Der lange erwartete Thronwechsel, welcher
Luxemburg
[* 4] (s. d.) gänzlich von den
Niederlanden trennte, vollzog sich ohne jeden
Zwischenfall in vollster
Ruhe. Doch hatte er die
Folge, daß bei der Beratung des
Budgets in den
Kammern
die üblichen
Angriffe auf die
Minister sehr beschränkt wurden, obwohl die Zustände in den
Kolonien und namentlich die auswärtige
Politik des
Ministers Hartsen, der durch seine Weigerung die Beschlüsse der
BrüsselerCongokonferenz zu genehmigen, die Mißbilligung
aller Mächte hervorrief, der er endlich auch nachgeben mußte, manchen
Anlaß zum
Tadel gegeben hätten.
Noch vor Ende des
Jahres 1890 wurde das
Budget erledigt.
Eines der unbedeutendsten Mitglieder des
Ministeriums war der Marineminister
Dyserinck, unter dem die niederländische
Flotte ihrem völligen
Verfall entgegenging.
Als er einen Marineoffizier, der als
Abgeordneter die herrschenden Mißstände wiederholt dargelegt hatte, deswegen nicht beförderte,
erregte er einen solchen
Sturm der Entrüstung, daß er zurücktreten mußte. Die Beratung des Kriegsdienstgesetzes, für
welches sich auch die
Liberalen erklärten, begann erst im April 1891.
[* 5]Litteratur1885-90.Von den Dichtern aus der
Blütezeit erschienen auch in den letzten
Jahren neue,
höchst sorgfältig bearbeitete
Ausgaben, namentlich
Coster von
R. A.
Kollewyn,
Vondel von J. H. W.
^[Johan Hendrik Willem]Unger
(nach der Prachtausgabe von van
Lennep
[* 6] verkleinert) und von dem 1889 verstorbenen J. A.
^[JosephusAlbertus]
Alberdingk Thijm (unvollendet); vollständig erschienen in
Belgien Prudens van
Duyses Gedichte. Der 1889 verstorbene ten
Kate
ließ kurz vor seinem
Tode ein größeres Gedicht:
»De nieuwe Kerk«, erscheinen, das
Eindrücke und historische
Erinnerungen
bei Betrachtung derAmsterdamerKirche neben dem königlichen
Palais enthält. Von
Schimmel
[* 7] erschien in »Innerlijk
leven« eine von ihm selbst besorgte Auswahl seiner Gedichte. Hofdyk (gest. 1888) beschenkte
die Litteratur mit zwei
Epen, die in
Indien spielen: »In het gebergte Di-Eng« und »Dajang-Soembi«.
Joan
Bohl vollendete seine sehr gelungene und mit überreichem
Material in
Noten versehene
Dante-Übersetzung,
desgleichen
Vosmaer vor seinem
Tode (1888) die mustergültige Übersetzung der
Ilias und
Odyssee. In »Nanno« gab derselbe noch
ein griechisches
Idyll, das nach Form und
Inhalt den echten Dichter verrät. In
Belgien erschien von dem inzwischen auch verstorbenen
Jan van
Beers eine mit dem fünfjährigen Staatspreis gekrönte Gedichtsammlung: »Rijzende
Blaren«, von
Julius de Geyter ein romantisches
Epos: »Keizer Karel«, ein anmutiges
Bild aus dem vlämischen
Leben zur Zeit
Karls
V. Einen besondern Platz unter den niederländischen Dichtern nimmt H. J.
A. M. ^[Hermanus
Johannes Aloysius
Maria]
Schaepman
ein, das
Haupt der klerikalen
Partei, dessen umfangreiches Gedicht
»AjaSophia« in schwungvollen
Versen erzählt,
was das berühmte Gebäude in
Konstantinopel
[* 8] Mythisches,
Mystisches und
Historisches dem Dichter bietet.
