Seit 1887 liegt in elf stattlichen
Bänden die zweite
Auflage der zuerst vom
Prälaten und Gymnasialdirektor
K. A.
Schmid mit
Palmer,
Wildermuth und Hauber herausgegebenen
»Encyklopädie des gesamten
Erziehungs- und Unterrichtswesens«
fertig vor. Vom 6.
Bande an übernahm einer der ältesten Mitarbeiter, auch sonst als pädagogischer Schriftsteller vorteilhaft
bekannt, derKurator der
UniversitätHalle,
[* 9] W.
Schrader, die Redaktion und hat, unterstützt von dem neuen
Verleger (Fues-Reisland in
Leipzig), an den das Unternehmen 1882 übergegangen war, in zwei
Jahren die neue
Auflage zu Ende
geführt.
Das festere Eingreifen der leitenden
Hand
[* 10] ist in diesen letzten
Bänden zum Vorteil des Ganzen erkennbar, doch
ließ natürlich inmitten der
Arbeit ein völlig neuer
Plan sich nicht aufstellen. Bei einer dritten
Auflage muß von vornherein
ein festerer
Rahmen aufgestellt und dadurch die
Subjektivität der einzelnen Mitarbeiter mehr in
Schranken gehalten werden.
Man greift im allgemeinen nicht zu einem solchen Nachschlagewerk, um ausführliche Abhandlungen über einzelne Themata
zu studieren, welche in eingehender
Entwickelung die
Ansicht ihres Verfassers darlegen.
Man sucht thunlichst vollständige historische, litterarische, statistische Angaben. Die
Quellen sollen nachgewiesen und ihrem
Werte nach geordnet, nicht aber eigentlich ausgeschöpft werden. Freilich wird die Beschränkung der
Freiheit die Möglichkeit
abschneiden, daß innerhalb des Gesamtwerkes solche wertvolle
Monographien selbständiger Art entstehen,
wie deren die
Schmid-SchraderscheEncyklopädie eine ganze
Reihe aufweist, z. B. über den lateinischen
Unterricht
(Eckstein,
auch besonders erschienen), ferner:
Griechisch,
Gymnasium,
Volksschulen, Volksschullehrerseminar, über das preußische
Schulwesen
in seinen verschiedenen
Zweigen, das der übrigen deutschen
Staaten, das russische, skandinavische, schweizerische Unterrichtswesen
etc. Aber die erhöhte Brauchbarkeit durch größern
Reichtum an einzelnen
Aufsätzen, zahlreichere
Verweise
von einem
Stichwort zum andern, gleichmäßigere Durcharbeitung und namentlich das raschere Erscheinen des Ganzen, das dem
Veralten der ersten
Bände vor
Abschluß des Werkes vorbeugt, werden dafür reichlich entschädigen.
Einstweilen hat jedoch trotz dieser
Wünsche die deutsche
Pädagogik allen
Grund, sich dieses in seiner
Gesamtheit hochehrenwerten Denkmals deutschen Gelehrtenfleißes zu freuen. Auch das 1878 begonnene
»Dictionnaire de pédagogie
et d'instruction primaire« von F. E.
