wissenschaftliche
Erörterung der bezeichneten
Ziele anstrebend, hat die internationale kriminalistische Vereinigung doch bereits
auch eine
Reihe von praktischen
Forderungen als Programmpunkte aufgestellt, so z. B. den
Ersatz der kurzzeitigen
Freiheitsstrafen
durch andre Strafmittel, den
Aufbau des Strafensystems auf
Grund der Unterscheidung von
Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrechertum,
die Bemessung der Dauer langzeitigerFreiheitsstrafen nach den Ergebnissen des Strafvollzugs, die Einführung
besonderer Maßnahmen gegenüber unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern, endlich die
Aufnahme theoretischer und praktischer
Strafvollzugskurse in den Ausbildungsgang der praktischen
Juristen.
Besonders lebhaft ist sie für das
Institut der »bedingten
Verurteilung« (s. d.) eingetreten. Die erste Versammlung fand 7. und in
Brüssel,
[* 2] die zweite 12. bis in Bern
[* 3] statt; außerdem wurde 26. und eine Landesversammlung
der deutschen
Gruppe in
Halle
[* 4] abgehalten. Die Mitgliederzahl stieg von 200 auf ungefähr 500, wovon etwa ein Drittel dem
DeutschenReiche, fast ein
ViertelÖsterreich-Ungarn,
[* 5] die übrigen den andern europäischen
Staaten undNordamerika
[* 6] angehören.
Als Vereinsorgan erscheinen deutsch und französisch die »Mitteilungen«
(»Bulletin der
Union international de droit pénal«) in zwanglosen Heften. Die
oben genannten drei
Professoren bilden den geschäftsführenden
Ausschuß. Es hat nicht an
Stimmen gefehlt, welche die reformatorischen Bestrebungen der Vereinigung für teils zwecklos, teils
verfehlt erklärt haben (vgl.
Mewes im
»Archiv für
Strafrecht«, 1889;
Finger, Zur
Frage der Umgestaltung
des heutigen Strafensystems,
Wien
[* 7] 1890). Zweifellos gebührt ihr jedoch das
Verdienst, eine lebhaftere und allgemeinere
Diskussion
über die
Reform des gegenwärtigen, mit unleugbaren Mängeln behafteten Strafensystems herbeigeführt zu haben.
(hierzu »Kriminalstatistische
Karten:
Deutsches Reich,
Frankreich,
Italien«).
[* 8] Mit Kriminalität bezeichnet man
das Verhalten eines
Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe zu dem Strafgesetz. Die Erscheinenden der Kriminalität bilden den Hauptinhalt
der sogen.
Moralstatistik oder der sozialen
Ethik auf der empirischen Grundlage der Massenbeobachtung. Die
Methode, mittels
deren man die
Erscheinungen der Kriminalität erkennt und beurteilt, ist die
Statistik, und die besondere Anwendung dieser
letztern auf die
Erscheinungen der Kriminalität führt zur
Kriminalstatistik, dem wichtigsten Gebiet der
Justizstatistik (s. darüber
den besondern
Artikel, S. 467). Dadurch, daß die Erforschung der Kriminalität eines
Volkes mittels der wissenschaftlichen
Methode der
Statistik erfolgt, und dadurch, daß sie sich als ein besonderes Gebiet der wissenschaftlich bereits in gewisser
Beziehung ausgebauten
Moralstatistik darstellt, erhält sie selbst einen wissenschaftlichenKern. Dieser
Kern besteht in der
Konstatierung der
Ursachen, welche für die kriminelle Bethätigung in einem
Volke oder der
Völker überhaupt maßgebend sind.
Es ist heute schon möglich, diese
Ursachen der sozialen Kriminalität im allgemeinen festzustellen, wobei es allerdings bisher noch
nicht gelungen ist, die durch die
Wissenschaft zu
Tage geförderten allgemeinen
Sätze bei allen Kulturvölkern zur Nachweisung
zu bringen.
Eine solche strenge internationale
Beobachtung scheitert zunächst an der ungleich intensiven
Ausbildung der
Kriminalstatistik
in den verschiedenen
Staaten und zu den verschiedenen
Epochen. Dann aber wird eine solche allgemein vergleichende Forschung
durch die verschiedenartige Auffassung und Normierung der Kriminalität durch die in den Kulturstaaten bestehenden
Strafgesetz bedeutend erschwert. Die
Ziffern der in den einzelnen
Staaten und im
Falle geänderter
Gesetzgebung in denselben
Staaten zu verschiedenen
Zeiten sind unbedingt unvergleichbar, was die
Höhe derselben anbelangt.
Deshalb dürfen auch die nachstehend mitzuteilenden
Tabellen verschiedener Strafrechtssysteme nicht aufeinander
bezogen werden.
