mehr
verwandten Benekeschen System, zum Teil angedeutet in den Fortschritten der philosophischen Forschung unsrer Tage nach der physiologischen wie nach der ethischen und gesellschaftlichen Seite hin. Willmanns eigne philosophische Grundansicht kommt nirgends zu einem kurzen, leicht wiedergebbaren Ausdruck, da er es mit Bewußtsein verschmäht, in systematischer Weise von philosophischen Voraussetzungen auszugehen, und in der eigentümlichen Verflechtung des philosophischen und des historischen Elements die wichtigste Aufgabe für die Pädagogik der Gegenwart erblickt.
Der erste Band [* 2] des bedeutenden Werkes enthält die einleitende Erörterung der leitenden Gesichtspunkte sowie der Beziehungen der Didaktik zur Sozialforschung, zur Geschichte der Bildung, zu den übrigen Zweigen der Pädagogik, zu den Fachwissenschaften. Daran schließt sich im ersten Abschnitt ein ausführlicher Überblick über die geschichtlichen Typen des Bildungswesens. Der zweite Band behandelt die Bildungszwecke, den Bildungsinhalt, die Bildungsarbeit, das Bildungswesen. Es kann hier weder der reiche Inhalt des Buches näher dargelegt noch das einzelne geprüft und beurteilt werden. Zu wünschen wäre, daß der geistvolle Verfasser etwas strenger gegen die pädagogische Zunftsprache sein und mithelfen wollte, diese von schiefen und sprach- oder denkfalschen Wendungen zu befreien, mit denen sie nicht ohne Mitschuld der Herbart-Zillerschen Richtung schwer belastet ist.
Der Standpunkt des Verfassers inmitten der Wogen der Zeit spricht sich am Schlusse des Werkes in den Sätzen aus: Am weisesten hat die ältere christliche Anschauung und Sitte das Verhältnis der Bildungsarbeit zu den höhern Ordnungen, namentlich der Religion, bestimmt. Wenn unsre Altvordern dabei nur mit einem beschränkten Kreise [* 3] von Kulturwerten gearbeitet haben, so ist nach dieser Richtung ein Hinausgehen über sie notwendig, aber es ist nicht gerechtfertigt, die festen Grundlagen zu verlassen, welche ihre Weisheit gelegt hat. Eine eingehende, auch vom Verfasser selbst anerkannte Charakteristik des Willmannschen Werkes gab O. Frick im 23. Hefte der »Lehrproben und Lehrgänge« (1890).
Eine ähnliche Stellung zu der schulmäßig entwickelten Form der Herbartschen Pädagogik wie Willmann nimmt E. v. Sallwürk ein. Noch entschiedener als jener bekennt er sich zu Herbart, dessen Pädagogik er nicht etwa für besser hält als die bisherigen Erziehungssysteme, sondern für die einzige Pädagogik, welche dem durch sie angeregten Bedürfnis wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen im stande ist. Dabei oder vielmehr gerade darum hat er es aber für Pflicht gehalten, gegen die einseitige Verbildung und Versteinerung der Herbartschen Pädagogik in der Zillerschen Schule kritisch sich zu verwahren. Er trat zunächst namenlos mit der Flugschrift »Herbart und seine Junger« (Langensalza [* 4] 1880) auf; dann mit seinem Namen in den Schriften: »Handel und Wandel der pädagogischen Schule Herbarts« (das. 1885) und »Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte; zur pädagogischen Kritik« (das. 1887).
Namentlich die letzte ist für die Beurteilung der schwebenden pädagogischen Fragen bedeutend. Sie beschäftigt sich mit einem Lieblingskapitel der neuern Herbartschen Pädagogik. Der Meister selbst hat den Unterricht, sofern er Umgang und Erfahrung der Kinder ergänzen, berichtigen, ordnen und so zur wahren, ästhetischen Würdigung der Welt anleiten soll, in die beiden großen Gebiete des Gesinnungsunterrichts (Religion, Geschichte, Sprache) [* 5] und der Naturkunde (im weitern Sinn alles andre umfassend) eingeteilt, zwischen denen namentlich die Erdkunde [* 6] als associierendes Fach vermittelt. Er verlangte ferner, daß der Unterricht auf jeder Stufe trotz der Mannigfaltigkeit der Lehrfächer eine Einheit bilden sollte.
