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Gebiete der Musikgeschichte bringt uns noch eine »Geschichte des Klaviers und des Klavierspiels« von Ad. Ruthardt (1888),
eine englische »History of pianoforte-music« von J. C. ^[John Comfort] Fillmore (1883),
ferner R. Pohls »Höhenzüge der musikalischen Entwickelung« (1887) und W. Bäumkers »Das katholische deutsche Kirchenlied« (1883-86,2 Bde.). Wir schließen den Überblick über die neueste historische Litteratur mit dem Hinweis auf das an selbständigen Untersuchungen reiche neueste lexikalische Werk von Sir George Grove: »Dictionary of music«, dessen erster Band [* 2] 1880 erschien und das mit dem kürzlich (1890) erschienenen Register zu Band 1-4 endlich seinen Abschluß gefunden hat. Das Werk berücksichtigt zwar nur die neuere Zeit seit 1450 und ist auch für diese keineswegs erschöpfend (besonders sehr karg in der Auswahl von Biographien), aber in einzelnen historischen Abhandlungen und einigen Biographien (z. B. Mendelssohn und Schubert) sehr inhaltsvoll und selbständig.
Ästhetik.
Durch die neueste Litteratur der musikalischen Ästhetik weht ein frischerer Hauch; die Gegensätze, welche Hanslicks Schrift »Vom Musikalisch-Schönen« gegeneinander in Bewegung gesetzt, sind auf bestem Wege, sich friedlich auszugleichen, indem sie in einer höhern Dritten aufgehen. Bekanntlich spitzte sich der Gegensatz der Anschauungen zu der Frage zu, ob die Musik Beruf und Fähigkeit habe, etwas darzustellen? Hanslick und die übrigen Formalisten in der Ästhetik verneinen die Frage und sehen im Formalen der Musik deren einzigen Inhalt, während die Gegner, ausnahmslos Anhänger der neudeutschen Richtung in der Musik, d. h. Wagners und Liszts, begeisterte Adepten der Lehre [* 3] vom Gesamtkunstwerk und der Programmmusik, dazu neigen, alle Musik gering zu schätzen, die nicht darstellen will.
Beiden fehlte offenbar nur das rechte Wort für das, was sie meinten; weder glaubten Hanslick und seine Freunde ernstlich an eine Inhaltslosigkeit der Musik, noch glaubten die neudeutschen Ästhetiker ernstlich daran, daß Beethoven und Mozart Programmmusik geschrieben haben oder gar, daß ihre Schöpfungen vor einer neuen Sonne [* 4] der Erkenntnis verblassen müßten. Von verschiedenen Seiten her sind nun die Ästhetiker zum Verständnis derjenigen Begriffe vorgedrungen, die sie zu einigen geeignet und bestimmt sind.
Hermann Lotze in seiner »Geschichte der Ästhetik in Deutschland« [* 5] (1868) fand zuerst eine Formel, aus welcher die neuesten Definitionen sich mühelos herleiten lassen; er las dieselbe aus Herders »Kalligone« heraus oder in dieselbe hinein, nämlich daß unser ästhetisches Genießen nicht ein passives, sondern ein aktives ist (a. a. O., S. 79), nicht ein bloßes Konstatieren sinnlich wahrnehmbarer Verhältnisse und Veränderungen, sondern Miterleben derselben, ein uns Hineinversetzen, ein Mitthun mit dem eignen Willen.
Daß dieser Gedanke Früchte tragen mußte, ist selbstverständlich bei dem hohen Ansehen und der Verbreitung des Lotzeschen Werkes. Es findet zuerst seine volle Nutzanwendung in Heinrich Wölfflins Dissertation »Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur« (1886), zunächst um das Verständnis für die Wirkungen der architektonischen Formen zu erschließen, aber auch bereits mit Hinweis auf seine Bedeutung für die Ästhetik der Musik. Von andrer Seite her fand Friedrich v. Hausegger (»Musik als Ausdruck«, 1885) den Weg zur Aufdeckung des ästhetischen Prinzips der musikalischen Wirkungen.
