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wie energische Widersacher gefunden haben, hat der Münchener Jahresausstellung von 1890 gewissermaßen die Signatur verliehen, durch die selbst die kühnsten Wagestücke der Münchener Naturalisten in den Hintergrund gedrängt worden sind. Die Glasgower Malerschule, die bereits über 300 Mitglieder zählt und auch eine besondere Zeitschrift ins Leben gerufen hat, die ihre Kunst- und Naturanschauung ästhetisch und kritisch vertritt, soll aus einer Anzahl von Dilettanten, von Angehörigen verschiedener Kreise [* 2] der Handels- und Geschäftswelt hervorgegangen sein, die ohne Vorbildung, nur nach ihrem eignen Empfinden und völlig naiv in ihren Mußestunden kleine Naturausschnitte, wie sie sich ihnen in Wald und Feld darboten, mit Öl-, Wasser- und Pastellfarben festzuhalten suchten.
Diese ursprünglichen Erzeugnisse erregten die Aufmerksamkeit reicher Kunstliebhaber, die es einigen dieser jungen Künstler ermöglichten, sich im Zeichnen zu vervollkommnen und dann ihre weitere Ausbildung in Paris [* 3] zu suchen. Was dort am meisten auf sie eingewirkt hat, muß, nach den in München [* 4] ausgestellten Bildern zu urteilen, der Impressionismus gewesen sein. Denn die Mehrzahl der schottischen Bilder kommt dem französischen Impressionismus, der in Paris übrigens bereits ein fast überwundener Standpunkt ist, am nächsten.
Die Vernachlässigung der Perspektive, das Fehlen der Lufttöne und die naive Nebeneinanderstellung der grellsten Kontrastfarben ohne Mitteltöne erinnern daneben auch an die frühmittelalterlichen Buchmalereien und die Malereien der Japaner. Unter völliger Aufgabe einer bestimmten Zeichnung und körperlichen Modellierung beschränken sie sich darauf, einen Farbenfleck neben den andern zu setzen und dadurch in dem Beschauer eine Stimmung hervorzurufen, die sie selbst beim Anblick des dargestellten Naturausschnittes empfunden zu haben glauben. Es sind meist sehr anspruchslose Landschaften, Wald- und Gartenpartien, Felder und Wiesen mit Hirten, Hirtinnen und Herdevieh, mit Kindern, die Blumen oder Obst pflücken oder Pilze [* 5] sammeln, seltener mit historischer oder legendarischer Staffage, wie z. B. Königin Maria von Schottland am Morgen nach der Schlacht bei Langside in einem Walde von John Lavery, der gute König Wenzel in einer Winterlandschaft von Alexander Roche und die heil. Agnes von David Gauld.
Der Umfang der Mehrzahl dieser Ölgemälde, Aquarelle und Pastellzeichnungen ist meist ein geringer; aber sie wollen nicht etwa als Skizzen, als Vorstudien für auszuführende Gemälde, sondern als fertige Bilder angesehen sein. Ihre Schöpfer suchen ihren Stolz in der Unabhängigkeit von jeder bisher in der modernen Malerei in Geltung gewesenen Überlieferung; indem sie zur reinen, unverfälschten Natur zurückgekehrt zu sein glauben, haben sie jedoch zugleich die malerische Technik, die Errungenschaft von Jahrhunderten, auf die niedrigste Stufe zurückgeschraubt.
Höher als diese Landschaften stehen die Bildnisse von James Guthrie, dem hervorragendsten unter den Glasgower Malern, der zwar auch im wesentlichen die gleiche robuste Malweise anwendet, aber in der freien Vornehmheit seiner Auffassung doch auch den Einfluß alter Meister, insbesondere des Velazquez, durchblicken läßt. Er wurde mit einer ersten Medaille ausgezeichnet, während der schon genannte John Lavery für eine Landschaft mit Figuren, einen Tennispark, die in den Einzelheiten sorgfältiger durchgearbeitet war als seine übrigen ausgestellten Arbeiten, eine zweite Medaille erhielt.
