Der
SturzCrispis wurde in der französischen und russischen
Presse
[* 3] mit großem Jubel begrüßt, weil man einen Umschwung der
auswärtigenPolitikItaliens
[* 4] erhoffte. Allein das
Programm, welches der
Präsident der neuen
Regierung14. Febr. den
Kammern vortrug, erfüllte diese
Hoffnungen nicht. Auf dem Gebiete der auswärtigen
Politik stellte dasselbe den
Wunsch nach
Erhaltung des
Friedens in den
Vordergrund; die
Regierung versprach den Bündnissen feste und reine
Treue, erklärte aber zugleich,
daß sie bemüht sein werde, das Mißtrauen wegen
Italiens Beziehungen zu
Frankreich als unbegründet zu
erweisen. Im Innern versprach sie Herstellung des
Gleichgewichts in den
Finanzen ohne neue Belastung der
Bürger durch Ersparungen
in allen
Budgets, einschließlich derjenigen des
Krieges, der
Marine und der
Kolonien. Besonders dringlich erscheine eine
Reform des Banknotenwesens; andere politische
Vorlagen werde die
Regierung nicht machen, da das Land sich vor
allem nach wirtschaftlicher Erholung sehne. Die Zollvorlagen der frühern
Regierung und das Präfekturgesetz wurden zurückgezogen.
Litteratur.Auf dem Gebiet der erzählenden schönen Litteratur der
Italiener traten in den letzten 5
Jahren
neben den altbewährtenMeistern, die uns mit frischen
Gaben ihrer Fabulierkunst erfreuten, auch manche
jüngere
Talente auf, von denen aber einige dem modernen
Naturalismus zu eifrig huldigten. Enrico
Castelnuovo schilderte in
seinem »Filippo Bussini
jun.« den
Ruin eines alten soliden Geschäftshauses und einer vornehmen
Familie in meisterhafter
Weise.
Wie hier zwei
Stände, so sind es in seinem nicht minder interessanten
Roman
»Due convinzioni« zwei Weltanschauungen,
welche einander gegenüberstehen, aus deren
Kontrast sich die
Handlung mit unerbittlicher
Konsequenz entwickelt. Den
Hintergrund
des einen
Romans bildet der moderne Geschäftsschwindel, den des andern die historischen Vorgänge des
Jahres 1859.
SalvatoreFarina erhebt sich in seiner
»Ultima battaglia di prete
Agostino« aus den von ihm mit Vorliebe geschilderten
beschränkten Familienkreisen zur
Darstellung eines rührenden Seelenkampfes von
Zweifel und
Glauben.
»Pei belli occhi della gloria« hat hohen Wert als feines Seelengemälde,
erregt aber kein lebhafteres
Interesse. Auch für die
Helden von »I due desiderii« und »Tramonto«
können wir uns nicht recht erwärmen, und ganz schwach erscheint
»Don Chisciottino«, dessen
Held ein platonischer
Don Juan ist. Dem »Bussini
jun.«
Castelnuovos
ähnlich, aber ihn doch nicht erreichend ist
Barrilis »Arrigo il savio«. Ein Abenteuerroman
ordinärer
Sorte ist dessen »Merlo bianco«, und kaum besser ist »Il
lettore della principessa«.
Auch sein »Dantino« macht trotz einzelner gelungener
Schilderungen keinen ganz befriedigenden
Eindruck. Sehr hübsch und zu einer Dramatisierung einladend ist dagegen »Signora
Autari«. Neuestens erschien von
Barrili noch ein
Roman: »Scudi e corone«.
Recht hübsch sind
Bersezios eigentümliche »Viperina«
und Grazia Pierantoni
Mancinis
»Melilla«. In letzterer wird der mißlungene
Versuch, ein verwahrlostesKind
zu erziehen, mit vielem
Humor geschildert, während in der »Donnina« derselben Dichterin das
Schicksal der armen, allzu jung verheirateten Memma uns bis zu
Thränen rührt.
Ein sehr unwahrscheinliches
Wesen ist dagegen die halbverbrannte Rubina in ihrem
Roman »Costanza«, in dem auch die Schilderungen
aus dem römischen
Ghetto von geringer Kenntnis seiner Einwohner zeugen. Viele psychologische Feinheiten,
effektvolle dramatische
Szenen und schöne Naturschilderungen, aber zu viel
Politik finden wir in A.
Fogazzaros
»Daniele Cortis«.
Minder gelungen sind seine
Novellen (»Fedele, ed altri racconti«).
Recht gut und anheimelnd ist deutsche Szenerie und deutsches
Leben in seinem »Il mistero del poeta« geschildert; doch
sind die Gestalten der Hauptpersonen sehr unwahrscheinlich und haben
Komposition und
Handlung des
Romans etwas Verschwommenes.
Den
Gegensatz zu
FogazzarosIdealismus bildet G.
Verga mit seinem derb realistischen, aber höchst interessanten und lebensvollen
»Don Gesualdo«.
