verschiedenen Rassen und Individuen Unterschiede in der Dichtigkeit der Hirnmasse vorhanden sind. Daß bei geistig hervorragenden
Personen nicht immer ein bedeutendes Hirngewicht nachgewiesen werden konnte, erklärt sich in vielen Fällen dadurch, daß
dieselben zur Zeit ihres Todes bereits in höherm Alter sich befanden, wo die Hirnmasse im Schwinden begriffen ist.
Wenn aber auch die Gesamtmasse und das Gesamtgewicht des Gehirns nicht immer dem Grade der Intelligenz der betreffenden Individuen
genau entspricht, so steht doch die Entwickelung des Vorderhirns (Vorderlappen des Großhirns), des Sitzes der höhern geistigen
Funktionen, zur geistigen Befähigung in direkter Beziehung.
Entsprechend dem verschiedenen Grade der geistigen Entwickelung beim Anthropoiden, Naturmenschen und Kulturmenschen
ist auch die Entwickelung der grauen Hirnsubstanz (Hirnrinde), die in der größern oder geringern Ausbildung der großen Windungszüge
(Konvolutionen) und der kleinen Hirnwindungen (gyri) zum Ausdruck kommt, eine verschiedengradige. Rudolf Wagner hat an den Gehirnen
von Gauß und Dirichlet zuerst nachgewiesen, daß das Gehirn von geistig hervorragenden Männern charakterisiert
ist durch die verwickelte Anordnung und Asymmetrie der Gyri der beiden Hirnhälften.
Die von Owen aufgestellte Behauptung, daß das menschliche in den hintern Großhirnlappen einige wesentliche Teile enthalte,
die den höhern Affen stets und vollkommen mangelten, hat sich nicht bestätigt; auch ist das Vorkommen der
Affenspalte (durch Nichtentwickelung der innern obern Scheitelwindung bedingte Vertiefung der Hinterhauptsspalte, die
man für ein Charakteristikum des Affenhirns gehalten hat) sehr unbeständig. Die Oberfläche des Gehirns der Anthropoiden
stellt vielmehr nach Huxley eine Art von Umrißzeichnung des menschlichen dar, nur durch untergeordnete Merkmale von demjenigen
des Menschen sich unterscheidend.
Der Menschencharakter des Gehirns beruht nach J. ^[Johannes] Ranke auf dem Übergewicht des nicht automatisch
wirkenden Teiles der Großhirnhemisphären über die automatisch wirkenden Gehirnabschnitte. Übrigens gibt es auch gewisse
Menschenrassen (Weddas und Tamilen auf Ceylon, Kurumbas der Nilgerries), die einen so kleinen Schädel und ein so geringes Hirnvolumen
(Nanokephalie) aufweisen, daß die Maximalgrenze des Anthropoidenhirns und die Minimalgrenze der
Hirnentwickelung bei diesen Völkern sich sehr nahekommen.
Beim Menschen hat das Gehirn des Mannes vor demjenigen des Weibes sowohl das größere durchschnittliche Gewicht (s. oben) als auch
die bedeutendere Entwickelung der Hirnwindungen voraus. Schon gleich nach der Geburt lassen sich erhebliche Unterschiede
in der Entwickelung der die Sylviussche Spalte umgebenden Windungszüge bei beiden Geschlechtern nachweisen. Die zwischen männlichem
und weiblichem Gehirn bestehenden Unterschiede sind aber beim Gehirn der Naturvölker weniger stark ausgeprägt
als beim Gehirn der Kulturvölker.
Während beim Gehirn von Assen und unkultivierten Völkern (Neger- und Hottentotgehirne) die Interparietalfurche (die großen
Scheitelwindungen voneinander trennende Vertiefung) mit der Sagittalebene (von vorn nach hinten durch den Körper gelegte
Vertikalebene) einen nach vorn offen stehenden spitzen Winkel bildet, verfolgt nach Rüdinger die Interparietalfurche beim
Europäer einen mehr der Richtung der Sagittalebene sich annähernden Verlauf. Bei geistig hervorragenden Männern (J. v.
Liebig u. a.) soll das Wachstum und die gesteigerte Entwickelung mitunter sogar zur Folge haben, daß die
Interparietalfurche mit der Sagittalebene einen nach hinten offen stehenden spitzen Winkel bildet.
Vgl. v. Bischoff, Das Hirngewicht
des Menschen (Bonn 1880);
Topinard, Les poids du cerveau d'après les registres de P. Broca (»Revue d'Anthropologie«, 1882, S. 1 bis
30);
Virchow, Indische Zwergrassen (»Korrespondenzblatt für Anthropologie«, 1881, S. 151);
Rüdinger, Ein
Beitrag zur Anatomie der Affenspalte und der Interparietalfurche beim Menschen (Bonn 1882);
Möller, Das Gehirn des Schimpanse (»Westermanns
Monatshefte«, Dezember 1880);
Waldeyer, Hirnwindungen der Assen, insbesondere der Anthropoiden (»Korrespondenzblatt für Anthropologie«,
1890).