Unter den italienischen Bildern fesselten wie gewöhnlich am meisten die Szenen aus dem modernen Volksleben durch die dramatische Lebendigkeit der Darstellung, durch die Frische und Naivität des Humors und das lustige, blühende Kolorit, das selbst die grellsten Lokalfarben zu einem harmonischen Boukett zusammenzustimmen weiß, so z. B. die Unermüdlichen (ein Tänzerpaar in der Osteria) von E. Lancerotto, der Windstoß auf dem Kai von Silvio G. Rotta, die Überfahrt nach San Giorgio Maggiore und auf dem Markusplatz von A. Milesi und die Arbeiterinnen im Reisfeld von Ettore Tito.
Die italienische Plastik bot in den Terrakottebüsten und -Figuren von Mohren und Mohrinnen von Pagano in Rom [* 6] Muster feiner Charakteristik und geschmackvollster Anwendung der Polychromie. In Spanien [* 7] ist die Geschichtsmalerei großen Stiles, die 1883 mit einer Reihe hervorragender, eine neue Entwickelung verheißender Schöpfungen erschienen war, wieder in den Hintergrund getreten. Wenigstens bot die Ausstellung Bemerkenswertes nur in einigen Genrebildern, unter denen der phantastische Hexensabbat von José Benlliure y Gil (s. d.), nach dem Hochamt (eine figurenreiche Szene vor einer Kirche) von Ramon Tusquets und eine Taufe in Spanien von Viniegra y Lasso vorzugsweise durch die geistreiche Technik und die Schärfe und Feinheit der Charakteristik fesselten.
Unter den deutschen Kunststädten war naturgemäß München so stark vertreten, daß die übrigen daneben nicht in Betracht kamen, am ehesten noch Düsseldorf, [* 8] das in Vautiers' Gast im Herrenstübl und in Bokelmanns Täufling (Motiv aus den Dithmarschen) zwei ausgezeichnete Leistungen echt deutscher Genremalerei geschickt hatte. Obwohl die Münchener Naturalisten, welche die trivialsten Vorgänge aus dem Alltagsleben in Stadt und Dorf mit lebensgroßen Figuren darzustellen lieben, alle ihre Kräfte aufgeboten hatten, um die reformatorische Thätigkeit, die sie innerhalb der modernen Kunstbewegung auszuüben glauben, in ein helles Licht [* 9] zu stellen, sind die großen Erfolge der Ausstellung nicht in ihrem Lager, [* 10] sondern in dem der Vertreter der alten Schule und ihrer jüngern Nachfolger zu suchen.
Von den ältern Künstlern waren besonders W. Diez, Joseph Brandt, Matthias Schmid, W. Leibl, Joseph Wopfner, Joseph Wenglein, Albert Keller, L. Willroider, G. Schönleber (jetzt in Karlsruhe), [* 11] A. Holmberg, von den jüngern Claus Meyer, Bruno Piglhein, Joseph Weiser und T. E. Rosenthal durch Werke vertreten, die sie nicht nur auf der vollen Höhe ihres Schaffens, sondern auch auf der Suche nach neuen koloristischen Problemen oder nach neuen Stoffen zeigten. Insbesondere suchte Keller in der Parade vor der Leiche des Franzosen Latour d'Auvergne auf dem Kirchhof zu Oberhausen [* 12] und in einem abendlichen Diner bei Kerzenlicht die schwierigsten Beleuchtungseffekte zur Darstellung zu bringen. In gleicher Richtung bewegte sich der verlorne Sohn von Joseph Block, einem Schüler und Mitarbeiter Piglheins, der nicht allein in diesem ernst gestimmten Sittenbild aus dem Leben der höhern Stände, sondern auch in Bildnissen und Genreszenen aus dem Leben der niedern Volksklassen eine scharf ausgeprägte Begabung für ein tiefes Eindringen in das seelische Wesen der dargestellten Personen bekundet.