Unstreitig der begabteste unter den lebenden niederländischen Dichtern nach
Schaepmann ist
M. G.L. van
Loghem
(PseudonymFiore della Neve),
dessen 1883 erschienene »Liefde in het Zuiden« begeisterte
Aufnahme fand und in wenig mehr als einem Jahre
drei
Auflagen erlebte. Diesem Werke folgten rasch nacheinander das romantische
Epos »Liana«, die Gedichtsammlung
»Van eene
Sultane«
und vorzügliche Übersetzungen, namentlich von
CarmenSylvas
»MeineRuh'«. Neuerdings verlegte er sich auf
Operntexte (»König
Arpad«, in deutscher
Sprache,
[* 9] komponiert von Verhey; »Brinio«, komponiert von van Milligen).
Großen Beifall erntete auch der in
Antwerpen
[* 10] lebende
Pol de
Mont namentlich mit seinen
»Idyllen«, »Fladderende vlinders«, »Loreley«,
»In
Noord en Zuid«.
Marcellus Emants, der sich jetzt mehr dem
Drama und der
Novelle zuzuwenden scheint, behandelte in zwei
Epen:
»Godenschemering« und
»Lilith«, nordische und vorhistorische
Stoffe, beide verraten hohe dichterische Begabung.
Die bedeutendsten
Namen der jüngern
Generation, die sich vielfach dem
Sonett zuwendet, sind: J. R.
^[Johannes Romboldus] van
der
Lans, C. W. Lovendaal, Couperus,
HeleneSwarth (»Blauwe
Bloemen«, »Beelden en
Stemmen«, »Sneeuwvlokken«, »Rouw
violen«),
FrauMarie Gelderman, geborne Boddaert,
Frau Knuttel-Fabius.
Alle diese in
Schatten
[* 11] gestellt hätte bei längerm
Leben wahrscheinlich der 1888 verstorbene B. van Heyningen, von dessen zahlreichen Gedichten vorläufig eine kleine,
vielversprechende Sammlung erschien. Erwähnung verdient hier auch die poetische Umschreibung des
ProphetenJesaias durch
Jonckbloet,
einen
Geistlichen. Aus der allerneuesten
Gruppe niederländischer Dichter, deren Auftreten etwa seit 1880 datiert, ist als
der begabteste
Albert Verwey zu nennen, dessen
»Persephone«
[* 12] (1885) viel
Schönes enthält, wie auch seine
»Verzamelde Gedichten« (1889)Gutes aufzuweisen haben.
Indessen legt die
Schule zu großen Wert auf
Tonmalerei und verfällt dadurch nur zu oft in sinnlose Wortspielerei, so namentlich
Gorter (»Mei«),
Die bedeutendsten
Erscheinungen auf dem Gebiete des
Romans sind die beiden 1883 erschienenen historischen
Romane von A.
S. C. Wallis
(s.
Opzoomer): »Vorstengunst« (auch ins Deutsche
[* 13] übersetzt, Leipz.
1885) und »In dagen van strijd«.
Diesen darf an die Seite gestellt werden: »De gouden Dubloen« von J. R.
^[Johannes Romboldus]
van der
Lans;
»Prins of Koning« (anonym erschienen) von
W. H. de
Beaufort;
»De Kaptein van de Lijfgarde« von H. J. ^[Hendrik Jan]
Schimmel, ein
Bild aus der Zeit König
Wilhelms III.
von
England, und desselben
»De vooravond der revolutie«.
der 1887 »Hertog
Adolf« erscheinen ließ.
Höher als dies Werk stehen die Künstlerromane
des 1888 gestorbenen
Vosmaer: »Amazone«
[* 15] (deutsch von Lina
Schneider) und
¶
mehr
»Inwijding«, daneben die kunsthistorischen Novellen von W. P. Wolters: »Transalpina« (1883),
»Uit
de hollandsche school« (1889). Auch JohannGramsRoman: »Maurits van Morelen«, der ein Malerleben schildert, wäre hier zu erwähnen.