Das kann nach Herbart nur geschehen, wenn das Mannigfaltige auf einen herrschenden Mittelpunkt bezogen und um ihn in sachgemäßer Stufenfolge gruppiert wird. Der Mittelpunkt selbst darf nach einer Pädagogik, der Charakterstärke der Sittlichkeit als oberstes Ziel der Erziehung gilt, nur im Gesinnungsunterricht, und zwar zunächst in dessen eigentlichem Kerne, dem Religionsunterricht, gefunden werden. Für die Auswahl der Konzentrationsstoffe wird nun der Gedanke zum Grundsatz erhoben, daß die Bildung des einzelnen Menschen ein Abbild des stufenweisen Emporsteigens der Menschheit überhaupt sei und naturgemäß sein solle.
Man kann da eine gewisse Analogie zugeben. Wenn Herbart die Homerischen Gedichte als grundlegende Jugendlektüre deshalb preist, weil sie das Bild eines kindlich einfachen Volkslebens entrollen, so wird kaum jemand widersprechen. Aber was entsteht daraus, wenn dieser Gedanke bis zum äußersten gepreßt und überspannt wird! Ziller und seine Schule wollen ihm zuliebe die acht Schuljahre der einfachen Volksschule um Märchen, Robinson, Patriarchen, Richter und Könige, Leben Jesu, Apostelgeschichte, Einführung des Christentums, Reformation gruppieren und in gelehrten Schulen mit diesen im wesentlichen der heiligen Geschichte entnommenen Konzentrationsstoffen andre aus der Weltgeschichte entnommene naturgemäß zusammenfassen.
Ein geistvoller und besonnener Lehrer mag auch auf diesem Wege zum Ziele gelangen. Aber er beruht in seinen einzelnen Wendungen auf dogmatischem Wahne und nutzloser Künstelei und verläßt ohne Not die vorhandene, gebahnte Straße; auch bringt er, wenn die Führung auf ihm minder erfahrenen oder gar fanatisch einseitigen Lehrern anvertraut ist, geradezu ernste Gefahren. Sallwürk räumt deshalb mit dem Trugbild der kulturhistorischen Stufen gründlich auf, aber immer als guter, aufrichtiger Herbartianer mit der Überzeugung, daß von dem ganzen Gebäude nach Abtrag der barocken Anhängsel ein wertvoller Kern übrigbleiben werde. Denn ein geschichtlich angeordneter Gesinnungsunterricht scheint auch ihm ein Bedürfnis für jede Art von Schulen zu sein; aber er muß befreit werden von der Künstelei, von der dogmatischen Illusion der Zillerschen Schule.
Eine weit schärfere Tonart gegenüber der Herbartschen Schule haben andre Kritiker angeschlagen, die mit dem Ausbau zugleich die philosophische, namentlich psychologische Grundlage verwerfen. Vor allen sind zwei Angreifer dieser Art zu erwähnen. Fr. Dittes, ein alter litterarischer Gegner Zillers und seiner Schule, hatte in seinen Organen, dem Wiener »Pädagogium« und dem »Pädagogischen Jahresbericht«, auch während der letzten Jahre an den manchmal recht selbst- und siegesbewußt auftretenden Herbartianern der Zillerschen Färbung strenge Kritik geübt und namentlich auf Benekes hinter Herbart allzusehr zurückgeschobene Psychologie und Erkenntnistheorie als auf eine weit geeignetere Grundlage für die pädagogische Kunstlehre hingewiesen. Im Jahrgang 1884/85 des »Pädagogiums« nun legte er seine Bedenken gegen die theoretische und praktische Philosophie wie gegen die gesamte Pädagogik Herbarts und seiner Jünger im Zusammenhang darin einem Aufsatz: »Zur sogenannten wissenschaftlichen Pädagogik«. Es geschah aus Anlaß des oben erwähnten Fröhlichschen Buches ¶
mehr
über diesen Gegenstand. Nicht ohne Bitterkeit werden die wirklichen Schwächen des Gegners aufgedeckt, aber auch manche Punkte getadelt, für die unbefangene Würdigung doch noch manches zur Verteidigung anführen kann. Neben dem oben kurz dargelegten Theorem der sogen. Konzentrations- oder kulturhistorischen Stufen ist es aus dem eigentlich pädagogischen Bestand besonders das der formalen Stufen, das Dittes angreift. Herbart verlangt nämlich die Zerlegung des Unterrichtsstoffes in sogen. pädagogische Einheiten (etwa Stundenpensa) und deren Behandlung nach den formalen Stufen der Klarheit (Analyse, Synthese), Association, System, Methode, wofür verständlicher seine Schüler wohl jetzt drei Stufen des Anschauens (Einleitung, Anschauung), Denkens (Vergleichung, Zusammenfassung), Anwendens oder die fünf der Vorbereitung, Darbietung, Verknüpfung, Zusammenfassung, Anwendung setzen. Es ist kaum zweifelhaft, daß diese Vorschrift, wenn man sie ihres dunkeln Gewandes und ihrer starren Gesetzlichkeit, d. h. ihrer Schwächen, entkleidet, nichts eigentlich Neues mehr bietet.
