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Ich verkenne nicht, welche Schwierigkeiten der Durchführung dieser Aufgabe sich entgegenstellen werden, und daß es einer längern Erfahrung bedarf, um überall das Richtige zu treffen. Aber diese Bedenken dürfen nicht abhalten, mit Ernst und Ausdauer der Durchführung eines Zieles näher zu treten, dessen Verwirklichung nach Meiner Überzeugung für das Wohl des Vaterlandes von hervorragender Bedeutung ist. Das Staatsministerium wolle hiernach die nötigen Erörterungen in die Wege leiten und nach Abschluß derselben an Mich berichten.
Schloß zu Berlin, den
Wilhelm I. R. (ggez.) Fürst v. Bismarck.
Das preußische Staatsministerium hatte sich bereits in seiner Sitzung vom über diese königlichen Wünsche schlüssig gemacht und begleitete nun (es ist nicht bekannt, warum erst jetzt) die Veröffentlichung der Kabinettsorder mit den damals vereinbarten, vom gesamten Ministerium unterzeichneten und vom Kaiser genehmigten Vorschlägen. Wegen des ersten Teiles derselben, der sich mit dem niedern Schulwesen beschäftigt, s. Volksschule; der zweite, das höhere Schulwesen betreffende Abschnitt lautet, wie folgt:
1) In Ansehung des Religionsunterrichts sind für sämtliche Arten der höhern Schulen Verordnungen im Sinne der Allerhöchsten Order vom zu erlassen. Den höhern Schulen, insbesondere den Gymnasien, wird einzuschärfen sein, daß der Religionsunterricht so zu erteilen ist, daß der Nachdruck auf die lebendige Annahme und innerliche Aneignung der Heilsthatsachen und Christenpflichten gelegt und die apologetische und ethische Seite besonders berücksichtigt wird. Unter merklicher Verringerung des Lehrstoffs, namentlich durch Ausscheidung des zur Aneignung religiöser Streitfragen führenden kirchen- und dogmengeschichtlichen Stoffes ist der Unterricht, soweit er sich auf Geschichte stützt, auf die für das kirchlich-religiöse Leben bleibend bedeutsamen Vorgänge zu beschränken. Wegen des katholischen Religionsunterrichts wird das Geeignete seitens der Unterrichtsververwaltung veranlaßt werden.
2) In Ansehung des Geschichtsunterrichts sind für sämtliche Arten der höhern Schulen Verordnungen im Sinne der Allerhöchsten Order vom zu erlassen.
a) Der Unterricht in der vaterländischen Geschichte ist bis zum Regierungsantritt Seiner Majestät durchzuführen und von der Zeit des (Großen Kurfürsten ab gegen seinen bisherigen Umfang zu erweitern.
b) Die wichtigern Thatsachen sind schon in den mittlern Klassen der höhern Lehranstalten vorzuführen.
c) In dem Geschichtsunterricht ist die Entwickelung unsrer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere vom Beginn dieses Jahrhunderts bis zur gegenwärtigen socialpolitischen Gesetzgebung (Alters- und Invalidenversorgung 1889), darzustellen.
d) Diese Unterweisung ist in der ersten Klasse der Vollanstalten ausführlicher zu gestalten. Die Belehrung über die Verderblichkeit der Socialdemokratie hat hierbei, ohne in eine Erörterung der sozialistischen Theorien einzutreten, an der Hand [* 2] des gesunden Menschenverstandes zu erfolgen. Die Unmöglichkeit der sozialdemokratischen Bestrebungen ist an den positiven Zielen der Sozialdemokratie nachzuweisen und für jugendliche Gemüter faßlich zu gestalten.
e) Infolge der zu a) bis d) vorgesehenen Ausdehnung [* 3] des Geschichtsunterrichts wird der anderweitige Lehrstoff der Geschichte entsprechend vermindert.
f) Die geschichtlichen Lehr- und Hilfsbücher sind durch den entsprechenden Lehrstoff seitens geeigneter Schulmänner und Gelehrten zu ergänzen.
3) Auf die Durchführung des Grundsatzes, daß die Geschichte und Litteratur nicht formell und gedächtnismäßig, sondern inhaltlich und ethisch erläutert werde, ist mit Nachdruck hinzuwirken.