Buisson ist im J. 1889 vollendet worden. Es verdient trotz der im
Titel angedeuteten Beschränkung
auf das Volksschulwesen die allgemeinste Beachtung in deutschen Lehrerkreisen. Weniger gilt dies von dem zuerst
fertig gewordenen zweiten Teile, der sich in der Vorrede geradezu als
Konversationslexikon für den französischen Volksschullehrer
ankündigt und, unter diesem
Gesichtspunkt aufgefaßt, alle
Anerkennung verdient, als von der eigentlichen pädagogischen
Encyklopädie,
welche der weit umfangreichere erste Teil enthält. Auf mehr als 3000 Seiten des größten Lexikonformats und der kleinsten,
allerdings unverantwortlich kleinen
¶
mehr
Schrift bieten die beiden Bücher des Werkes eine staunenswerte Fülle von geschichtlichen und thatsächlichen Angaben. Mutet
manches darin den deutschen Leser fremd an, fordert andres Bedenken und Widerspruch heraus, so erweckt doch das Ganze das günstigste
Vorurteil für den wissenschaftlichen Ernst und die Gründlichkeit, mit der in Frankreich die berufenen
Pfleger des öffentlichen Unterrichtswesens zu Werke gehen. Daß sofort mit dem Abschluß des »Dictionnaire« ein Neudruck nötig
ward, ohne daß zu einer durchgreifenden Neubearbeitung Zeit blieb, ist bezeichnend für den glühenden Eifer, mit dem seit 1870 unsre
westlichen Nachbarn die Fragen des Unterrichts und der Erziehung auffassen. Der grundsätzliche Standpunkt
des »Dictionnaire«, dessen Herausgeber liberaler Protestant und Abteilungsdirektor im Unterrichtsministerium, ist der der modernen
französischen Staats- oder Laienschule. Doch waltet in der Würdigung auch andrer Richtungen des Schulwesens (Ordensschulen,
deutsches, schweizerisches Schulwesen etc.) ein billiges, sachliches Urteil vor.
Das Bedürfnis eines encyklopädischen Nachschlagebuches für pädagogische Fragen ist durch ein Werk vom
Umfang und Preise der Schmidschen Encyklopädie nicht allseitig befriedigt. Die täglich aufstoßenden Fragen des Berufslebens
rasch und sicher dem einzelnen Lehrer wenigstens vorläufig zu beantworten, haben sich daher schon früher Handbücher von
bescheidenerm Umfang dargeboten, wie nach dem Vorgang von Hergangs jetzt veralteter zweibändiger »Pädagogischer
Realencyklopädie« das wiederholt aufgelegte Münch-Loésche Universallexikon der Erziehungs- und Unterrichtskunde,
mit biographischem Anhang von Heindl (Augsburg),
[* 12]
das Petzoldt-Krodersche Handwörterbuch für den deutschen Volksschullehrer,
das an die erste Auflage der großen (Schmidschen) Encyklopädie angelehnte zweibändige »Pädagogische Handbuch für Schule
und Haus« und die katholische »Realencyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens« von Rolfus und Pfister (Mainz).
[* 13] Im
abgelaufenen Jahrzehnt sind diesen Handbüchern zwei neue hinzugetreten, die es unternehmen, in knappster Form, innerhalb
des Rahmens eines Bandes, die notwendigste Auskunft samt dem Hinweis auf die Quellen für tiefere Studien darzureichen. Im J. 1884 erschien
zu Wien das »Encyklopädische Handbuch der Erziehungskunde, mit besonderer Berücksichtigung
des Volksschulwesens« von GustavAdolfLindner (s. d.), dem inzwischen bereits 1887 verstorbenen österreichischen
Schulmann politisch liberaler, philosophisch Herbartscher Richtung.
Sein Werk, freigebig mit Bildnissen, Tabellen, Karten etc. ausgestattet, enthält einen reichen Schatz pädagogischer Weisheit
und pädagogischen Wissens. Als besondern Vorzug hebt der Verfasser im Vorwort hervor, daß alle Artikel, als von ihm selbst
geschrieben, aus einem Gusse sind, sich gegenseitig stützen und zum Aufbau einer einheitlich geschlossenen,
pädagogischen Weltanschauung vereinigen. Wohl; aber darin liegt zugleich die Schwäche des Werkes mit angedeutet. Es ist sehr
persönlich gehalten und läßt an vielen Stellen durchblicken, wie sein Urheber, begeistert von dem Gedanken, daß »eine neue
Epoche der Menschheit herangebrochen sei, deren Zug
dahin gehe, die Bildung als Grundlage der allgemeinen Wohlfahrt
zum Gemeingut der Menschheit zu machen«, sich ganz in den Dienst der neuen, allgemeinen Nationalschule seines Vaterlandes
stellt und gegen die Kreise
[* 14] kämpft, welche nach seiner Ansicht »dem retograden ^[retrograden] Fortschritt huldigen«. Nun darf
man aber wohl sagen, daß eine Encyklopädie
bei aller notwendigen Entschiedenheit ihres Verfassers doch
dessen Urteil nicht überall voranstellen und überhaupt nicht als Parteischrift auftreten sollte. Anders hat daher bei mannigfacher
Berührung im einzelnen F. Sander im gleichzeitigen »Lexikon der Pädagogik« (Handbuch für Lehrer und Erzieher, 2. Aufl., Bresl.