Endlich darf auch nicht übersehen werden, daß mit der Angabe der Kriminalität eines
Volkes nur die gesetzliche Kriminalität ersichtlich
ist, welche sich aus der konkreten
Durchführung eines speziellen Strafkodex ergibt. Diese gesetzliche Kriminalität entspricht weder
der wirklichen Kriminalität, welche alle in einemVolke vorfallenden Strafgesetzübertretungen umfaßt, da ja viele
solcher
Handlungen ungesühnt bleiben, noch der zu
Tage tretenden oder »aufscheinenden« Kriminalität, welche alle
jene Gesetzübertretungen
in sich schließt, die in irgend einer
Weise an das Tageslicht treten, da nicht jede Art des Zutagetretens
auch thatsächlich zur Bethätigung des Strafgesetzes führt. Dessen ungeachtet aber ist man im stande,
das nachfolgende Ursachensystem der sozialen Kriminalität durch die Massenbeobachtung als auf wissenschaftlicher
Basis beruhend zu bezeichnen und mit empirischen
Belegen zu versehen.
Die
Ursachen teilen sich in die individuellen, im Einzelmenschen wirkenden, in die physikalischen oder kosmischen, welche
der den
Menschen umgebenden
Natur entspringen, und in die sozialen, welche sich aus dem gesellschaftlichen
Zusammenleben der
Menschen ergeben. Nur ist dabei zu beachten, daß niemals eine dieser Ursachengruppen oder gar eine
Ursache
selbst rein in ihrer
Wirkung auftritt und beobachtet werden kann, sondern daß bei der Komplexität aller genannten Ursachengruppen
und Einzelursachen stets nur das überwiegende Hervortreten der einen oder andern zur Konstatierung gelangt.
Die individuellen
Ursachen umfassen durchweg
Thatsachen von großer
Konstanz
[* 9] und Gleichförmigkeit des Auftretens sowie der
Wirkung.
Ihre stabile Verteilung in der
Gesellschaft ist die wichtigste Grundlage der Regelmäßigkeit, mit welcher die
Erscheinung
der Kriminalität ins
Leben tritt, um so mehr, als diese Ursachengruppe die allgemeinste Verbreitung besitzt. Doch
unterliegen auch diese zum Teil in die anthropologischen
Qualitäten hinreichenden
Faktoren sozialen Einflüssen und dadurch
Abänderungen ihrer
Wirkung, sowohl was ihre
Wirkungen bei den verschiedenen Völkern, resp. Kulturverhältnissen im zeitlichen
Nebeneinander als auch was die
Entwickelung der
Völker im Verlauf der
Zeiten anbelangt.
1)
Geschlecht. Das männliche
Geschlecht ist etwa 5-6mal krimineller als das weibliche
Geschlecht, d. h. seine Verbrechensziffer
im weitern
Sinne ist 5-6mal höher im
Verhältnis zur zugehörigen Einwohnerzahl. Dagegen verharrt aber das
Weib, wenn es einmal
kriminell geworden ist, zäher im
Verbrechen als der Mann. Beide
Erscheinungen ergeben sich aus der physischen
Schwäche, dann aber auch aus der sozial engern Lebenssphäre des
Weibes sowie aus dem strengern
Urteil der
Gesellschaft über
das
Weib.
u. dgl. Doch zeigt sich, daß die Kriminalität des
Weibes sich derjenigen des Mannes dort nähert, wo die Lebensverhältnisse der beiden Geschlechter sich nähern (gewisse Industriebezirke);
daraus ergibt sich auch, daß sich mit der Zeit eine Annäherung der Ziffern für die Kriminalität beider Geschlechter merkbar macht (vgl.
unten S. 523).
2) Alter. Die Kriminalität ist am intensivsten im Alter von 20-30 Jahren, resp. von 20-25 Jahren, bleibt dann etwa bis zum 40. Jahre immer
noch ziemlich hoch, worauf sie merklich abnimmt. Dies gilt vornehmlich vom männlichen Geschlecht, dagegen ist die Kriminalität des
weiblichen Geschlechts infolge der frühern Reife schon in den frühern Jahren höher und tritt auch in
den spätern Jahren mehr hervor. Diese Sätze spiegeln sich deutlich in folgenden Angaben, betreffend das Deutsche Reich.
[* 11] Auf
je 100,000 Einwohner jeder Altersklasse und jedes Geschlechts entfallen hier Verurteilte wegen Verbrechen und Vergehen gegen
Reichsgesetze (1887)
in der Altersklasse
männl. Geschl.
weibl. Geschl.
12-15
661
148
15-18
1267
303
18-21
2884
404
21-25
3196
420
25-30
2788
431
30-40
2104
482
40-50
1589
469
50-60
1064
297
60-70
567
151
70 J. u. älter
226
54
Dabei ist aber auch der Typus der Delikte auf den verschiedenen Altersstufen ein verschiedener. In den jüngern
und mittlern Altersstufen treten neben den allgemein durch das ganze Leben zu verfolgenden Diebstahl (der in den jüngsten
Altersklassen als Hausdiebstahl auftritt) besonders die gewaltsamen Verbrechen und Unzuchtsfälle, beim WeibeKindesmord; in
den spätern Jahren der Manneszeit wird die Durchführung der Delikte ruhiger, kälter und komplizierter, u. Gewinnsuchtsdelikte,
Betrug, Brandstiftungen häufiger. Endlich im spätesten Alter treten die ohne Kraftanstrengung zu begehenden
Gewinnsuchtsdelikte, wie z. B. Fälschungen, Hehlerei, dann Gewaltsamkeiten und Unzucht gegen Kinder oder schwache Personen in
den Vordergrund. Es ist QuételetsVerdienst, zuerst und zwar in einer glänzenden und im Wesen unanfechtbaren Schilderung den
Einfluß des Faktors »Alter« auf das Verbrechen bloßgelegt zu haben.
