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worden. Auch dem Gesetzbuch des Manu ist ein hohes Alter nicht abzusprechen. Dagegen gehören die Gesetzbücher des Yajnavalkya, Wischnu und Narada schon der nachchristlichen Epoche an. Englische [* 2] Übersetzungen der ältern Gesetzbücher sind in der von Professor Max Müller in Oxford [* 3] herausgegebenen Sammlung »Sacred books of the East« enthalten. Seine höchste Ausbildung hat das indische Recht in den Werken der mittelalterlichen Panditen erfahren. Die ausführlichen Kommentare, welche dieselben über die Gesetzbücher des Manu, Yajnavalkya, Wischnu u. a. schrieben, gehen weit über den Zweck bloßer Erläuterungsschriften hinaus und enthalten eine vollständige und systematische Darstellung des zur Zeit der Kommentatoren geltenden Rechts.
Der berühmteste dieser Kommentare, die Mitakshara, ist im 11. Jahrh. n. Chr. von dem gelehrten Brahmanen Vijnānesvara verfaßt worden, der am Hofe eines mächtigen südindischen Königs lebte. Dieses umfangreiche Werk hat nicht nur in den südlichen und westlichen Landesteilen, sondern auch in Benares eine fast kanonische Geltung erlangt. Nur in Bengalen wird den Rechtswerken der dortigen Panditen, wie Raghunandana, Jimutavahana u. a., die entscheidende Autorität beigelegt.
Die in diesen Werken niedergelegte Rechtsordnung ist die eines streng despotisch regierten Staatswesens. Alle richterlichen Funktionen sind in die Hände des Königs gelegt. Die Prüfung und Aburteilung der Prozesse soll seine hauptsächlichste Beschäftigung sein. Doch kann er, wenn es ihm an Zeit gebricht, auch einen rechtskundigen Brahmanen als seinen Stellvertreter abordnen. Denn die Brahmanen befanden sich, ebenso wie die Pontifexe in der ältesten Periode der römischen Geschichte, im Alleinbesitz des überlieferten juristischen Wissens.
Von ihnen rührt die ganze juristische Litteratur Indiens her, und selbst diejenigen Werke, welche sich für die Produkte fürstlicher Autoren ausgeben, sind thatsächlich von den Brahmanen verfaßt, welche den betreffenden Fürsten als Berater zur Seite standen. Es geht dies daraus hervor, daß sie in der Sanskritsprache abgefaßt sind, welche nur den Brahmanen hinreichend geläufig war, um darin zu schreiben. In den spätern Rechtsbücher findet sich ein ganzer Instanzenzug erwähnt.
Man kann von dem Unterrichter an den Oberrichter, von diesem an die Person des Monarchen appellieren. Übrigens scheinen diese Vorschriften zum großen Teil bloße Theorie geblieben zu sein. Bei der maßlosen Bestechlichkeit der Richter, welche erst nach der Unterwerfung Indiens unter die englische Herrschaft mit Erfolg beseitigt werden konnte, zogen es viele, wenn nicht die Mehrzahl der Rechtsuchenden vor, sich an Schiedsgerichte zu wenden. Solche Schiedsgerichte, Panchayat, »Ausschuß von Fünfen«, genannt, weil sie aus je zwei von jeder der beiden Parteien vorgeschlagenen Richtern und einem fünften als Unparteiischen bestehen, kommen noch heutzutage häufig vor.
Das Gerichtsverfahren war in früherer Zeit mündlich, aber die spätern Rechtsbücher kennen auch ein schriftliches Verfahren. Die Aussagen wurden häufig auf dem Boden der Gerichtshalle protokolliert. Auch in den indischen Dramen wird dieser primitiven Art der Protokollierung gedacht. Als Beweismittel werden neben den Aussagen der Zeugen auch früh schon Dokumente erwähnt. Die detaillierten Vorschriften der Gesetzbücher über die Abfassung von Dokumenten haben in den in großer Anzahl aufgefundenen Schenkungsurkunden, die zu gunsten von Brahmanen von Fürsten oder Edelleuten ausgestellt sind, genaue Befolgung gefunden. Wo menschliche Einsicht versagt, da ist ein Gottesurteil anzuwenden.
Gottesurteile scheinen in Indien bis in die neueste Zeit hinein häufig vorgekommen zu sein. Die indischen Gesetzbücher machen neun Arten derselben namhaft, die sich zum Teil auch bei andern Völkern vorfinden: Gottesurteile durch die Wage, [* 4] durch Feuer, Wasser, Gift, heiliges Weihwasser, durch Essen [* 5] von unenthülsten Reiskörnern ohne Verletzung des Mundes, durch Auffischung eines Goldstücks aus heißem Wasser (Kesselfang), durch das Los und durch Lecken an einer glühend gemachten Pflugschar.