Aber es steckt doch ein gesunder Kern darin, und dieser ist noch nie mit so durchgreifender Wirkung geltend gemacht wie in der Herbartschen Schule. Man kann daher, wenn nur die Herbartianer nicht allzu anspruchsvoll mit ihrer Eigenart hervordrangen, sich in diesem wie in manchen andern Punkten ihre Mithilfe gern gefallen lassen und ihr nachdrückliches Dringen auf planvolles Verfahren beim Unterricht anerkennen. Der Dittessche Angriff hat alsbald das ganze Lager [* 8] der Gegner in Harnisch gebracht. Aus der größern Zahl der Gegenartikel seien hier nur die von Thilo und Flügel in der »Zeitschrift für exakte Philosophie«, Bd. 14, erwähnt, die auch als besonderes Heft unter dem Titel: »Dittes über die praktische und theoretische Philosophie Herbarts« (Langens. 1885) erschienen sind. Da Dittes hierauf 1886 im »Pädagogium« antwortete, zog sich dieser Streithandel durch mehrere Jahre.
Inzwischen ist der Herbartschen Pädagogik und ihren philosophischen Grundlagen ein neuer Gegner erstanden in dem Oldenburger Schulrat W. Ostermann (s. d.). In philosophischer Hinsicht Schüler H. Lotzes, hatte dieser schon vor Ausbruch des Dittesschen Streites einen kurzen, trefflichen Abriß, die »Grundlehren der pädagogischen Psychologie« (Oldenburg [* 9] 1880),
veröffentlicht, den er kurz darauf in das mit Wegener von ihm herausgegebene zweibändige »Lehrbuch der Pädagogik« (s. unten, S. 692) verarbeitete. Lotze, der selbst nicht daran gedacht hat, seine Philosophie auf das besondere Gebiet der Pädagogik anzuwenden, nahm noch kurz vor seinem Tode Anlaß, der Arbeit des Schülers volle Anerkennung auszusprechen. Bei dieser Arbeit hatte Ostermann auch das Bedürfnis empfunden, sich mit der Herbartschen Pädagogik gründlich auseinanderzusetzen und legte davon Rechenschaft ab in der Schrift »Die hauptsächlichsten Irrtümer der Herbartschen Psychologie und ihre pädagogischen Konsequenzen« (Oldenburg 1887). Vielleicht hat Ostermann etwas schwarz gesehen und nicht genugsam beachtet, daß ein guter Teil der Herbartschen Psychologie und noch mehr seiner Pädagogik rein empirisch begründet ist und daher mit den eigentümlichen metaphysischen Grundlagen seines Systems nicht geradezu steht und fällt.