3) Bildung. Die Bildungan sich, d. h. die einfache Erwerbung von elementaren oder höhern Fertigkeiten und Kenntnissen
ohne das erzieherische Moment, verhält sich der Kriminalität gegenüber wohl neutral; dabei ist aber zu bemerken, daß gewisse Delikte,
z. B. Betrug, Falschmünzerei, Urkundenfälschung u. dgl., überhaupt erst
mit einem höhern Bildungsniveau möglich werden. Doch dürfte im allgemeinen angenommen werden, daß
mit der steigenden Bildung zwar nicht die Delikte überhaupt, wohl aber die rohe, gewaltthätige Ausübung derselben zurücktritt
und leichtere Arten an deren Stelle treten, eine Erscheinung, die in den letzten Dezennien sich deutlich bemerkbar macht. Nur
auf die Sittlichkeitsdelikte scheint die höhere Bildung keine günstige Einwirkung hervorzurufen. Doch
ist diese spezielle Frage der Bildung und ihres Zusammenhanges mit der noch nicht genügend geklärt; auch ist es unmöglich,
Zahlenbelege zu geben, da es noch nirgends gelungen ist, ein Volk nach Maßgabe der in demselben vorfindlichen Bildungsstufen
in Rubriken zu bringen.
Ferner ist die Hinneigung der Berufsgruppen zu besondern Delikten deutlich erkennbar, nämlich: die liberalen Professionen
neigen mehr zu Delikten gegen die Person und zwar insbesondere gegen die Sittlichkeit;
Bei den meist die Proletarierklassen
darstellenden Personen ohne bestimmten Beruf sind Religionsstörungen, Brandlegungen und Raubfälle häufig. Daß unter den
weiblichen Dienstboten der Kindesmord (etwa vier Fünftel aller Fälle) und unter den Frauen der höhern Stände der Abortus eine
große Rolle spielt, ist wohl allgemein bekannt. Im allgemeinen ist die auf dem Lande geringer als in der
Stadt, oder bei der industriellen Bevölkerung
[* 13] größer als bei der agrikolen.
Einige der hier angeführten allgemein gültigen Erscheinungen sind in der Tabelle S. 519 zusammengefaßt; die durch fetten
Druck hervorgehobenen Ziffern der Kolumne 2 bedeuten, daß der Anteil der Verurteilten eines Berufs an deren
Gesamtsumme größer ist als der Anteil eines Berufs in der Bevölkerung; die in den Kolumnen 3-8 markierten Zahlen heben denjenigen
Beruf hervor, bei dem das relative Maximum, d. h. die größte Kriminalität jedes einzelnen Deliktes, konstatiert worden ist.
Daß die Ergebnisse dieser Tabelle von den früher bez. Österreichs angeführten Ziffern zum Teil (insbesondere
bez. der Dienstboten) abweichen, darf nach den verschiedenen beobachteten Methoden kein Bedenken erregen. Innerhalb der Bevölkerung
kann man auch einen eignen Berufsverbrecherstand, das professionelle Gaunertum, unterscheiden, wenn es auch bisher noch nicht
gelungen ist, dessen Größe festzustellen. Ein wichtiger Behelf hierzu werden die Verbrecherstammbücher
oder Kataster sein, die nicht nur allmählich allerorten Eingang finden, sondern auch mit der Zeit der statistischen Aufarbeitung
zugeführt werden dürften.
Auf diesem Gebiet des spezifischen Gaunertums wird die Kriminalpsychologie ein weites Arbeitsfeld vorfinden; denn gerade
hier dürften Vererbung, Abnormitäten etc. häufig sein. Einen geringen Einblick in dieses professionelle Verbrechertum
kann man durch Vermittelung der Rückfälligkeit gewinnen, obgleich diese natürlich nicht mit der erstgenannten Erscheinung
identifiziert werden darf. Man kann die Rückfälligen im weitern Sinne im DeutschenReiche mit ein Viertel der Kriminellen bewerten,
dagegen z. B. bei den Zuchthäuslern in Preußen
[* 14] 1869 bis 1883/84 mit ca. 78 Proz. oder mit mehr als drei
Vierteln.
5) Eine Reihe andrer individueller Ursachen entzieht sich bisher noch einer exakten Messung, so insbesondere der Einfluß der
körperlichen Beschaffenheit, gewisser Abnormitäten, der Vererbung u. dgl. m. (s. Kriminalanthropologie). Hier öffnet sich ein
gewaltiges Arbeitsfeld für die Kriminalpsychologie und das eigentliche Arbeitsgebiet der in Italien blühenden
SchuleLombrosos (s. d.).
¶