Dem Volllandtag sollten nur jene Gegenstände vorbehalten werden, welche das ganze Land betreffen. Der weitgehende
Antrag
hat weder bei den klerikalen noch bei den liberalen Abgeordneten
Deutsch-Tirols Aussicht auf Unterstützung. ImDezember 1890 fand
noch eine kurze
Session des
Reichsrates statt, in welcher die provisorische Bewilligung des
Budgets für das Jahr 1891 erfolgte.
Dasselbe wurde in den
Ausgaben mit 564,5, in den
Einnahmen mit 566,8 Mill.
Guld. (gegen 547,1 und 548,8 im J. 1890) beziffert
und ergibt demnach einen Überschuß von 2,3 Mill.
Guld. (gegen 1,7 Mill.
Guld. im Vorjahr).
Eine Überraschung bildete die verfügte
Auflösung des Abgeordnetenhauses, dessen Mandatsdauer ohnedies im
Sommer
d. J. abgelaufen wäre. Als
Grund dieser Maßregel ist der Zersetzungsprozeß, welcher in den
Reihen der bisherigen
Majorität
eingerissen war und dieselbe nicht mehr als eine zuverlässige
Stütze der
Regierung erscheinen ließ,
anzusehen. Daß die innere
Politik in der That an einem Wendepunkte angelangt sei, bewies die bald darauf (4. Febr.) erfolgte Enthebung
des Finanzministers v.
Dunajewski, welcher als die Verkörperung jenes slawenfreundlichen föderalistischen
Systems galt, in
dessen Bekämpfung die
Deutschen mehr als ein Jahrzehnt ihre besten
Kräfte erschöpfen mußten.
Dunajewski
wurde durch
den der deutsch-zentralistischen
Richtung angehörigen Sektionschef des
JustizministeriumsEmilSteinbach ersetzt.
Die Reichsratswahlen fanden Ende
Februar und Anfang März 1891 statt. Das wichtigste Ergebnis derselben war die zerschmetternde
Niederlage der
Alttschechen in
Böhmen,
[* 5] welche ihre sämtlichen
Mandate in den Landgemeinden an die
Jungtschechen verloren
und in den
Städten nur ein einziges behaupten konnten. Infolge dieses eklatanten
Mißtrauensvotums haben die
Alttschechen auf
die Beteiligung an den
Stichwahlen in
Prag
[* 6] und auf ihre Handelskammerkandidaturen verzichtet und sind vom politischen Schauplatz
gänzlich zurückgetreten. Im übrigen ergaben sich geringe Veränderungen im Besitzstande der
Parteien. Die deutsch-liberale
Partei hat wohl in
Niederösterreich empfindliche Einbußen erlitten; so wurden in den niederösterreichischen
Landgemeinden, dann in sieben
Wiener Vorstadt- und Vorortbezirken
Klerikale, bez.
Antisemiten gewählt. Dagegen hat die
Partei
auch einige
Mandate neu gewonnen und zieht in der frühern
Stärke
[* 7] mit 110 (von 353) Abgeordneten in das
Parlament ein.
Die nächststarkePartei sind die
Polen (57). Die bisherigen ruthenischen Vertreter sind durch die der
Regierung und der herrschenden Polenpartei näher stehenden Jungruthenen ersetzt worden. Die
Jungtschechen verfügen über 35
Mandate.
Ein neues Gepräge erhielt die Wahlbewegung durch das Hervortreten der Sozialdemokraten, welche in mehreren städtischen
Bezirken Zählkandidaten aufstellten.
Taaffe sah sich daher durch den
Ausfall der
Wahlen nicht veranlaßt,
zurückzutreten oder durchgreifende Veränderungen im
Ministerium vorzunehmen, sondern beschloß, sich von
Fall
zu
Fall auch
ohne die
Alttschechen die erforderliche Mehrheit zu verschaffen.
Gegenüber der italienischenIrredenta, welche sich in
Triest
[* 9] im
September 1890 durch ein Petardenattentat
bemerkbar machte, zeigte die
Regierung entschiedeneres Auftreten. Der italienische
SchulvereinPro Patria in
Triest wurde aus
Anlaß der Beistimmung zu den
Tendenzen des Österreich
[* 10] feindlichen
Dante-Vereins in
Rom
[* 11] aufgelöst; die gleiche Maßregel traf
den
Triester Progresso-Verein. Etwanige Rücksichten auf das
Bündnis mit
Italien
[* 12] brauchten die österreichische
Regierung bei diesem Vorgehen nicht zurückzuhalten, weil das
KabinettCrispi selbst den
Mut hatte, die Barsanti- und Oberdankvereine
aufzulösen.
Mit großer
Genugthuung wurde auch die Entlassung des italienischen Finanzministers
Seismit-Doda, welcher bei einem
Bankett
in
Udine irredentistische
Demonstrationen zugelassen hatte, sowie die Suspendierung des
Präfekten von
Udine
aus diesem
Anlaß aufgenommen, da dies als ein
Akt der Loyalität und Bundestreue der italienischen
Regierung aufgefaßt wurde.