4) Die Prüfungsordnung für die Kandidaten des höhern Schulamts ist im Sinne vorstehender Anordnungen zu revidieren.
5) Bei der praktischen Vorbildung der Lehrer (pädagogische Seminare, Probejahre etc.) ist auf vorstehende Anordnungen besondere Rücksicht zu nehmen.
Mit der Ausführung dieser Beschlüsse beauftragte gleichzeitig der Kaiser den Kultusminister, und dieser berief zu dem Zwecke für den Anfang Dezember 1890 den längst in Aussicht gestellten Vertrauensrat zur eingehenden Verhandlung der obschwebenden Beschwerden und Reformvorschläge. Bei der Auswahl hatte sichtlich der Gesichtspunkt geleitet, Vertreter der verschiedenen Schularten und litterarische Verfechter verschiedener Standpunkte gleichmäßig zu Worte kommen zu lassen. Die Konferenz bestand aus folgenden Mitgliedern:
1) Dr. Albrecht, Oberschulrat, Geh. Regierungsrat in Straßburg [* 4] i. E.; 2) Dr. Bertram, Stadtschulrat in Berlin; [* 5]
3) D. v. Bodelschwingh, Pastor in Bielefeld; [* 6]
4) Dr. Deiters, Provinzialschulrat in Koblenz; [* 7]
5) Graf Douglas, Bergwerksbesitzer und Mitglied des Hauses der Abgeordneten in Berlin;
6) Dr. Eitner, Gymnasialdirektor in Görlitz; [* 8]
7) Ende, Geh. Regierungsrat, Professor in Wannsee bei Berlin;
8) Dr. Fiedler, Oberrealschuldirektor in Breslau; [* 9]
9) D. Dr. Frick, Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle [* 10] a. S.; 10) D. Frommel, Hofprediger und Militäroberpfarrer in Berlin;
11) Frowein, Fabrikbesitzer in Elberfeld; [* 11]
13) Dr. Graf, Geh. Sanitätsrat, Vorsitzender des Deutschen Ärztevereins in Elberfeld;
14) Dr. Güßfeldt, Privatgelehrter, Rittmeister der Reserve des Leib-Gardehusarenregiments in Berlin;
15) Dr. Hartwig, Gymnasialdirektor, Professor in Frankfurt [* 12] a. M.;
16) Dr. v. Helmholtz, Professor, Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg; [* 13]
17) Dr. Frhr. v. Heereman, Regierungsrat a. D. in Münster; [* 14]
18) Dr. Hinzpeter, Geh. Oberregierungsrat in Bielefeld;
19) Dr. Holzmüller, Gewerbeschuldirektor in Hagen; [* 15]
20) Hornemann, Oberlehrer am Lyceum in Hannover; [* 16]
21) Dr. Jäger, Gymnasialdirektor in Köln; [* 17]
22) Kaselowsky, Direktor der Berliner [* 18] Maschinenbauaktiengesellschaft, Kommerzienrat in Berlin;
23) Dr. Klix, Geh. Regierungs- und Provinzialschulrat in Berlin;
24) Dr. Koch, Geh. Medizinalrat, Professor in Berlin;
25) D. Kopp, Fürstbischof in Breslau;
26) Dr. Kropatscheck, Oberlehrer a. D., Mitglied des Reichstags und des Hauses der Abgeordneten in Berlin;
27) Dr. Kruse, Geh. Regierungs- und Provinzialschulrat in Danzig; [* 19]
28) Dr. Matthias, Realgymnasialdirektor in Düsseldorf; [* 20]
29) D. Mosler, Domherr und Professor in Trier; [* 21]
30) Dr. Paulsen, Professor in Steglitz bei Berlin;
31) Dr. Paehler, Gymnasialdirektor in Wiesbaden; [* 22]
32) Dr. Schauenburg, Realgymnasialdirektor in Krefeld; [* 23]
33) v. Schenckendorff, Telegraphendirektionsrat a. D., Mitglied des Hauses der Abgeordneten in Görlitz;
34) Dr. Schiller, Gymnasialdirektor, Professor und Geh. Oberschulrat in Gießen; [* 24]
35) Dr. Schlee, Realgymnasialdirektor in Altona; [* 25]
36) Dr. Schottmüller, Geh. Regierungsrat, Professor in Zehlendorf bei Berlin;
37) D. Dr. Schrader, Universitätskurator, Geh. Oberregierungsrat in Halle a. S.; 38) Dr. Schulze, Gymnasialdirektor in Berlin;
