Die durch den
Erlaß des preußischen Kultusministers v.
Goßler vom (vgl.
Spiel, Bd. 15) hervorgerufene
Bewegung hat immer festere
Formen und nachhaltigere
Kraft
[* 8] gewonnen. Namentlich im Gebiet des höhern Unterrichtswesens,
und hier wieder besonders in einigen größern
Städten, ist der
Versuch mit
Glück angestellt worden, die J. zu einem einflußreichen,
ebenbürtigen
Faktor in der
Bildung der männlichen
Jugend zu erheben, so in
Berlin,
Braunschweig
[* 9] undGörlitz.
[* 10]
Namentlich in
Görlitz, wo ein regsamer
»Verein für Knabenhandarbeit und J.« unter Leitung des Abgeordneten v.
Schenckendorff
und des Gymnasialdirektors
Eitner die
Pflege der J. in die
Hand
[* 11] genommen, sind diese zu hoher
Blüte
[* 12] gediehen.
Eitner schreibt
darüber in Dammers »Handwörterbuch der
öffentlichen und privaten
Gesundheitspflege« (Stuttg. 1890): »Wenn
mit der fortschreitenden geistigen
Entwickelung nicht leibliches Gedeihen
Hand in
Hand geht, wird die
Schule
bald inne werden, daß sie sich vergeblich um die Erreichung ihrer letzten
Ziele abmüht.
Daher wurde das
Turnen unter die Zahl
der Pflichtstunden jeder öffentlichen Schulanstalt aufgenommen. Allein die davon erwarteten Erfolge traten nicht ein, erstens,
weil die beiden wöchentlichen
Stunden, welche den gymnastischen Übungen eingeräumt wurden, bei weitem nicht genügten,
und zweitens, weil es ein Gegenstand des
Unterrichts war, bei welchem wie bei allen übrigen Lehrstunden straffe
Disziplin
gehalten werden mußte, so daß der Eigenart des einzelnen nicht in genügendem
Maße Rechnung getragen werden konnte.
Das frische, fröhliche und ungebundene Tummeln der
Jugend, bei welchem die individuelle Selbstthätigkeit sich uneingeschränkt
von den hemmenden
Fesseln der Schulzucht geltend zu machen genügenden
Raum fand, konnte nur durch das
Spiel gewährt werden.
So sprach der berühmte
Erlaß des preußischen Unterrichtsministers v.
Goßler vom das befreiende
Wort aus, welches die Anregung zur Wiederbelebung der J. gab.« In diesem
Erlaß sagt der
Minister: »Schwerlich gibt es ein
Mittel,
welches wie das
Spiel so sehr im stande ist, die geistige
Ermüdung zu beheben, Leib und
Seele zu erfrischen und zu neuer
Arbeit
fähig und freudig zu machen. Es bewahrt vor unnatürlicher
Frühreife und blasiertem
Wesen, und wo diese
beklagenswerten
Erscheinungen bereits Platz gegriffen, arbeitet es mit Erfolg an der Besserung eines ungesund gewordenen Jugendlebens.
Das
Spiel wahrt der
Jugend über das Jugendalter hinaus Unbefangenheit und Frohsinn, die ihr so wohl anstehen, lehrt und übt
den
Gemeinsinn, weckt und stärkt die
Freude am thatkräftigen
Leben und die volle Hingabe an gemeinsam
gestellte Aufgaben und
Ziele.« Nach
EitnersBericht haben diese weitgehenden Erwartungen in
Görlitz sich erfreulich erfüllt.
Mehr als 77 Proz. der
Schüler des
Gymnasiums, und zwar aller Klassenstufen, beteiligen sich freiwillig an den zweimal in der
Woche stattfindenden Jugendspielen, und der Einfluß dieser Übungen auf die
Gesundheit und ganze
Haltung
der
Jugend ist unverkennbar. Unter den Bewegungsspielen, um die es der Hauptsache nach sich nur handeln kann, nehmen auf
dem
Görlitzer Spielplatz die
Ballspiele den ersten
Rang ein, weil sie geistige und körperliche
Kraft am allseitigsten in Anspruch
nehmen.
Stehball, Radball, Königsball,
Sauball, Turmball, Schlagball, Freiball,
Schleuder- und Grenzball werden mit Vorliebe gepflegt
und geübt. Auch der englische Thorball
(Cricket) und der
Fußball sind zugelassen, dürfen aber nicht in unjugendlichen Wettbetrieb
ausarten. Ganz besonders wird das zierliche, feine, gewandte
Bewegungen und sicheres
Augenmaß erfordernde englische Parkwiesen-
oder Netzballspiel (s.