Sehr günstige
Wirkung übte endlich die gegen die
Irredenta gerichtete, den
Wert derErhaltung des Dreibündnisses betonende
Rede, welche
Crispi in
Florenz
[* 13] hielt. In sehr gelungener
Weise sind die von den
Deutsch-Österreichern
im
Sommer 1890 veranstalteten patriotischen
Feste und zwar das
Fest des
DeutschenSchulvereins 25. und 26. MaiLinz
[* 14] und das vierte
deutsche Sängerbundesfest 15.-17. Aug. in
Wien
[* 15] verlaufen. Namentlich das letztere hat sich zu einem erhebenden alldeutschen
Verbrüderungsfest und zu einer enthusiastischenDemonstration im
Sinne des deutsch-österreichischen Friedensbündnisses
gestaltet. Lebhafte
Genugthuung empfand man endlich in
Wien über den herzlichen Empfang, welcher dem
ErzherzogFranzFerdinand,
dem präsumtiven Thronerben, bei seinem Besuch im
Februar 1891 am russischen
Hofe bereitet wurde.
[* 16]
(Kastenwesen.) Als die
Entdeckung des Seewegs nach Ostindien die erste nähere Bekanntschaft
Europas mit dem alten
Wunderland herbeiführte und die portugiesischen Seefahrer mit der von ihnen unterworfenen
Bevölkerung
[* 17] des indischen
Küstenlandes
in nähere Berührung kamen, ihreSitten und
Gebräuche studierten, erregte nichts so sehr ihre Verwunderung
als die schroffe Abstufung der
Stände und Rangklassen in
Indien. Die entwürdigende
Stellung der
Parias, die abnormen Vorrechte,
welche die
Brahmanen beanspruchten, und andre
Auswüchse des indischen
Kastengeistes haben durch die lebhaften Schilderungen
der portugiesischen Seefahrer früh eine gewisse Berühmtheit erlangt. Auch das
Wort
»Kaste« stammt aus
dem
Portugiesischen (vom portug. casta,
»Geschlecht«). Neuere Untersuchungen haben bewiesen, daß man
Indien mit
Recht als die
¶
mehr
Heimat und die dortigen sozialen Einrichtungen als das Prototyp des Kastenwesens überhaupt betrachtet hat. Namentlich hat die
genauere Durchforschung der alten Sanskritlitteratur einerseits, der Fortschritt der englischen Statistik in Indien anderseits
eine Menge neuer Aufschlüsse über das Kastenwesen gebracht, welche ein allgemeineres Interesse beanspruchen können. In der
ältesten Periode der indischen Geschichte gab es noch keine eigentlichen Kasten.
Die Brahmanen scheinen sich als Hauspriester angesehener und reicher Adels- und Fürstenfamilien und als alleinige Besitzer
des gesamten religiösen und gelehrten Wissens früh zu einer sehr einflußreichen Stellung emporschwangen zu haben, bildeten
aber den übrigen Ständen gegenüber noch keine streng in sich abgeschlossene Zunft. Erst in einem der
spätesten Lieder des Rigweda findet sich der berühmte Vers, der die Entstehung der vier Hauptkasten aus den verschiedenen
Gliedmaßen des Weltgeistes Puruscha schildert und noch in der Gegenwart als die Magna Charta des Brahmanentums betrachtet
wird.
Sucht man durch den mythologischen Nebel, in den diese Überlieferung
den Ursprung des indischen Kastenwesens hüllt, zu dem historischen Kern vorzudringen, so wird man sich die allmähliche Entstehung
dieser ständischen Gliederung etwa folgendermaßen vorzustellen haben: Bekanntlich sind die Arier, die
herrschende Rasse in Indien und die nahen Stammverwandten der indogermanischen VölkerEuropas, vom Norden
[* 19] her in Indien eingewandert,
wo sie die einheimische schwarze Bevölkerung teils unterjochten, teils in die Gebirge im Innern des Landes zurücktrieben.
Die jahrhundertelangen Kämpfe, die um den Besitz von Hindostan geführt wurden, begünstigten das Emporkommen
eines kriegerischen Adels. Zugleich entwickelten sich aber bei einem so tief religiös angelegten Volke die Brahmanen, welche
mit dem wirksamsten Zaubersegen für Schlacht und Krieg bekannt waren, immer mehr zu einem geschlossenen und erblichen Stande.
Den beiden privilegierten Klassen der Priester und Krieger stand die Masse des Volkes unter dem Namen der Vaisyas,
d. h. der Ackerbau und Gewerbe treibenden Klasse, gegenüber.
Eine ähnliche Rangordnung findet sich in dem Zendavesta der stammverwandten Iranier, wie auch im europäischen Mittelalter
die gesamte Bevölkerung in den Lehr-, Wehr- und Nährstand eingeteilt wurde. In Indien stand jedoch unter
diesen drei Kasten, welche unter dem Namen der »Zweimalgebornen« oder »Arier« zusammengefaßt wurden, noch eine vierte Kaste
der Sklaven oder Diener, Sudras genannt, welche aus den Überresten der unterjochten Urbevölkerung des Landes bestand.