Ausgehend von Wagners Idee der Zusammengehörigkeit von Wort und Ton, sieht er den Beruf der Musik einzig darin, Empfindung direkt auszudrücken, also, wie Fr. Nietzsche es einmal formulierte, Gebärde des Affekts zu sein; die Wirkung auf den Hörer aber basiert darauf, daß dieser sich mit dem Singenden identifiziert, also in der Illusion selbst die Töne und Melodien hervorbringt, welche er hört. Arthur Seidl in seiner Dissertation »Vom Musikalisch-Erhabenen« (1887) folgert richtig weiter, daß in der Architektur wie in der Musik die Wirkung des Erhabenen entsteht, wenn die Grenzen [* 6] des dem Menschen Mitempfindbaren oder Nachbildbaren überschritten werden. H. Riemanns »Wie hören wir Musik« (1888) ergänzt diese Ideen dahin weiter, daß der Musik zunächst elementare Wirkungen eignen, denen sich der Mensch nicht entziehen kann, die zum Miterleben, Mitwollen zwingen (die Veränderungen der Tonhöhe, Tonstärke und Bewegungsart), daß in diesem Elementaren die eigentliche Wirkung wie der eigentliche Inhalt der Musik liege, daß das formale Element (harmonische Regelung der Tonhöhen, taktmäßige Ordnung der Tonwerte) erst als ein zweites hinzukomme, wodurch Musik erst Kunst wird, und daß endlich erst in dritter Linie eine Musik möglich sei, welche etwas ausdrücken wolle als Willensemanation eines vorgestellten Objekts.
Die Bedeutung der elementaren Wirkungen der Darstellungsmittel der Kunst wurde wohl zuerst nachdrücklich betont von G. Th. Fechner (»Vorschule der Ästhetik«, 1876). Ausgehend von diesen grundlegenden Gedanken, ist eine ausgeführte Ästhetik der Musik sehr wohl möglich, welche die spezialen Darstellungsmittel (Melodik, Rhythmik, Harmonik, Dynamik, Agogik) in ihren Einzelwirkungen und mancherlei Mischungen eingehend erörtert. Doch ist diese ausführliche Ästhetik noch eine Hoffnung für die Zukunft.
Die gegenwärtigen Handbücher der Musikästhetik sind daher mehr nur Geschichten der Musikästhetik und Kritiken der Aufstellungen der bisherigen Musikästhetiker und Philosophen, ersteres vor allen H. Ehrlichs »Musikästhetik von Kant bis auf die Gegenwart« (1881),
die zu eignen fruchtbaren Gedanken nicht vordringt, letzteres R. Wallascheks »Ästhetik der Tonkunst« (1886). Auch Ed. v. Hartmann (der Philosoph des »Unbewußten«) bleibt bei der Abhandlung allgemeiner ästhetischer Begriffe und der Kritik der Definitionen andrer Ästhetiker stehen, anstatt bei einer Musikästhetik direkt von musikalischen Elementen auszugehen. Dagegen steht Gustav Engel (»Ästhetik der Tonkunst«, 1884) ganz auf dem Boden der Musik und sucht von diesem aus den Konnex mit den Systemen der Philosophen.
Sein Fundamentalsatz (S. 5): Musik ist die Durchdringung des bloß sinnlichen Elements des Hörbaren mit dem rein geistigen Triebe, das Mannigfaltige einheitlich zu begreifen, stellt sich zwar mit scharfer Betonung [* 7] auf die Seite der formalistischen Ästhetiker, doch bleibt Engel bei ihm nicht als dem einzigen Prinzip stehen. Er bemerkt wohl (S. 21), daß Steigen und Fallen [* 8] des Tones so sehr dem Auf- und Abwogen des Gefühls entsprechen, daß sogar das Abweichen von der starren Regelmäßigkeit zu einer Tugend werden kann, womit er die absolute Gültigkeit des formalen Prinzips in Frage stellt und sogar so weit geht, unreine Intonationen als ästhetisch zulässig zu motivieren. Er ahnt dabei, was bereits Schopenhauer (1818) mit wünschenswertester Klarheit formuliert hat (»Welt als Wille und Vorstellung«, Bd. 1, S. 304), daß die Musik keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst ist. Wenn Schopenhauer die Musik als unmittelbare Objektivation des ¶
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Willens selbst hinstellt, so ist das doch gewiß nichts andres als das, was unsre jüngsten Ästhetiker schüchtern und zaghaft mit andern Worten zu formulieren versuchen: Musik als Ausdruck! Wahrscheinlich ist die ungeheuere Größe des Schopenhauerschen Gedankens: die Zurückführung des ganzen Seins auf die beiden Begriffe des Willens (natura naturans) und der Vorstellung (natura naturata), der Grund dafür, daß seine Definition in diesem Sonderfall nicht gleich ihrer ganzen Tragweite nach gewürdigt wurde.