1889) sich das Ziel gesteckt. Er ist mit Lindner überzeugt, daß den sittlichen Ideen der Gegenwart die
Zukunft auch im Schul- und Erziehungswesen gehört.
Aber er findet diese nicht in so schroffem Widerspruch mit dem, was bisher in Deutschland,
[* 15] zumal in Preußen,
[* 16] gegolten hat,
daß ihm der Kampf gegen retrograde Machte das erste Bedürfnis wäre. Ihm scheint gerade für ein Buch
dieser Art Ruhe und Billigkeit des Urteils zu den wichtigsten Erfordernissen zu gehören. Schon dadurch war seinem »Lexikon der
Pädagogik« dieser Grundzug von vornherein verbürgt, daß dieses aus MeyersKonversationslexikon, an dem er seit 1874 auf diesem
Gebiet mitarbeitet, hervorging, um dann freilich sich selbständig weiter zu entwickeln.
Der einzelnen Artikel sind infolgedessen weit mehr als bei Lindner; dafür aber sind sie knapper in der Form, sachlicher in der
Darstellung und, vielfach wenigstens, reicher im Litteraturnachweis. Die Einschränkung oder vorzugsweise Beziehung auf
einen einzelnen Zweig des Schulwesens hat der Verfasser als dem encyklopädischen Charakter entgegen verschmäht
und für alle pädagogischen Kreise zu arbeiten versucht. Tiefer auf eine Würdigung des Buches einzugehen, verbietet der Umstand,
daß hier Verfasser und Kritiker eine Person sind. Daß nach wenigen Jahren die erste starke Auflage (Leipz. 1885) vergriffen
war, und daß auch die zweite, etwas erweiterte Auflage überall freundliche Aufnahme gefunden, so daß
die Lebensfähigkeit des Buches feststeht, zeigt, daß es einem in weitern Kreisen empfundenen Mangel entgegengekommen ist.
Wenn vor zehn Jahren über die philosophische und systematische Pädagogik im allgemeinen gesagt werden konnte, daß ihre Vertreter
mit wenigen Ausnahmen in den SpurenHerbarts wanderten, ist dies während des inzwischen verflossenen Jahrzehnts
wesentlich anders geworden. Allerdings tritt auch jetzt noch eine große Zahl der pädagogischen Schriftsteller unter HerbartsFahne auf; aber verhältnismäßig wenige im Sinn eines unbedingten Bekenntnisses zur Herbartschen Schule, so wie sie sich namentlich
unter ZillersFührung geschichtlich herausgebildet hatte.
Schon immer hatte der aufmerksamere Beobachter zu unterscheiden zwischen der starrern, aber darum
nicht gerade treuern NachfolgeHerbarts im Zillerschen Kreise und der etwas freiern Art, wie namentlich Stoy in Jena
[* 17] die Grundansichten
des Meisters theoretisch und praktisch verwertete und ausbaute. Aber erst in der neuern Zeit hat das mehr oder minder deutliche
Bewußtsein dieser unterschiedlichen Auffassung sich zu ausgesprochener Kritik und hier und da zu einem ziemlich schroffen
Gegensatz verschärft.
Dadurch ist einer freiern Fortbildung des Herbartschen Gedankenkreises auch in pädagogischer Hinsicht erst die Bahn eröffnet,
und in der That liegen beachtenswerte Versuche aus dem abgelaufenen Jahrzehnt vor, die den Grundgedanken des
Meisters in dieser verjüngten Gestalt zeigen. Freilich gehen diese Versuche ohne scharfe Grenze über zu denen, die nur noch
eklektisch an Herbart anknüpfen, aus seinem System einzelnes entnehmen, andres verwerfen oder gar nur gewisse pädagogische
Folgesätze sich aneignen, deren
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