Tennis), das Tamburinspiel und nach andern stürmischen und aufregenden
Spielen
das ruhige
Boccia- und Crocketspiel empfohlen. Daneben kommen die alten deutschen
Spiele
(Fang schon;
Schwarzer Mann;
Katze
[* 13] und
Maus;
Jakob, wo bist du; Gutenmorgen,
HerrFischer; Urbär;
Fuchs
[* 14] zum
Loche; Foppen und
Fangen; Schlaglaufen; Jägerspiel;
Räuber
und
Gendarmen etc.) zu ihrem
Rechte. Für erwachsene junge Leute bewähren sich zumeist:
Barlauf, Diskus-
und Gerwurf, Bogenschießen.
¶
mehr
Selbstverständlich darf die Freiheit der Jugend keine schrankenlose sein, wenn die J. nicht ausarten und selbst wieder gesundheitsschädlich
werden sollen. »Daß die Jugend selbst eine mit Takt und Wohlwollen geübte Überwachung nicht als Zwang empfindet, beweist
am besten der Umstand, daß sie denLehrer, welcher auch die Freuden des Spieles mit ihr teilt, vor allen
liebt und verehrt.« Der Verein hat die Freude gehabt, daß, durch den Vorgang der spielenden Schüler angeregt, bereits auch
die Jugend andrer Lebenskreise (Handels- und Gewerbestand) sich den Jugendspielen zuzuwenden beginnt.
Die 40. Versammlung der Philologen und Schulmänner Deutschlands,
[* 16] die in der ersten Woche des Oktobers 1889 in
Görlitz tagte, nahm von dem ihr durch den Turnlehrer Jordan vorgeführten und durch einleitenden Vortrag des Abgeordneten v.
Schenckendorff erläuterten Leben des Spielplatzes mit Anteil Kenntnis. Der Minister v. Goßler sieht darin seinen Wunsch in dem
Maße verwirklicht, daß in Görlitz während des Sommers 1890 auf sein Anregen wiederholte Übungskurse
für junge Lehrer von höhern Lehranstalten, Seminaren, Stadtschulen etc. veranstaltet wurden.
Der weitern Verbreitung der J. in dieser Form wird leider die Umständlichkeit und Kostspieligkeit des Apparats (namentlich
auch des Platzes) an vielen kleinern Orten ein schwer zu besiegendes Hindernis entgegenstellen. Auch erregt es in sonst freundlich
gestimmten Kreisen Bedenken, daß die J., wenn sie einmal mit dem Schulleben in Verbindung bleiben sollen, vom Turnunterricht
grundsätzlich geschieden werden. Recht geeignete Lehrkräfte werden in kleinern und mittlern Städten oft kaum zu beschaffen
sein.
Immerhin aber kommt schon jetzt der anregende Einfluß solcher Versuche dem gesamten, namentlich großstädtischen Schul-
und Erziehungswesen mittelbar sichtlich zu gute. Eine verwandte Richtung im höhern SchulwesenDeutschlands schließt sich noch
enger an das Vorbild der englischen großen Schulanstalten an und möchte die höhern Schulen, wenn nicht durchweg zu Alumnaten,
so doch zu Tagesschulen (day-schools) in der Art umwandeln, daß der Aufenthalt im elterlichen Hause und
der Verkehr mit den Angehörigen vornehmlich auf die ganz arbeitsfreien Abendstunden, auf den Sonntag und die Ferien beschränkt
bliebe. Die tägliche Schulzeit, welche sich über den ganzen Tag ausdehnt, kann und soll dann abwechselnd in den Klassenzimmern,
im Freien, in Turnhallen, auf Spielplätzen, in Werkstätten, bei der Schwimmschule, auf Ausflügen
verbracht werden. So nach dem Idealbild, welches P. Güßfeldt in seiner »Erziehung der deutschen Jugend« (Berl. 1890) entwirft:
»Der Tag soll (nach ihm) für sämtliche Schüler damit beginnen, daß sie ½ Stunde lang, womöglich im Freien, richtig angeordnete
Freiübungen machen. Die richtige Anordnung ist die, bei welcher jede folgende Übung eine Erholung von der
vorangegangenen bietet. Den Freiübungen verwandt sind die Spiele, von denen eine Anzahl aus England eingeführt werden muß.