Man kann ihn noch billiger gegen das in Herbarts und seiner Schüler redlichem Bemühen um eine wissenschaftliche Pädagogik liegende, nicht geleugnete Verdienst wünschen. Allein zunächst richtet sich doch sein Einspruch gegen die unter der beliebten Firma der Wissenschaftlichkeit so oft behauptete Geschlossenheit des Systems; und in dieser Hinsicht wird er gewiß Sieger bleiben. Es gibt schwerlich eine moderne Gestalt der Philosophie, die besonnener der exakten Forschung unsrer Tage ihr Recht gibt und dabei treuer die ewigen sittlichen Grundlagen des höhern Lebens festzuhalten, dem Glauben an die ideale Welt seinen Raum zu wahren weiß, wie die von Lotze vertretene; die Wundtsche mag ihr nahekommen und an die Seite gestellt zu werden verdienen. Schade nur, daß weder Lotze überhaupt noch bisher Wundt sich bewogen gefunden haben, die Anwendung ihrer Grundideen auf das Gebiet der Erziehung und des Unterrichts selbst zu geben. Auf jeden Fall kann der Ostermannsche kühne Vorstoß nur heilsam aufklärend wirken und hat bereits diese Frucht getragen. Flügel hat in der Schrift »Ostermann über Herbarts Psychologie« (Langens. 1887) die Verteidigung wohl etwas leicht genommen; ihr zeigte sich der Angreifer in seiner zweiten Schrift: »Zur Herbart-Frage« (Oldenb. 1888),
ebenso gewachsen wie dem weitern Streitwort Flügels (»Zeitschrift für exakte Philosophie«, Bd. 16) in dem Aufsatz des »Pädagogischen Jahresberichts« (Leipz. 1888, S. 14-47): »Zum Herbart-Streit zwischen Flügel und Ostermann«. Einen Bundesgenossen eigner Art hat Ostermann neuerdings in dem Geraer Direktor Fr. Bartels gefunden, der in der »Pädagogischen Psychologie nach Hermann Lotze« (Jena [* 10] 1890,2 Tle.) Ostermanns Grundlehren, ohne sie anzuführen, plünderte und dabei vorgab, der Lehrerwelt die erste Darstellung der Psychologie Lotzes zu bieten. Kurz zuvor hatte er in seiner Schrift »Anwendbarkeit der Herbart-Ziller-Stoyschen didaktischen Grundsätze für den Unterricht an Volks- und Bürgerschulen« (2. Aufl., Wittenb. 1888) einen anerkennenswerten Beitrag zur Herbart-Kritik geliefert.
Eine eigenartige Formulierung hat A. Vogel der Herbartfrage gegeben in seiner Schrift »Herbart oder Pestalozzi?« (Hannov. 1887). Sie muß insoweit als berechtigt anerkannt werden, wie er damit vor dem undankbaren Zurückstellen des großen praktischen Bahnbrechers und Anregers hinter dem Theoretiker warnen will. Sie verliert aber das Recht, wenn damit Pestalozzi auch als Theoretiker Herbart gegenübergestellt werden soll. Herbart ist von dem menschenfreundlichen Schweizer zum pädagogischen Interesse angeregt worden und hat dies dankbar anerkannt; aber das Gefühl des Mangels, das ihn trieb, die Pestalozzischen praktischen Ratschläge auf tiefere und festere psychologische Grundlagen zurückzuführen, war gewiß begründet. Die pädagogische Praxis wird den Schweizer stets als Klassiker dankbar verehren, aber die Pädagogik als Wissenschaft kann bei ihm nicht stehen bleiben.
Als besonders erfreulich sei hier noch die Beteiligung einiger angesehener akademischer Philosophen und Theologen außerhalb des Herbartschen Kreises an der Arbeit für die philosophische und allgemeine Pädagogik dankbar erwähnt. W. Dilthey hat in der Sitzung der Berliner [* 11] Akademie der Wissenschaften einen Vortrag gehalten »Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft« und darin Antwort auf die Fragen zu geben gesucht, ob eines der im 19. Jahrh. aufgetauchten Systeme der Pädagogik (Schleiermacher, Herbart, Beneke, Waitz, Spencer, Bain) Anspruch auf Gemeingültigkeit erheben könne, und wenn nicht, für welche pädagogische Lehren [* 12] die Gemeingültigkeit erreichbar sei. Schon die Thatsache, daß an dieser vornehmsten Pflegstätte deutscher Wissenschaft die Pädagogik zu ¶