Die gelesenste Romanschriftstellerin ist gegenwärtig wohl Melati van Java (Pseudonym für MarieSloot),
die ihren zahlreichen
ältern Werken unter andern eine Reihe von Erzählungen folgen ließ, so: »Hermelyn« (1885),
»Nazomer« (1888),
»Verdwenen«
(1889) und den der indischen Geschichte entnommenen Roman »Van slaaf tot vorst«, der von der Kritik sehr beifällig aufgenommen
wurde. Ihre auf einer Reise durch Schottland gesammelten Eindrücke und Erinnerungen verarbeitete sie in dem
reich illustrierten Werke »Het land van WalterScott« (1887). Den musikgeschichtlichen Roman pflegte KatharinavanRees in mehreren
Werken. Zumeist den höhern Gesellschaftskreisen entnahm die thätige Cornelie Huygens die Stoffe ihrer Romane (»Uit den strijd
des levens«, »Regina«, »Ella«, »Helene van Bentinck«).
Eine ältere Lebensanschauung vertreten Frau van Westhreenens »Adele«, de Veers »Oudejaarsavond-schetsen«
(Novellen) und Alberdingk Thijms posthumes Werk: »NotreDame de Forest«, eine Geschichte aus dem 17. Jahrh. Dieselbe Richtung,
aber in durchaus modernem Gewand, verfolgt van Sorg ens Roman »Klaartje«, der großen Erfolg hatte. Höher steht desselben
Autors »Porcelein« (1889). Gerngelesene
Romanschriftsteller sind ferner: Terburch (»Ontrouw«, »Vanitas«, »Willem Norel«),
Großes Aufsehen erregte Fräulein Lovelings zweibändiger Roman »Sophie«, der Kirche und Staat im schroffsten Gegensatz zeigt.
Einen stetig wachsenden Leserkreis erwarb sich Johanna van Woude (Frau van Wermeskerken-Junius) mit ihren
Romanen: »Hare Roeping getrouw«, »Tom en ik«, »Oudhollandsch Binnenhuisje« und »Zijn
Ideaal«. Der beliebteste aller Novellisten ist Justus van Maurik, der seine Stoffe meist dem AmsterdamerLeben der untern Klassen
entnimmt, so in den Novellensammlungen: »Burgerluidjes«, »Met zen achten«, »Uit een pen«, »Uit
het volk«, »PapierenKinderen«;
»Krates« ist ein Roman aus dem Leben einer vagabondierenden Künstlerfamilie.
Dorfnovellen und Skizzen schrieben Beunke, Heering, Nagtglas, Ising (HaagerSkizzen),
Banning, Seipgens und das schon genannte
Fräulein Loveling. Satiren der heutigen Gesellschaft schrieb Jan Holland (Pseudonym für A. J. ^[AnnesJohan] Vitringa). Cosinus
(Pseudonym?) macht in »Kippeveer« (auch zu einer
Posse verarbeitet) die Hauptpersonen der klerikalen Partei lächerlich. Als Tendenzschriften sind eine Reihe von Romanen zu bezeichnen,
welche indische oder allgemeine politische Verhältnisse behandeln, so Perelaer, der in »Baboe Dalima« die Greuel des Opiumhandels
enthüllt, vanRees, Groneman, Maurits (Colonel de Rochemont), van Bloemen-Waanders, de Rochemont.
Das häusliche Leben in Indien beschreiben Kusky, Frank, Maleia (Freiin van
Nahuis) und die kürzlich verstorbene
Annie Foore (Frau Yzerman-Junius). Eine feine antireligiöse Satire ist »De kleine Johannes« von dem Arzte F. W. van Eeden. Van
Looy veröffentlichte die stilistisch mustergültige »Proza«. Von Genialität
zeugen FransNetschers »Studies naar het naakt model«, »Menschen in en om ons«, »Uit ons Parlement« und »In
en om de Tweede Kamer«. Im allgemeinen fehlt es der niederländischen schönen Litteratur gegenwärtig nicht an vielversprechenden
Kräften, doch sehen wir auch hier viele derselben mit talentlosen Vertretern der »neuesten
Schule« um die Wette sich in pornographischem Schmutze wälzen.