Vgl. auch die Art. Vorstellung und Medizinischer Kongreß.
Archibald, Geolog, wurde 1881 zum Generaldirektor der Geological Survey des Vereinigten Königreichs und zum
Direktor des Museums für praktische Geologie in London ernannt. - Sein jüngerer Bruder, James Geikie, geb. 1839 in Edinburg, 1861-82
in der geologischen Landesuntersuchung von Schottland thätig, darauf Nachfolger seines Bruders in der
Professur zu Edinburg, seit 1890 Präsident der Geological Society, schrieb: »The great ice age« (2. Aufl. 1876);
»Prehistoric
Europe, a geological sketch« (1880);
»Outlines of geology« (2. Aufl. 1888) u. a.
Auch als Übersetzer machte er sich bekannt mit »Songs and lyrics by H. Heine and other german poets«
(1887).
Das Irrenrecht ist in einer ganzen Reihe von Ländern, auch außerhalb Europas, allseitig geregelt
worden; besondere Verdienste hat sich in dieser Beziehung in Frankreich Gambetta erworben. In den Einzelstaaten Deutschlands und
mehr noch innerhalb der Reichsgesetzgebung macht sich ein Bedürfnis immer dringender geltend, zumal in
neuester Zeit einige typische Fälle, wie der des Fürsten Joseph Sulkowski, von neuem im Publikum die Furcht erregt haben, Gesunde
könnten auf die Dauer als Irre in Anstalten gegen ihren Willen interniert werden.
In der That bildet der Schutz gegen solche Vorkommnisse den wesentlichen Teil des Irrenrechts in England,
den Niederlanden und einzelnen Staaten Nordamerikas; leider widerstreitet die Mehrzahl dieser Bestimmungen einer der Hauptaufgaben
eines idealen Irrenrechts, nämlich der Verpflichtung des Staates, resp. der von ihm mit dieser Leistung beauftragten kommunalen
Verbände, einerseits sofort bei Eintritt der Gemeingefährlichkeit eines Irren für den Schutz des Publikums vor ihm zu sorgen,
anderseits jeden heilbaren Irren schnell, schonend und zweckmäßig in ausreichende ärztliche Behandlung zu bringen.
Was sich in Preußen und andern Einzelstaaten in dem gemeinen Rechte, den Landrechten, den Strafgesetzbüchern und zahllosen
Verfügungen und Reglements vorfindet, umfaßt, wenn auch in chaotischer Weise, fast alle Punkte eines künftigen Irrenrechts.
Dieses hat zu behandeln:
1) die Pflicht des Staates, resp. kommunaler Verbände, zur Versorgung aller Geisteskranken;
2) die Fürsorge für eine zweckmäßige Organisation und eingehende staatliche Beaufsichtigung aller nicht ganz unmittelbar
staatlicher Irrenanstalten;
3) die Verpflichtung der Lokalbehörde, resp. der Angehörigen eines Kranken zur Anzeige eines jeden Falles geistiger Erkrankung
an die zuständige Aufsichtsbehörde;
4) die Garantien dafür, daß Geistesgesunde nicht in Anstalten untergebracht werden;
5) eine über die
mehr
Grenzen der heutigen Interdiktion, resp. Entmündigung hinausgehende Fürsorge für den Rechtsschutz jedes Geisteskranken;
6) Schutzmaßregeln gegen die Vererbung von Geisteskrankheiten und eine dem entsprechende Änderung des Eherechts;
7) gesetzliche Bestimmungen über die privat- und strafrechtliche Stellung derjenigen Kranken, die nicht ganz zurechnungsfähig
sind und nicht unbeschränkt disponieren dürfen, ohne doch geradezu geisteskrank zu sein (Schwachsinnige,
Epileptiker, Alkoholisten etc.), oder ohne es permanent zu sein;
8) Maßregeln gegen die heutzutage noch in unglaublich zahlreichen Fällen vorkommende Verurteilung wegen Strafthaten, die
von Geisteskranken begangen worden sind;
9) Bestimmungen über die Internierung geisteskrank gewordener Verbrecher und verbrecherischer Geisteskranker in besondern,
mit Straf- und Irrenanstalten in keiner Weise zusammenhängenden Anstalten.
Zu 1). Viele europäische Staaten erfüllen diese Pflicht, jedoch kein einziger deutscher Staat. In Preußen speziell wird eine
Verpflichtung zur öffentlichen Fürsorge für Irre überhaupt nicht anerkannt; hier beruht das öffentliche Irrenwesen nur
auf § 31 des Gesetzes vom (Unterstützungswohnsitz), wonach die Landarmenverbände befugt sind,
für Bewahrung und Pflege hilfsbedürftiger Geisteskranker Anstalten einzurichten. Diese Verbände haben von dieser Befugnis
nur sehr wenig Gebrauch gemacht; gleichwohl hat der preußische Staat über diese Erteilung einer Befugnis hinaus nichts gethan.