39) Dr. Tobler, ordentlicher Professor, Rektor der Universität in Berlin;
40) D. Uhlhorn, Abt zu Lokkum, ¶
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Oberkonsistorialrat in Hannover;
41) Dr. Uhlig, Gymnasialdirektor, Professor in Heidelberg; [* 27]
42) Dr. Volkmann, Rektor der Landesschule in Pforta;
43) Dr. Virchow, Professor, Geh. Medizinalrat in Berlin;
44) Dr. Zeller, Professor, Geh. Regierungsrat in Berlin. Unter den Berufenen war der Geheimrat Koch, weil zu sehr mit seiner inzwischen ans Licht [* 28] getretenen weltberühmten Erfindung beschäftigt, nicht erschienen. Unter den Erschienenen galten, der allgemeinen Annahme nach, der Geheimrat Hinzpeter als früherer Lehrer und Erzieher und der Dr. Güßfeldt als bevorzugter Reisebegleiter für die nächsten eingeweihten Vertreter des Kaisers; wie der Erfolg gelehrt hat, doch nur teilweise mit Recht. Dieser Versammlung waren nun folgende Fragen seitens des Ministers v. Goßler vorgelegt:
1) Sind die heute bestehenden Arten der höhern Schulen in ihrer gegenwärtigen Sonderung beizubehalten, oder empfiehlt sich eine Verschmelzung von a) Gymnasien oder Realgymnasien, b) Realgymnasien und Oberrealschulen?
2) Läßt sich für die bestehenden drei Schularten (gymnasiale, realgymnasiale, lateinlose) oder für zwei derselben ein gemeinsamer Unterbau herstellen? Empfiehlt es sich für den letztern Fall: a) die zur Zeit schon für die untern Klassen der Gymnasien und Realgymnasien bestehende Gemeinsamkeit bis zur Untersekunda inkl. auszudehnen, während von Obersekunda aufwärts der Lehrplan der Oberrealschulen eintritt? (Verbindung des Realgymnasiums mit dem Gymnasium); b) oder das Latein an den Realgymnasien bis zur Untertertia hinaufzuschieben und die drei lateinlosen untern Klassen zu einer höhern Bürgerschule aufwärts zu ergänzen? (Verbindung des Realgymnasiums mit der höhern Bürgerschule.)
3) Empfiehlt es sich, im Lehrplan der Gymnasien die den alten Sprachen gewidmete Stundenzahl einzuschränken und es so zu ermöglichen, daß die Unterrichtsstunden in den untern Klassen herabgesetzt, das Englische [* 29] fakultativ eingeführt und das Zeichnen über Quarta hinaus obligatorisch gemacht wird? Ist mit jener Einschränkung zugleich der lateinische Aufsatz als Zielleistung und die griechische schriftliche Versetzungsarbeit für Prima in Wegfall zu bringen?
4) Empfiehlt es sich, im Lehrplan der Realgymnasien die 1882 angeordnete Verstärkung [* 30] des Latein beizubehalten, oder ist eine Verminderung desselben und eine Herabsetzung der Gesamtstundenzahl, insbesondere in den untern Klassen, herbeizuführen?
5) Empfiehlt es sich a) an Orten, wo sich nur gymnasiale oder realgymnasiale Anstalten befinden, in den drei untern Klassen nach örtlichem Bedarf neben und statt des Latein einen verstärkten deutschen und modern fremdsprachlichen Unterricht einzuführen? b) an Orten, wo nur lateinlose höhere Schulen sind, in den drei untern Klassen nach örtlichem Bedarf lateinischen Unterricht anzugliedern? c) alle siebenstufigen Anstalten (Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen) auf sechsstufige zurückzuführen? d) den Lehrplan der Realschulen und höhern Bürgerschulen gleich zu gestalten, so daß unbeschadet der anders gearteten methodischen Behandlung des Lehrstoffs und Abschlusses des Bildungsganges die Fortsetzung desselben auf der Oberrealschule erleichtert wird?