Noch weiter im
Naturalismus geht Luigi
Capuana mit seinen
Novellen (»Fumando«) und seinem neuestenRoman:
»Profumo«, dessen Hauptinhalt die Krankengeschichte einer hysterischen
Frau bildet.
Gabriele D'Annunzios stark naturalistischer
Roman »Piacere« wird bei manchem
Leser ein seinem
Titel entgegengesetztes
Gefühl hervorrufen.
Wenn derAutor auch mit seinem Werke einen moralischen
Zweck verfolgen mag, so thut er es jedenfalls mit
Mitteln, die der
Zweck
nicht heiligen kann. Wie
Verga seine Sizilianer, so schildert Domenico
Ciampoli in seinen Dorfgeschichten
»Fra le selve« in lebensvoller
Weise seine Abruzzesen, während
EduardCalandra in seinem Novellencyklus »I Lancia di Faliceto«
piemontesische Gegenden und
Figuren treu abzeichnet. Turmhoch überragt G.
Rovetta (s. d.) die jüngern
Realisten mit seinem
Meisterwerk »Le
[* 5] lacrime del prossimo«, und nur in weitem
Abstand schließt sich ihm F. de Roberto an, der in seinem Novellenbuch »La
sorte« (1887) noch zwischen
Idealismus und
Realismus schwankte, in »Documenti umani« und im
Roman »Ermanno Raeli« (1889) sich
als talentvoller
SchülerBourgets zeigt.
von denen als die vorzüglichsten hier nur:
»Per monaca«, »La conquista di
Roma«
[* 6] und der Journalistenroman
»Vita e avventure di Riccardo Joanna« genannt werden sollen. Unübertrefflich schildert sie in einigen
NovellenLeben und Szenerie
Neapels. Sie wird von keiner der andern
Romane schreibenden Italienerinnen erreicht,
obwohl auch diese manches lieferten, was sich über die gewöhnliche Leihbibliothekenlitteratur erhebt. In ergreifender
Weise
schildert Neera
(Frau Zuccari-Radius) in »Lydia« das
Leben und traurige Ende einer Emanzipierten, minder gut in »L'indomani«
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mehr
eine junge Ehe ohne Liebe. Cordelia (FräuleinTreves) hat weder mit »Forza irresistibile« noch mit dem Kriminalroman »Il mio
delitto« zur Vermehrung des mit ihren frühern Arbeiten erworbenen Ruhmes beigetragen. Dagegen hat die junge Realistin Emma Perodi,
welche in »Spostati« (1887) mit Schilderung
abstoßender, mitunter schmutziger Szenen aus dem Eheleben begann, in dem Roman »Suor Ludovica« (1890)
gezeigt, daß sie auch edle, reine Gestalten lebensvoll darzustellen weiß. Wie die Perodi eine barmherzige Schwester in der
Ausübung ihres schweren Berufes, so schildert G. Visconti-Venosta in seinem »Curato d'Orobio« mit frischem, gesundem
Humor einen braven patriotischen Priester aus der guten alten Zeit, während DonBernardino Negroni in seinem
»Novello Giobbe« einen Sittenroman mit katholischer Tendenz lieferte.
Im historischen Roman versuchte sich Licurgo Cappelletti (»Il Marchese di Felino«, 1885) mit geringem Erfolg. Den glänzendsten
und wohlverdientesten Erfolg auf dem Gebiet der erzählenden Litteratur errang der allgemein beliebte Edmondo De Amicis mit
seinem »Cuore«, einem Buche für Kinder, das auch Erwachsene mit großem Genuß lesen, und das sich in Bezug
auf Erfolg (in 5 Jahren 100 Auflagen und 15 Übersetzungen) und pädagogische Bedeutung mit der berühmtesten Jugendschrift,
dem »Robinson«, messen kann.
Gewissermaßen eine Fortsetzung von »Cuore«, aber ihm weit nachstehend
ist desselben Autors »Il romanzo di un maestro«, und vielleicht
noch eine Stufe tiefer steht »Sull' Oceano«, wo der Verfasser seine Feder mitunter zu tief in Schmutz taucht. Rührende Schilderungen
enthalten seine »Alle porte d'Italia« betitelten Skizzen, von denen 1888 eine zweite vermehrte Auflage erschien. Eine Nachahmung
von Amicis »Cuore«, aber dasselbe bei weitem nicht
erreichend, ist P. Mantegazzas das Lehrhafte zu sehr hervorkehrende »Testa«. Von den vielen andern Werken dieses unermüdlichen,
nicht immer gründlichen, aber stets seine Leser fesselnden Vielschreibers seien hier nur »Le estasi umane«, das
man ein Gedicht in Prosa genannt hat, »Il secolo tartufo«, die »Fisiologia
dell' amore« und »Fisiologia dell' odio« genannt.