Freilich laufen in Schopenhauers der Musik gewidmeten Kapiteln sonderbare Verirrungen mit unter, so die Vergleichung des Grundtons mit dem Mineralreich, der Terz mit den Pflanzen, der Quinte mit den Tieren, der Oktave (Melodiestimme) mit dem Menschen, ferner die Annahme der feingegliederten Beweglichkeit nur für die Oberstimmen, als wenn es keine Polyphonie gäbe! Der Gedanke selbst aber steht bei Schopenhauer wie in Stein gehauen da, und Hanslick selbst wie seine Parteigänger (von denen einer der bedeutendsten Ottokar Hostinsky ist: »Das Musikalisch-Schöne«, 1877) und Gegner (Ad. Kullak: »Das Musikalisch-Schöne«, 1858; Graf P. Laurencin: »Hanslicks Lehre vom Musikalisch-Schönen«; Fr. Stade: [* 10] »Vom Musikalisch-Schönen«; A. W. Ambros: »Die Grenzen der Musik und Poesie«, 1855) hätten nichts Besseres thun können, als denselben aus seiner harten Schale herauszulösen und in fruchtbaren Boden zu pflanzen. Merkwürdigerweise hat das auch Karl Fuchs in [* 11] seiner Dissertation »Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst« (1871) übersehen, obgleich diese Schrift speziell von Schopenhauer ausgeht. Schopenhauer bezeichnet ausdrücklich (Bd. 1, S. 312) die Fähigkeit der Musik, alle Regungen unsres innersten Wesens wiederzugeben, »aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual«, und führt darauf das unaussprechlich Innige der Musik zurück; er erklärt auch vollständig befriedigend, warum das Lächerliche vom Gebiet der Musik völlig ausgeschlossen ist, weil nämlich ihr Objekt nicht die Vorstellung ist, in Hinsicht auf welche Täuschung und Lächerlichkeit allein möglich sind (S. 309). Die Musik ist demnach eine im höchsten Grade allgemeine Sprache, [* 12] die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen.
Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs wie jene leere Allgemeinheit der Abstraktion etc. Schopenhauers Auffassung des Verhältnisses von Ton und Wort stimmt ganz und gar nicht zu der der Wagnerianer, die sich so gern auf Schopenhauer berufen. Er weiß nichts von einem Bedürfnis der Musik, sich dem Worte zu vermählen, ist im Gegenteil der Meinung, daß solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, nie mit durchgängiger Notwendigkeit ihr verbunden sind (Bd. 1, S. 310), und (S. 309) daß der Text die untergeordnete Stellung nie verlassen sollte, um sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel des Ausdrucks zu machen, »als welches ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit ist«.
Welcher Kontrast dieser Auffassung der hohen Bedeutung der absoluten Musik und der Ed. Grells, dessen »Aufsätze und Gutachten« Heinr. Bellermann herausgab (1887): Zu einem musikalischen Gedanken gehören drei Dinge:
1) Wort, 2) Harmonie und 3) Rhythmus. Von diesen dreien gibt das Wort nicht nur die Seele, den Inhalt des Gegenstandes, sondern auch durch seine Vokale Veranlassung zur Harmonie und durch seine Konsonanten Veranlassung zum Rhythmus! (eine Verteidigung der Instrumentalmusik gegen Grell führte mit Glück Heinrich Ordenstein, 1888). So gibt also Schopenhauer zuerst eine befriedigende Definition des Wesens der Musik als direkten Ausflusses des Seelenlebens des Komponisten (Willensemanation), während Lotze den Schlüssel für ihre Wirkungen gibt (Miterleben, sich eins fühlen mit dem Willen des Komponisten).
Diese beiden Grundpfeiler dürften dem dereinstigen Ausbau der Musikästhetik festen Halt geben; sie erklären das Wahre, Lebensvolle, Packende der Musik (Musik als Ausdruck), gegenüber welchem das Schöne, dessen Erklärung die formalistischen Ästhetiker sich einseitig zuwenden, eine zwar unentbehrliche, aber auf alle Fälle eine Begleiterscheinung ist (Musik als schönes Spiel mit Tönen). Das aber, worauf die Gegner Hanslicks sich steifen, daß Musik etwas Vorgestelltes ausdrücken solle, ist erst das Dritte, ein nur Mögliches, niemals Nötiges: das Charakteristische der Musik kommt erst zur Geltung, wenn der Komponist nicht sein Empfinden ausspricht, sondern aus der Seele eines vorgestellten Objektes heraus redet und auch vom Hörer verlangt, daß er sich in dieses hinein versetze (darstellende Musik).