Im Drama haben sich einige erfreuliche Lebenszeichen wahrnehmen lassen. Von A. S. Koks sehr getreuer Shakespeare-Übersetzung
in Prosa erschien 1884 die 2. Auflage, zu gleicher Zeit der Schlußband vonL. A. J. ^[Leonardus AlexanderJohannes] Burgersdyks
Übersetzung des großen Briten, welche schon mehrfach ihre Bühnenfähigkeit praktisch erwiesen hat. Auch von Molière
gingen einige Lustspiele in neuer Übersetzung in Szene; hervorzuheben ist die treffliche Übersetzung der »Précieuses« von
S. J. Botsberg-Wilson, dem verdienten Direktor der Amsterdamer Theaterschule. B. M. Mendesda Costa lieferte 1887 einen sehr beifällig
aufgenommenen Einakter: »Thuis gebleven«, dem er eine freie Bearbeitung eines französischen Stoffes, »Zijn model«, folgen
ließ, doch blieben die daran geknüpften Erwartungen bis jetzt unerfüllt.
Von ältern der jetzt lebenden Dichter gab der RotterdamerSchauspielerRosier Faassen seine »Dramatische Werken« vollständig
heraus. Die dramatische Produktion des zur Zeit populärsten Schriftstellers Justus van Maurik beschränkte sich seit 8 Jahren
auf drei kleinere, beifällig aufgenommene Stücke: »Fijne Beschuiten«, eine scharfe Satire gegen die Frömmelei,
»Men zegt«, eine Satire gegen die Klatschsucht, und »Françoise's opstel«, von denen namentlich das letzte stark durch die Franzosen
beeinflußt erscheint.
Brooshooft gab 1883 in »Zijn meisje komt uit!« ein gelungenes Gemälde
des Lebens in Niederländisch-Indien, desto geringern Erfolg hatte er mit »Dirk Govert Klaaszon«, einer
gegen gewisse Professorenverhältnisse gerichteten Satire. Ebenso hatten zwei satirische Stücke des Lustspieldichters van
der Aa (Pseudonym: Henry van Meerbeke): »Ministerieele crisis« und »Casus belli«, später in »Gevaar voor oorlog« umgetauft,
keinen Erfolg. D. M. Maaldrinks Trauerspiel »Herodes« verriet wohl dichterisches Talent, war aber zur Aufführung und geeignet,
während sein historisches Schauspiel aus der Revolutionszeit: »JeanMasseur«, mit verdientem Beifall aufgeführt wurde.
Dagegen befriedigte desselben Autors »De terugkomst van den Koloniaal« die gehegten Erwartungen in keiner Weise. Ein erfreuliches
Dichtertalent bekundete der Arzt F. W. van Eeden in vier kleinen Lustspielen: »FransHals«, worin er eine alte Anekdote
dramatisiert, »Het Poortje«, welches die Altertümelei, »Het
Sonnet«, das die Zeitungsschreiber, und »De student thuis«, das den philiströsen Studenten in köstlicher Weise verspottet.
Der Schauspieler Jan C. de Vos ließ in »Ik heb een stuk geschreven« das Publikum einen ergötzlichen Blick hinter die Kulissen
werfen. Mit ziemlich gutem Erfolg ging 1888 Seipgens »Rooie
Hannes« über die Bühne, ein gelungenes Bild aus dem Volksleben in der ProvinzLimburg.
[* 17] Die neuesten Erfolge errang der strebsame
Marcellus Emants mit
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