflungsvolle Schwermut über das Vergängliche alles Irdischen übergeht. Des 1887 verstorbenen Nadsson »Gedichte« spiegeln mit innigem Wahrheitston Erlebtes und Empfundenes, sind aber in der Form oft zu wenig durchgebildet, was zuweilen auch bei Andrejewskij vorkommt.
Unter den ältern russischen Lyrikern haben namentlich Jakob Polonskij und Apollonius Maikow in verschiedenen Journalen einzelne gute Gedichte veröffentlicht (letzterer unter anderm das schöne Poem »Brunhilde« im »Russki Westnik«); ferner haben zwei Lyriker von Talent, Graf A. Golenistschew-Kutusow und Fürst D. Zertelew, sich durch viele stimmungsvolle Gedichte hervorgethan, und letzterer auch durch eine sehr getreue und geschickte Übersetzung vieler Szenen aus Goethes »Faust«. Gute Übersetzungen von Gedichten Goethes, Schillers und Heines hat auch L. Michailow in seinen »Gedichten« geliefert. Die satirischen Gedichte W. Burenins: »Pfeile«, richten sich mit manchem treffenden Schlage gegen verschiedene Erscheinungen des Tages.
Auf dramatischem Gebiet hat des Grafen L. Tolstoi Trauerspiel »Die Macht der Finsternis« das meiste Aufsehen gemacht. Es ist ein Werk naturalistischen Gepräges, das einige packende dramatische Szenen hat, aber künstlerisch unverarbeitet ist, mit grausen Effekten operiert und direkt didaktische Zwecke der Volksunterweisung verfolgt. Die Ausführung desselben ist in Rußland verboten. Noch deutlicher als in diesem Drama hat Graf Tolstoi seinen kulturfeindlichen Tendenzen in dem Lustspiel »Die Früchte der Aufklärung« Ausdruck gegeben, in welchem der Hypnotismus als eine Frucht der Aufklärung verspottet wird, wobei verschiedene Seitenhiebe gegen moderne Wissenschaft und Kultur überhaupt gerichtet werden; das Stück ist stellenweise witzig, aber ganz formlos und besteht nur aus aneinander gereihten Szenen ohne innern Zusammenhang.
Das hohe Drama fand sehr geringe Pflege; es sind nur zu nennen zwei mittelmäßige Dramen von Buren in: »Der Tod der Agrippina« und »Theodora«. Unter den Werken, die durch die Bühne bekannt geworden sind, gibt es auch nur wenige, die einigermaßen litterarischen Wert haben. Im allgemeinen bewegt sich die russische Bühnendichtung ganz in den Bahnen der französischen Theaterstücke, hauptsächlich nur die aus ehelichen Mißverhältnissen hervorgehenden Konflikte behandelnd, und zwar in ausgesprochen realistischer Richtung. So A. Tschechow in seinem Trauerspiel »Iwanow«, in welchem der Titelheld jenem Kreise [* 11] der halt- und charakterlosen Vertreter der russischen Gesellschaft entnommen ist, die an der eignen Unklarheit und Unbestimmtheit zu Grunde gehen, ¶