Das Strafrecht weist jene barbarischen Leibes- und Lebensstrafen auf, welche in den meisten Ländern des Orients an der Tagesordnung sind. Abhacken der Füße und Hände, Aufschlitzen der Zunge, Pfählung, Verbrennung und andre grausame Arten der Verstümmelung und Hinrichtung gehören zu den gewöhnlichsten Strafen. Auch symbolische Arten der Bestrafung kommen, wie bei den alten Ägyptern und im europäischen Mittelalter, häufig vor. So sollen den schweren Verbrechern Brandmale verschiedener Form aufgeprägt werden: einem Mörder in der Form eines kopflosen Leichnams;
einem Trinker in der Form der Fahne, welche Schenkwirte auszuhängen pflegen, u. dgl. Der Grundsatz: »Gleiches Recht für alle« liegt dem indischen Rechte gänzlich fern.
Ganz im Gegenteil wird das Strafmaß nach dem gesellschaftlichen Range der Kaste abgestuft, welcher der Verbrecher angehört. Hat ein Brahmane einen Mann aus niedrigerer Kaste beleidigt, so braucht er nur eine Geldstrafe zu zahlen, wie überhaupt die Brahmanen von allen Körperstrafen ausgenommen sind und nur an ihrem Vermögen, in schwereren Fällen durch Verbannung gestraft werden können. Dagegen soll ein Sudra, der einen Brahmanen angreift, beide Hände verlieren; speit er einen Brahmanen an, so sollen ihm beide Lippen, harnt er ihn an, so soll ihm die Scham abgeschnitten werden. Auch bei den Bestimmungen über Ehebruch tritt diese Ungleichheit des Strafrechts nach den Ständen sehr scharf hervor.
Die gleiche Beobachtung läßt sich auch in dem bürgerlichen Rechte machen. So hängt im Schuldrecht die Höhe des erlaubten Zinsfußes von der Kaste des Schuldners ab. Eine besondere Ausbildung hat das Erbrecht erfahren, das ein getreuer Abdruck der altertümlichen Eigentumsverhältnisse ist, die sich Indien bewahrt hat. Im ganzen Orient bildet das Gesamteigentum die Regel, und das Privateigentum ist nur wenig entwickelt. Die Hindu leben bis auf den heutigen Tag in großen Familiensippschaften zusammen, geleitet von dem Senior der Familie, dem seine Gattin als Dirigentin des Haushalts zur Seite steht.
Ein solcher indischer Haushalt zählt manchmal 40-50 Köpfe. Unter Umständen kann auch ein jüngeres Familienglied, das sich durch seine besondere Tüchtigkeit dazu eignet, an die Spitze der Familie treten; denn von der Tüchtigkeit des Hauptes, sagt ein indisches Gesetzbuch, hängt das Gedeihen der Familie ab. Bei einer Teilung des Vermögens war in der frühern Epoche der ältere Bruder zu einem Voraus berechtigt, sei es, daß er einen bestimmten Prozentsatz des gemeinsamen Vermögens oder das Familienhaus oder einen Teil des Viehs etc. als Präzipuum erhielt. In späterer Zeit wurde gleiche Teilung eingeführt, aber die Vorrechte des Ältesten in betreff der Verwaltung des Familiengutes haben sich ziemlich ungeschmälert behauptet. Die Gewalt des Patriarchen an der Spitze der Familie ist um so größer, als die Söhne und Töchter schon sehr frühzeitig verheiratet werden. ¶
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16-18jährige Ehemänner sind zu unerfahren und unselbständig, um einen eignen Haushalt anzufangen; sie bleiben daher auch nach ihrer Verheiratung bei den Eltern wohnen. Die Töchter folgen im Alter von 12-14 Jahren dem Gatten, mit dem sie im 8.-10. Jahre verlobt worden sind, und gehen in die despotische Gewalt eines andern Familienhauptes über. Ein natürlicher Ausfluß [* 7] des patriarchalischen Systems ist die unselbständige Stellung der Frauen. In der Kindheit, so lautet eine häufig wiederkehrende Maxime der indischen Gesetzgeber, soll das Weib dem Vater, in der Jugend dem Manne, im Alter den Söhnen unterthan sein; niemals verdient die Frau Selbständigkeit.
Daraus folgt in vermögensrechtlicher Beziehung der Grundsatz, daß die Frau alles, was sie erwirbt, nicht für sich, sondern für ihren Gewalthaber erwirbt, und daß sie absolut kein Erbrecht besitzt. Doch sind diese theoretischen Maximen früh durchbrochen worden. Während im ältern Rechte die weiblichen Familienmitglieder nur einen Anspruch auf standesgemäßen Unterhalt hatten, der bei den Töchtern sich nur bis zur Verheiratung erstreckte, aber die bedeutenden Kosten der luxuriösen Hochzeitsfeste in sich schloß, wurde späterhin den Frauen, namentlich der Witwe und der Mutter, ein ziemlich weitgehendes Erbrecht eingeräumt.