Wie man viele SchriftenMantegazzas naturwissenschaftliche Belletristik genannt hat, so könnte man E. Panzacchis (s. d.) Erzählungen
(»I miei racconti«, 1889) musikalische Novellistik nennen, weshalb sie
besonders bei Musikfreunden großen Beifall finden. Seine »Neuen Gedichte« (»Nuove liriche«, 1888), die uns Gelegenheit
geben, hier zur Lyrik überzugehen, enthalten manche sehr schöne Naturschilderungen und erinnern hin
und wieder an Heine. Wie Panzacchi, dichtete auch der gedankenvolle Alessandro Arnoboldi im Laufe von 16 Jahren seine 1888 erschienenen
»Nuovi versi« nur für eine kleine, auserwählte Gemeinde.
Von den andern Lyrikern des modernen Italien
[* 8] trat nur Carducci mit bedeutenden neuen Dichtungen (»Nuove rime«,
1887; »Terze odi barbare«, 1889) hervor. Eine Ausgabe seiner sämtlichen Werke begann 1889 in Bologna zu erscheinen. Von AndreaMaffei erschienen in seinem Todesjahr (1885) als Schwanengesang die »Affetti«. A. Fogazzaro zeigte sich in »Valdelsa, e poesia
dispersa« (1886) als ein edler Dichter und Denker. Der auch durch gelungene Übersetzung Goethescher Lieder
bekannte Domenico Gnoli läßt manche deutsche und englische Einflüsse in seinen heiter-ernsten Gedichten »Nuove
odi tiberine« wahrnehmen.
Grazia Mancini
drückte in »Voci dell' anima« (1888)
Tiefgefühltes in schöner Form aus, und der greise MarcoAntonioCanini gab vier Bände Übersetzungen von Liebesliedern aus
mehr als 100 Sprachen in seinem »Libro d'amore« (1886-89). SchönenInhalt in eigentümlicher Form bietenL.Capuanas »Semiritmi« (1888). Ein kleines
Bändchen Gedichte des 1881 gestorbenen Tragikers Pietro Cossa erschien 1886. Von den jüngern sich über das Durchschnittsmaß
erhebenden lyrischen Dichtern ist als der bedeutendste Gabriele D'Annunzio mit seinen formvollendeten, an gelungenen Naturschilderungen
reichen Dichtungen: »L'Isotteo« und »La Chimera«
(1889) in erster Reihe zu nennen;
von der 1890 schon die dritte
Auflage erschien, Marco Lessona mit seinen »Poesie«, die Dichterinnen Giorgina Naldi (»Profili«, 1888;
»Accordi della mia lira«, 1889),
Sehr geringen Ertrag lieferte das Feld der dramatischen Dichtung. Von Giuseppe Giacosa wurde 1887 das Schauspiel »Tristi amori«
aufgeführt, das für sein reifstes Werk gilt. Außerdem erschienen noch von ihm: »La
Sirena«, »Zampa del gatto« u. a. Cavallotti lieferte außer einigen Einaktern das Drama »Lea«, Em. Praga eine mit Beifall aufgeführte
Komödie »Vergini«. Auch dramatisierte dieser den Roman »Mater dolorosa« Rovettas, welcher wieder mit seinem Schauspiel »Trilogia
di Dorina« verdienten Beifall fand.L.Capuana dramatisierte seinen Roman »Giacinta«.
Paolo Fambris Drama »Pietro Aretino« machte trotz einzelner sehr schöner Szenen keinen befriedigenden Eindruck; Cognetti brachte
in seinem Drama »Abasso porto« nicht ohne Geschick die neapolitanische Camorra auf die Bühne; PaulFerrari hatte noch kurz vor
seinem Tode mit seinem »Fulvio Testi« einen großen Erfolg. Anerkennenswertes
leisteten der Schauspieler Libero Pilotto mit seinem Drama »Padri e figli« und Suner mit »Un barbaro dell'
eleganza«. Ein sonderbares Stück ist des letztern Drama »Judas«.
Anmutige Saloneinakter sind Castelnuovos »ConteVerde« und »Pesce d'aprile« und Camillo Antona-Traversis »Punto e da capo« und
»Matrimonio di Alberto«. Letzterer schrieb auch ein Drama: »Il sacrificio di Giorgio«. Im übrigen nährte
sich die italienische Bühne von Übersetzungen aus dem Französischen und Deutschen, von Renans »Abbéesse de Jouarre« bis zu
Mosers »Krieg im Frieden«. Ein bedeutendes, einige großartige Auftritte, aber auch viel Schwächliches enthaltendes und zur
Aufführung kaum geeignetes Werk ist P. Zambonis dramatisches Gedicht »Sotto i
Flavii« in neun Abteilungen. Interessant und für die Geschichte des modernen Theaters wichtig sind die
Memoiren E. Rossis (»Quarant' anni di vita artistica«) und Adelaide
[* 9] Ristoris.
Auf dem Gebiet der Litteraturgeschichte ist das langsame Fortschreiten vonAd. Bartolis »Storia della letteratura italiana«
zu verzeichnen, deren siebenter, 1890 erschienener Band
[* 10] sich noch mit Dante beschäftigt. Sehr geringen
Wert haben Francesco Guardiones »Storia della letteratura italiana dal 1750 al 1850«
und »La letteratura contemporanea in Italia« (1888 und 1890). Dagegen ist
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