Unter den neu aufgetauchten Talenten, auf deren weitere Entwickelung man große Hoffnungen zu setzen berechtigt ist, sind von hervorragender Bedeutung noch Karl Marr (s. d.), der nach dem großen, 1889 mit den Flagellanten erzielten Erfolg seine reiche koloristische Begabung und die ergreifende Tiefe ¶
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seiner Charakteristik noch stärker in einem Bilde aus Deutschlands [* 14] tiefster Erniedrigung (1806) konzentriert hatte, und Robert Haug (s. d.), der jetzt in Stuttgart [* 15] ansässig ist, aber einen Teil seiner künstlerischen Ausbildung in München erhalten hat. Er ist der einzige deutsche Maler, der mit einer ersten Medaille ausgezeichnet wurde und zwar für den Abschied des Lützower Offiziers von seiner Braut. Nicht minder erfreulich als dieser neue Aufschwung des geschichtlichen Genrebildes war die Wiederbelebung der Historienmalerei durch zwei Münchener Künstler, die ebenfalls nach ihrer Ausbildung der jüngern Generation angehören, aber mit dem Naturalismus nicht das Geringste gemein haben: den aus Tirol [* 16] gebürtigen Alois Delug, der in dem nächtlichen Begräbnis des Westgotenkönigs Alarich im Busento das Phantastische des Motivs mit gleichem Geschick in der dramatisch erregten Komposition wie in der äußerst schwierigen malerischen Darstellung zur Anschauung gebracht hatte, und durch Otto Friedrich, dessen Demütigung Heinrichs IV. vor Papst Gregor im Schloßhof zu Canossa sich frei von jedem theatralischen Pathos hielt und dafür den Schwerpunkt [* 17] auf den mühsam verhaltenen Ausdruck wildester Leidenschaften in den Köpfen der Hauptfiguren legte. Beide Gemälde wurden durch eine zweite Medaille ausgezeichnet, und eine gleiche Auszeichnung erhielt auch ein Werk der Münchener Plastik, die auf der Ausstellung nicht ihrer Bedeutung entsprechend vertreten war, eine die Doppelflöte spielende Chloë, eine nackte [* 13] Figur von vollendeter Durchbildung des jugendlichen Körpers, von Heinrich Waderé.
II. Die 62. Ausstellung der königl. Akademie der Künste in Berlin [* 18]
wird in der Geschichte der von der Akademie veranstalteten Ausstellungen insofern eine Bedeutung behalten, als ihr ungünstiges Ergebnis den Senat der Akademie, wie oben erwähnt, veranlaßt hat, von einer Ausstellung für das Jahr 1891 abzusehen. Dieser Mißerfolg ist aber nicht etwa aus einem Sinken des künstlerischen Schaffens in denjenigen deutschen Kunststädten zu erklären, die den Berliner [* 19] Ausstellungen den größten Teil ihres Inhalts zuführen. Er ist vielmehr durch das Zusammentreffen verschiedener unglücklicher Zufälle veranlaßt worden, unter denen das ungünstige Sommerwetter, das dem Besuch des innerhalb eines Parkes gelegenen, wenig wetterfesten Ausstellungspalastes sehr hinderlich war, die Hauptrolle spielte.
Dazu kam eine allzugroße Nachsicht der Jury, die eine solche Menge mittelmäßiger Arbeiten zugelassen hatte, daß die guten darunter erdrückt wurden, eine mangelhafte Aufstellung der Kunstwerke, die gerade das Mittelgute hervortreten ließ, statt es geschickt zu verbergen, und endlich die Nebenbuhlerschaft der Münchener Ausstellung, die von einem Teile der Presse [* 20] ebenso lebhaft gepriesen wie die Berliner herabgesetzt wurde. In Wirklichkeit bot sie unter der Flut von Mittelmäßigkeiten eine stattliche Anzahl hervorragender Schöpfungen, die den Beweis lieferten, daß die Malerei der Gegenwart in Berlin und Düsseldorf (diese beiden Städte kamen in erster Linie in Betracht, da München nur einige Reste seiner 1889er Ausstellung geschickt hatte) noch keineswegs an schöpferischer Kraft [* 21] verloren, dagegen an Vielseitigkeit und koloristischer Virtuosität noch gewonnen hat.