Dieselben bilden die Muskeln
[* 17] zwar nicht gleichmäßig aus, dafür aber einige sehr vollkommen; und sie haben vor den Freiübungen
den Vorteil, daß sie das Auge
[* 18] und die Geschicklichkeit üben, d. h. den schnellen und wirksamen
Gehorsam des Körpers gegen den Willen. Da die Spiele im Freien vorgenommen werden, so atmet die starker thätige Lunge
[* 19] viel frische
Luft. Ein andres ihnen innewohnendes Moment ist der Wettstreit, den sie anregen; nichts spornt die Kräfte so an, wie der Wettstreit
zwischen den gleichgestellten Schülern. Hier entscheidet der Erfolg, welcher
Ansehen gibt, nicht der
Beifall, gespendet von dem Lehrer.« Wesentlich zu den gleichen Ergebnissen in dieser Hinsicht gelangt H. Raydt in seinem inhaltreichen
Buche: »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische
[* 20] Schulbilder in deutschem Rahmen nach einer Studienreise aus der
Bismarck-Schönhausen-Stiftung« (Hannov. 1889). Raydt meint, daß
die J. in Deutschland
[* 21] nicht zu allgemeiner Verbreitung und guter Entwickelung auf den höhern Schulen gelangen werden, wenn
die Regierungen sich nicht entschließen, sie ebenso obligatorisch (!) zu machen wie das Turnen. Er empfiehlt, irgendwo an geeigneter
Stelle im DeutschenReiche eine englisch-deutscheMusterschule zu gründen und in dieser etwa halb und halb
englische und deutsche Knaben miteinander zu erziehen. Da könnten die deutschen Knaben von den englischen das Spielen lernen,
und die deutschen Pädagogen könnten sich an solcher Musteranstalt von der Möglichkeit überzeugen, gesunde körperliche
Ausbildung mit kräftiger Geistesentwickelung zu vereinen.
»Gelänge es«, schreibt er, »einer
solchen Schule deutsche Idealität, Gemütsleben und wissenschaftliche Gründlichkeit mit englischer Charakterbildung, körperlicher
Kraft, Energie und Entschlossenheit zu vereinigen, so könnte damit eine Musteranstalt für die ganze Welt geschaffen werden.«
Annähernd verwirklicht findet Raydt sein Ideal in der Stadt Braunschweig, wo die J. an einigen Anstalten obligatorisch eingeführt
sind und hauptsächlich durch die eifrigen Bemühungen des ProfessorsKoch in hoher Blüte stehen.
Die Schüler der beiden dortigen Gymnasien haben vier freie Nachmittage. An einem der freien Nachmittage sind die Schüler
gezwungen, zwei Stunden lang auf dem Spielplatz an den Bewegungsspielen teilzunehmen. Außer an den obligatorischen Spielnachmittagen
spielen die Knaben auch an den andern freien Nachmittagen, und der Erfolg dieses seit 1876 durchgeführten
Herkommens ist ein günstiger. Dennoch hält aber Raydt auch insofern an dem englisch-schottischen Muster fest, wie er die
allgemeinere Ausbreitung der Alumnate an den öffentlichen Lehranstalten dringend herbeisehnt. An Fläche verlangt er nach
seinen britischen Erfahrungen für den Spielplatz auf je 50 Schüler mindestens 1 Hektar. Womöglich soll
der Spielplatz, der übrigens auch andern Anstalten oder Vereinen einzuräumen wäre, im Winter unter Wasser gesetzt und zum
Eislauf benutzt werden.
Die äußern Schwierigkeiten, denen allgemeinere Durchführung solcher Ideen in Deutschland begegnet, brauchen nicht weitläufig
dargelegt zu werden. Sie würde, von allem andern abgesehen, eine wesentliche Verteurung des Studienganges
für den Staat wie für die beteiligten Kreise
[* 22] der Gesellschaft bedingen. Aber auch tiefer begründete Einwände sind nicht
ausgeblieben. Auf dem empfohlenen Wege muß eine weitere Einengung des häuslichen Einflusses zu gunsten der Anstaltserziehung
und ebenso gewiß eine Herabdrückung der Lehrziele im eigentlichen Schulunterricht herauskommen.
Weder das eine noch das andere wird in Deutschland ohne schwere Bedenken aufgenommen werden. Es ist leicht gesagt, aber ein
folgenschweres Wort: »Viele von den bisher gelehrten Kenntnissen fallen aus. Die Schüler werden damit auf das spätere Leben
verwiesen und sollen sich zwischen 18 und 28 Jahren diejenigen Kenntnisse erwerben, welche sie für ihren
Beruf oder ihre freiwillig geübte wissenschaftliche Thätigkeit gebrauchen.« Nicht jeder wird durch GüßfeldtsBerufung auf
ein gelegentlich hingeworfenes Paradoxon
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