Diese Vierkastenordnung war die älteste Form des indischen Kastenwesens und wurde als der Hauptpfeiler der
indischen Staatsverfassung noch in einer viel spätern Epoche festgehalten, welche längst, dem Fortschritt der Kultur und Gesittung
gemäß, die Anzahl der Kasten außerordentlich vervielfältigt hatte. Die indischen Gesetzbücher fassen ihrem Standpunkt
gemäß, welcher jede Vermischung der Kasten als etwas höchst Sündhaftes betrachtet, die wenig geachteten Kasten der Fischer,
Ärzte, Schauspieler, Gaukler etc. als Produkte verbotener Zwischenheiraten unter den vier Hauptkasten auf.
Thatsächlich verdanken diese Kasten ihre Entstehung der Tendenz, jedes besondere Gewerbe in jeder einzelnen Provinz zu einer
gesonderten Kaste zu erheben. Der Kastengeist, früh geweckt, hat in Indien
immer weiter um sich gegriffen, und noch heute ist
die Anzahl der Kasten in steter Zunahme begriffen, wie auch die gegenseitige Abschließung der Stände
nicht ab-, sondern zugenommen hat. Ganz geringfügige Abweichungen von der herkömmlichen Art, ein Handwerk zu betreiben, rufen
nicht selten neue Kasten ins Leben. So hat ein Teil der Milchmänner diejenigen Berufsgenossen, welche buttern, ohne die Milch
vorher aufzukochen, aus der Kaste gestoßen. In Cuttack in Bengalen finden keine Ehen statt zwischen denjenigen
Töpfern, welche ihre Töpferscheibe sitzend drehen und kleine Töpfe formen, und jenen, die ihre Scheibe stehend drehen und
große Töpfe verfertigen.
Innerhalb der Fischerkaste gibt es eine Unterkaste, welche die Maschen von rechts nach links, und eine
andre, welche sie von links nach rechts arbeitet. Aus der Sanskritlitteratur, aus dem Erbrecht und aus den alten Inschriften
läßt sich entnehmen, daß Zwischenheiraten selbst unter den Mitgliedern verschiedener Hauptkasten früher, wenn auch verpönt,
doch keineswegs selten waren. Heutzutage zerfällt jede einzelne Kaste wieder in eine Menge Unterabteilungen,
denen jeder nähere gegenseitige Verkehr untersagt ist. J. ^[John] Wilson, der sich die Darstellung des indischen Kastensystems
zu seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe gemacht hatte, kam in zwei Bänden nicht über die Schilderung der verschiedenen
Verzweigungen hinaus, in welche die Brahmanenkaste zerfällt (»Indian Caste«, Bombay
[* 20] 1877). Der Kastengeist hat sich in Indien
sogar stärker als der Islam erwiesen.
Als die Mohammedaner Indien erobert hatten, nahmen sie nach und nach das Kastenwesen selbst an, und es gibt heutzutage in Indien
kastenartige Unterschiede unter den Mohammedanern so gut wie unter den brahmanistischen Sekten. Auch die englische Herrschaft
hat das Kastenwesen bisher nur wenig gelockert, wenn auch das Zusammentreffen der verschiedensten Kasten
in den englischen Schulen, Eisenbahnen und Tramways zur Beseitigung der alten Standesvorurteile erheblich beiträgt.
Die Brahmanen, 13,730,045 Köpfe nach der Volkszählung von 1881, sind keineswegs als eine eigentliche Priesterkaste anzusehen.
Schon in alter Zeit griffen sie des Lebensunterhalts wegen zu den verschiedensten Beschäftigungen.
Heutzutage huldigt nur ein sehr geringer Prozentsatz der Brahmanen religiösen oder gelehrten Berufen, dagegen sind die verschiedensten
andern Rangklassen bei ihnen vertreten, von dem stolzen Radscha bis zu dem halbnackte brahmanischen Bauer von Orissa.
Sehr viele Brahmanen sind Bettler, andre dienen als Sepoys in der englischen Armee oder als Schreiber in
englischen Büreaus etc. Obwohl nach außen hin streng abgeschlossen und den Besitz der über die Schulter geschlungenen Brahmanenschnur
als ihr ausschließliches Privilegium betrachtend, zerfallen sie doch unter sich in zahlreiche Unterabteilungen, die nicht
untereinander heiraten und nicht miteinander speisen dürfen. Hunter, der bekannte englische Statistiker, erzählt, daß er 1869 einen
Verbrecher aus der Brahmanenkaste im Kerker traf, der versuchte, sich durch Hunger zu töten, und sich lieber körperlicher
Züchtigung unterziehen als die Speisen genießen wollte, die ein aus dem Nordwesten gebürtiger Brahmane für ihn gekocht hatte.
Die kriegerischen Radschputen (von dem Sanskritwort râjaputra, »Königssohn«),
7,107,828 Köpfe, sind die Nachfolger
der alten Kschatriyas oder Radschanyas, der Krieger- und Adelskaste. Aber diese Kaste hat die mannigfaltigsten Elementein sich
aufgenommen, und noch heutzutage kann man in den entferntern
¶