Zu 2). Das Interesse der öffentlichen Ordnung wie das eines geistig erkrankten Menschen erfordert gleich
unbedingt die schleunige Überführung in sachverständige Behandlung. Sind die Irrenanstalten zweckmäßig eingerichtet,
so sind sie natürlich die einzigen Orte, in die ein Kranker gehört. Leider sind viele Anstalten nicht zweckmäßig eingerichtet.
Ihre schlimmsten Fehler: Überfüllung, unterschiedslose Anhäufung heilbarer Kranker unter gänzlich verblödeten, sicher
Unheilbaren, zu sparsame Verpflegung, unzureichende Schulung des Wartepersonals, unzureichende spezialistische
Vorbildung und zu geringe Anzahl der behandelnden Ärzte, Überbürdung der dirigierenden Ärzte mit ökonomischen und Büreaugeschäften,
büreaukratische Organisation des ärztlichen Dienstes, berechtigen nur zu oft die Unzufriedenheit der Kranken und ihrer Angehörigen
und den Zweifel, ob ein Anstaltsaufenthalt für einen geistig Erkrankten unter allen Umständen von Vorteil
ist. Jedenfalls werden diese Übelstände von den Irrenärzten selbst am lebhaftesten empfunden und beklagt.
Zu 3) und 4). Die Sorge für die öffentliche Ruhe und für die Heilung frisch erkrankter Irrer steht höher als die Rücksicht
auf die an sich sehr geringe Gefahr, daß ein Nichtgeisteskranker infolge eines schnellen Verfahrens, lügenhafter,
nicht genügend verifizierter Aussagen in eine Irrenanstalt gebracht werden könnte. Fälle von längerer Zurückhaltung geistig
Gesunder in Anstalten sind in Preußen in den letzten 40 Jahren nicht vorgekommen. Das schließt freilich nicht aus, daß Klagen
über ungerechtfertigte Zurückhaltung in Anstalten ins Publikum gelangten.
Prüft man diese Fälle genauer, so handelt es sich jedesmal entweder um an Paranöa Erkrankte, die ungeheilt
entlassen wurden, und denen ihr Anstaltsaufenthalt als Glied in der Kette der erlittenen Verfolgungen erscheint, oder um Fälle
von periodischer Geistesstörung, bei denen in freien Intervallen keine Krankheitseinsicht besteht, dagegen eine oft sehr entwickelte
Rhetorik und
Darstellungsgabe, oder drittens um Trunk- und Morphiumsüchtige, die nach längerer
Entziehung ihres Genußmittels gesund erscheinen können, oder schließlich um Fälle aus dem sehr umfangreichen Grenzgebiet
der Geistesstörungen, d. h. um Schwachsinnige, Pseudogenies, verkommene und verbrecherische
Naturen, erfolglose Entdecker, Erfinder, Propheten, kurz um Individuen, deren Leben ein fortwährendes Hin- und Herpendeln zwischen
noch normaler Erregtheit und beginnender Geistesstörung ist.
Hier ist es sehr wohl möglich, daß verschiedene Beobachter, denen nicht genügend Zeit zur Disposition steht, zwei ganz
verschiedene Phasen im Geistesleben eines zu Begutachtenden vor Augen hatten, die Verschiedenheit des Beobachtungsmaterials
erklärt natürlich die Verschiedenheit der Schlußfolgerungen. Es ist somit nicht angezeigt, aus Furcht
vor der Internierung Gesunder die Gewährung der Aufnahme in eine Anstalt abhängig zu machen von einem verwickelten Instanzengang
durch administrative und richterliche Behörden hindurch und von deren Überzeugung von einer vorliegenden Geistesstörung,
wie das in Holland geschieht, und ebensowenig ist es wahrscheinlich, daß ein Geschwornengericht, dessen Verdikt für Geisteskrankheit
(wie in einzelnen nordamerikanischen Staaten) Bedingung für die Aufnahme in die Anstalt ist, ein besseres
Urteil haben sollte als der Sachverständige. Die grundlosen Klagen über die Internierung Gesunder in den Anstalten haben zu
dem Verlangen geführt, den Juristen allein für kompetent gelten zu lassen in der Frage, ob jemand geisteskrank ist
oder nicht.
Die unter Nr. 5 bis 9 angeführten Forderungen sind heute allgemein anerkannt und bedürfen keiner nähern Begründung.
Vgl.
Reuß, Der Rechtsschutz der Geisteskranken (Leipz. 1888);