6) Empfiehlt es sich, an den auf einen neunjährigen Lehrgang angelegten Anstalten mit Rücksicht auf die Schüler, welche vor Vollendung desselben in das Leben treten, einen frühern relativen Abschluß nach dem 6. Jahreskurse eintreten zu lassen?
7) Sind zur Förderung eines erfolgreichen Unterrichts anderweitige oder neue Normen über die Maximalfrequenz der Klassen, über die zulässige Schüler- und Klassenzahl der Gesamtanstalt, über die durchgängige Trennung der Tertien und Sekunden in je zwei Klassen nach Jahreskursen sowie über das Maß der Pflichtstunden der Lehrer wünschenswert?
8) Inwieweit ist es, auch bei Verminderung der Gesamtzahl der Schulstunden, möglich, durch intensiven methodischen Unterricht die Hauptarbeit in die Schule zu verlegen, namentlich in den untern Klassen?
9) Was hat zur weitern Hebung [* 31] des gegenwärtig meist in zwei Wochenstunden und vielfach an große Abteilungen erteilten Turnunterrichts zu geschehen, und welche sonstigen Einrichtungen zur körperlichen Ausbildung der Jugend sind zu pflegen?
10) Kann die Reifeprüfung entbehrt werden? Verneinenden Falls, sind Vereinfachungen einzuführen und welche?
11) Welche Änderungen sind bei der wissenschaftlichen Ausbildung der künftigen Lehrer an höhern Schulen erforderlich?
12) Durch welche Mittel vermögen die höhern Lehranstalten in möglichster Übereinstimmung mit der Familie auf die sittliche Bildung ihrer Schüler einzuwirken?
13) Welche Änderungen empfehlen sich im Berechtigungswesen a) bei den auf einen neunjährigen Lehrgang angelegten Anstalten? b) bei den höhern Bürgerschulen (zu erwägen nach den Berufsarten)?
14) Wenn in Zukunft an den höhern Bürgerschulen vermöge des frühern Abschlusses ihres Lehrganges die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst früher als an andern höhern Schulen erworben werden kann, auch im sonstigen Berechtigungswesen Änderungen zu gunsten der höhern Bürgerschule eintreten, so wird das Bedürfnis derselben wachsen. Welche Maßregeln werden zur Befriedigung desselben zu ergreifen sein? (Verbindung höherer Bürgerschulen mit bestehenden Anstalten, Umwandlung eines Teiles der letztern, staatliche oder staatlich unterstützte Neueinrichtung höherer Bürgerschulen.)
Nachträglich wurde noch eine 15. Frage gestellt, betreffend die Kontrolle des Unterrichts und der Erziehung an den höhern Schulen und die erforderlichen Aufsichtsorgane (s. unten, S. 428).
Die gemeinsame Arbeit begann am 4. Dez. mit einer feierlichen Sitzung, in der auch der Kaiser erschien und in einer nachdrucksvollen Rede seine persönliche Stellung zur Sache darlegte. Bei aller warm ausgesprochenen Anerkennung des Kultusministers verbarg der jugendliche Herrscher unter Bezugnahme auf die eigne Erfahrung während des Besuchs des Gymnasiums zu Kassel [* 32] nicht seine Bedenken gegen den bestehenden Zustand des höhern Schulwesens. Daß unter den bestehenden Schularten die Misch- und Mittelform des Realgymnasiums sich seines Beifalls nicht erfreute, war aus dem Gehörten leicht zu entnehmen. Ebenso, daß nach des Monarchen Ansicht überhaupt die höhern Schulen nicht das Nötige für die Pflege deutschnationalen Sinnes und jugendlicher, auch körperlicher Frische leisteten, vielmehr die Jugend mit Lernstoff überbürdeten, der überdies am Gymnasium zu einseitig aus der räumlichen und zeitlichen Ferne des Altertums hergenommen würde.
Unter dem lebhaften Eindruck dieser Ansprache begab die Versammlung sich an die Arbeit, die vom 4.-17. Dez. dauerte, und deren Schlußergebnis die amtliche Redaktion der Verhandlungen (erschienen Ende Februar 1891) in folgenden Sätzen zusammenfaßt: ¶