Nach dem modernen indischen Rechte, wie es in der Mitakshara niedergelegt ist, erbt, wenn kein Sohn vorhanden ist, die Witwe das ganze Vermögen ihres Mannes, falls derselbe nicht in Gütergemeinschaft mit seinen Brüdern oder sonstigen männlichen Anverwandten lebte; nach dem modernen Rechte der Provinz Bengalen erbt die Witwe sogar in diesem Falle. Aus diesem weitgehenden Erbrecht der Witwe ergibt sich zugleich, daß der grausame und berüchtigte Brauch der Witwenverbrennung niemals allgemeine Geltung in Indien gehabt haben kann. Die Erbfolgeordnung ist, wie in dem ältesten römischen Erbrecht, das auf den gleichen Grundsätzen aufgebaut ist, ursprünglich streng agnatisch. Doch sind nach und nach auch die Kognaten in gewissen Fällen zur Erbschaft berufen worden und werden in der Provinz Bengalen sogar zwischen die Agnaten eingereiht. Testamente wurden erst durch die Engländer eingeführt.
Eine so eigenartig entwickelte Rechtsordnung wie die indische konnte, nachdem sie die Zeiten der mohammedanischen Fremdherrschaft überdauert hatte, auch durch die englische Eroberung nicht zerstört werden. Nur die barbarischen und ungerechten Bestimmungen des indischen Strafrechts verschwanden schon in der mohammedanischen Epoche. Die Engländer führten 1838 einen neuen Strafrechtskodex, Penal Code, für Indien ein, welcher den bekannten englischen Historiker Macaulay zum Verfasser hat. (Vgl. Starling, Indian criminal law, 4. Aufl., Lond. 1886.) Dagegen ist im Zivilverfahren schon im vorigen Jahrhundert, als die indische Gerichtsverfassung nach europäischem Muster reorganisiert wurde, die Geltung des einheimischen Rechtes der Hindu und Mohammedaner ausdrücklich anerkannt und seitdem nie angetastet worden.
Als Warren Hastings, der berühmte englische Staatsmann und Feldherr, 1772 von der Ostindischen Kompanie zum Statthalter von Bengalen ernannt wurde, war einer seiner ersten Regierungsakte die Anerkennung und gesetzliche Sanktionierung des Rechtes der Hindu und Mohammedaner, in allen in das Gebiet des Erbrechts und ehelichen Güterrechts sowie ihrer besondern Kastengebräuche einschlagenden Fällen nur nach ihrem eignen Rechte gerichtet zu werden. Auch berief er eine Kommission von elf Brahmanen zur Ausarbeitung eines indischen Kodex auf Grund der alten Gesetze und ließ diese Kompilation von dem Engländer Halhed ins Englische übersetzen.
Dieser Übersetzung, die 1776 erschien, gebührt der Ruhm, zuerst die Aufmerksamkeit der europäischen Gelehrten auf die Schatze der Sanskritlitteratur gelenkt zu haben; aber eine sichere Grundlage für die englische Rechtsprechung lieferten erst zwei Dezennien später die sorgfältigen und genauen Übertragungen von Colebrooke, denen nachher viele andre gefolgt sind. Um ganz sicher zu gehen, pflegten die englischen Richter außerdem indische Panditen zu konsultieren, welche die für den bezüglichen Rechtsfall in Betracht kommenden Stellen aus den indischen Gesetzbüchern beizubringen hatten und zu diesem Zwecke den Gerichtshöfen attachiert waren.
Erst in neuerer Zeit ist diese Einrichtung wieder abgeschafft worden. Die »Präcedenzfälle« (Precedents), welche in den periodischen Veröffentlichungen der anglo-indischen Appellationsgerichte von Kalkutta, [* 8] Bombay, [* 9] Madras [* 10] und Allahabad gesammelt vorliegen, liefern dem englischen Richter eine genügende Grundlage für die Urteilsfällung. Auch liegt für viele einzelne Teile des Rechtes, namentlich für das Patentwesen, Gebührenwesen und andre moderne Einrichtungen sowie für den Zivil- und Kriminalprozeß, jetzt eine Kodifikation vor. (Vgl. Stokes, The Anglo-Indian Codes, Oxf. 1887-88,2 Bde.) Die Anzahl der Prozesse, welche an den anglo-indischen Gerichtshöfen zur Aburteilung gelangen, ist sehr bedeutend.
Namentlich die vermögensrechtliche Stellung der Witwe, der Grad ihrer Dispositionsfähigkeit über das von ihrem Manne ererbte Vermögen, gibt zu vielen Streitigkeiten Veranlassung. Die Gerichtskosten sind sehr hoch, doch wird die Unbestechlichkeit der englischen Richter auch von den Eingebornen rühmend anerkannt, und sie ziehen, wenn sie die Wahl haben, einen englischen Richter einem ihrer Landsleute bei weitem vor.
Vgl. West und Bühler, A digest of the Hindu law (3. Aufl., Bombay 1884,2 Bde.);
Jolly, Tagore law lectures (Kalkutta 1885);
L. v. Schröder, Indiens Litteratur und Kultur (Leipz. 1887).