Freilich waren einige Zweige der Malerei gar nicht oder doch ihrer wirklichen Bedeutung entsprechend nicht vertreten. Geschichtsbilder im strengsten Sinne, d. h. solche, die Vorgänge aus der Vergangenheit darstellen, gab es gar nicht, und ebenso hatte die Genremalerei nur wenige Schöpfungen aufzuweisen, in denen Erfindung und künstlerische Darstellung auf gleicher Höhe standen. Dabei ist jedoch in Betracht zu ziehen, daß ein Teil unsrer Geschichtsmaler zur Zeit mit monumentalen und dekorativen Arbeiten beschäftigt ist oder bis vor kurzem gewesen war, die naturgemäß einer Kunstausstellung nicht einverleibt werden können.
Die Künstler scheuen sich, selbst die Kartons und sonstigen Vorarbeiten dazu auszustellen, weil sie leicht zu einer falschen Beurteilung der ausgeführten Malereien verleiten können. Wenn man die Darstellungen aus dem letzten deutsch-französischen Kriege und die historischen Genrebilder zur Geschichtsmalerei rechnen will, beschränkte sich der Reingewinn aus der Berliner Kunstausstellung von 1890 auf Dantes Tod von dem Münchener Otto Friedrich, dem Schöpfer des Canossabildes der Münchener Ausstellung, auf Kaiser Wilhelms Ritt um Sedan [* 22] am Tage nach der Schlacht in lebensgroßen Figuren von Theodor Rocholl in Düsseldorf, der nur zu sehr die liebevolle Durchbildung der Einzelheiten der starken koloristischen Gesamtwirkung geopfert hatte, und auf die durch höchste Lebendigkeit der Darstellung ausgezeichneten Gefechtsmomente und Kriegsepisoden: Erstürmung des Rothenbergs bei Spichern, Erstürmung des Gaisbergschlößchens bei Weißenburg [* 23] und die Franzosen in der Pfalz 1689 von Karl Röchling in Berlin, der auch in einem Stiefelappell eine drastische Humoreske aus dem modernen Soldatenleben im Frieden geschöpft hatte.
Was die Malerei großen Stils entbehren ließ, hatte die monumentale Plastik, der alte Ruhm der Berliner Bildhauerschule, reichlich ersetzt. Man erhielt durch Gipsmodelle, Marmorarbeiten und Bronzegüsse einen nahezu vollständigen Überblick über die aus Berlin hervorgegangenen monumentalen Schöpfungen der Jahre 1889 und 1890, denen eine andre deutsche Kunststadt nichts Ähnliches an die Seite zu setzen vermag. Die künstlerisch hervorragendsten waren zwei bronzene Sockelfiguren (Frömmigkeit und Gesetz) zu dem Denkmal des Großherzogs Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin von L. Brunow (s. d.), das auf dem Garnisonkirchhof in der Hasenheide bei Berlin errichtete Kriegerdenkmal, ein Soldat mit gesenkter Fahne an einem Sarkophag, [* 24] von H. Boese, das Hutten-Sickingen-Denkmal auf der Ebernburg bei Kreuznach [* 25] von den Gebrüdern Robert, Hugo und Ludwig Cauer, die Statue des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg [* 26] für das Reformationsdenkmal in Spandau [* 27] von E. Encke, der auch in einer für die Nationalgalerie ausgeführten Bronzegruppe: Kurfürstin Elisabeth unterrichtet ihren Sohn Joachim in der Religion, seine schöne Begabung für tiefe, seelenvolle Charakteristik und für Darstellung weiblicher Anmut und kindlicher Naivität wiederum glücklich bewährt hatte, die Statue des Chemikers Friedrich Wöhler für sein Denkmal in Göttingen [* 28] von F. Hartzer, ein Standbild des Großen Kurfürsten für das Polizeidienstgebäude in Berlin von E. Lürssen und die Sockelgruppen für das Denkmal des Komponisten Karl Maria v. Weber in Eutin, eine weibliche, das Schaffen des Tondichters charakterisierende Gestalt und zwei singende Kinder von Paul Peterich. In allen diesen Schöpfungen ist die Überlieferung der Rauchschen Schule, das strenge Festhalten am Grundcharakter des monumentalen Stiles noch lebendig; aber ebensosehr macht sich allerseits das Bestreben geltend, durch engen Anschluß an die Natur den herben Ernst des Rauchschen Stiles zu mildern, die ¶