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Zeit entstanden sind, deren Interesse aber naturgemäß mit ihr vergangen ist.
Von entscheidende Einfluß auf die geistige und moralische Entwickelung der französischen Schweiz [* 2] war der Aufenthalt Voltaires. Im Dezember 1754 ließ er sich in der Nähe von Genf [* 3] nieder, teils von der schönen Natur, teils von den vorzüglichen Druckereien angelockt, in denen damals so manche epochemachenden Werke gedruckt wurden, trat alsbald in lebhaften Verkehr mit einigen angesehenen Familien, so mit den Pastoren Vernet und Vernes, dem berühmten Arzt Tronchin nebst seinen zwei Brüdern, dem Professor Pictet, und bezauberte alle durch seine Liebenswürdigkeit;
als er aber versuchte, seine »Zaïre« auszuführen, stieß er auf den hartnäckigen Widerspruch des Konsistoriums;
schon seit Calvins Zeiten waren dramatische Aufführungen, außer etwa geistlichen, nicht mehr geduldet und selbst Privataufführungen bestraft worden. In seiner Eitelkeit verletzt, wandte er sich nach Lausanne [* 4] und fand dort besseres Entgegenkommen, besonders bei den Frauen;
auch die Pastoren scheuten sich nicht, den Gesellschaften und Aufführungen des geistreichen Spötters beizuwohnen.
Nach Genf zurückgekehrt, beschloß er, sich an den Muckern zu rächen; einige bissige Artikel in der Encyklopädie und gottlose Schriften, wie »Le [* 5] désastre de Lisbonne« und später »Candide«, reizten die Angegriffenen zu heftigen Erwiderungen; und um seine Gegner an der empfindlichsten Stelle zu treffen, ließ er auf seinem Landgut Ferney an der Grenze des Genfer Gebiets einen Theatersaal erbauen und dort seine Dramen (unter andern »Tancrède«) aufführen, wozu wieder die Genfer Gesellschaft Schauspieler und Publikum stellte.
Auch J. J. Rousseau, Genfs größter Bürger, griff in den Streit ein; hatte Voltaire Beziehungen zu der regierenden Klasse und zahlreiche Anhänger unter den Natifs, so hielt sich der demokratische Rousseau zu den Représentants, in deren Sinne er auch gegen Voltaire die »Lettres sur les spectacles« schrieb. Mit dem Rate der Stadt aber hatten es beide verdorben: der ließ sowohl den »Candide« als den »Émile« verbrennen und die »Nouvelle Héloïse« als unmoralisch verbieten. Rousseau suchte sich zwar mit den »Lettres de la Montagne« zu rechtfertigen, fachte damit aber den Streit erst recht an. Voltaire behielt doch das letzte Wort (mit »Guerre civile de Genève«),
und 1782 wurde nach wiederholter Intervention des französischen Gesandten eine Schauspielertruppe in Genf eingeführt und ein steinernes Theater [* 6] erbaut; die ersten Direktoren waren Fabre d'Eglantine und Collot d'Herbois.
Einen glänzenden Aufschwung hatten die Naturwissenschaften genommen. Männer wie Cramer, Calandrini, Jallabert, De Luc, Pictet, besonders aber Charles Bonnet (gest. 1793) und sein berühmter Nesse Bénédict de Saussure (gest. 1799) zogen durch ihre Beobachtungen, Reisen und Forschungen die Augen von ganz Europa [* 7] auf sich. Auch auf andern Gebieten regte es sich: neben dem trefflichen Historiker Mallet muß der Bibliothekar Senebier erwähnt werden, der mit großem Fleiße, aber geringem Stilgefühl und wenig maßvollem Urteil eine Litteraturgeschichte von Genf schrieb. In Bern [* 8] gab es damals einige ausgezeichnete Gelehrte, die sich der deutschen wie der französischen Sprache [* 9] gleich gut bedienten und darum wohl hier genannt werden dürfen: Albrecht v. Haller, Bonstetten, Lerber, der sogar gute Verse machte, und der Amtmann Sinner, der als Übersetzer, Sammler, Archäolog und Bibliophil geschätzt war.
In Lausanne hatte der Voltairesche Geist am meisten gewirkt. Da die Abhängigkeit von Bern den Söhnen der vornehmen Familien die politische Laufbahn verschloß, so mußten sie, wenn sie Drang nach Thätigkeit empfanden, außer Landes gehen, häufig als Erzieher hochstehender Persönlichkeiten. Diese mit ihren im Ausland gesammelten Erfahrungen, die Waadtländer mit ihrer Leichtlebigkeit und Liebenswürdigkeit, eingewanderte Franzosen und die zahlreichen Fremden, die von Jahr zu Jahr in immer größern Scharen die schönen Ufer des Sees aufsuchten, bildeten eine Art kosmopolitischer Gesellschaft, in der die geistreiche Geselligkeit der Pariser Salons mit Glück nachgeahmt wurde.
Einer der interessantesten Gäste war der Engländer Eduard Gibbon, der Hauptmagnet der berühmte Arzt Victor Tissot, dessen »Avis au peuple de la santé« in kurzer Zeit 15 Auflagen erlebte und in 17 Sprachen übersetzt wurde. Die Schriftstellerei wurde bei den Damen Modesache, seitdem Frau v. Montolieu mit ihren ziemlich faden Romanen viel Beifall gefunden hatte, besonders mit »Caroline de Lichtfield« (1786) noch dem genießbarsten von allen. Etwas höher stehen die »Poésies helvétiennes« des Dechanten Ph. Bridel, in denen schon hin und wieder nationaler Geist zu spüren ist.
Allein es mangelt ihm an Präzision und Klarheit des Ausdrucks, und sein poetisches Gefühl ist nicht echt. Auch in Neuchâtel machte sich in jener Zeit geistiges Leben bemerkbar; hier war es Frau v. Charrière, eine Holländerin von Geburt, die Verfasserin der »Lettres neuchâteloises« und »Lettres de Lausanne« (von Sainte-Beuve gelobt),
und der treffliche Kritiker David Chaillet (im »Mercure suisse«),
die einen kleinen, aber angeregten Kreis [* 10] um sich versammelten, dem auch Benjamin Constant eine Zeitlang angehörte.
Während der französischen Revolution und des Kaiserreichs absorbierte Frankreich alle Interessen und Kräfte der Schweiz, zumal da die Proklamierung der Helvetischen Republik und die Mediationsakte sie eng mit dem Nachbarland verbanden. Von den Schweizern, welche in dieser Zeit politisch und litterarisch für Frankreich thätig waren, sind zu nennen: der Bankier u. Minister Necker, der Baron v. Besenval, den Sainte-Beuve neben B. Constant den französischten aller Schweizer nennt, die beiden Theologen Reybaz und Dumont, Freunde Mirabeaus, die ihm häufig die Konzepte zu seinen Reden lieferten, Benjamin Constant, der Freund der Frau v. Staël, General Jomini, der berühmte Militärschriftsteller, u. a. m. Frau v. Stael war zwar in Paris [* 11] geboren und in Geschmack und Gewohnheiten Französin, allein ihrer Natur nach eine Schweizern, eine echte Tochter Rousseaus und in Ideen und Gefühlen mehr germanischem Wesen sich zuneigend, und so ganz dazu geeignet, die Kulturmission der französischen Schweiz zu erfüllen, zwischen den germanischen und romanischen Völkern zu vermitteln. Dennoch wollte sie von der Schweiz nichts wissen, und der Aufenthalt in Coppet war für sie trotz der herrlichen Natur und der interessanten und glänzenden Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, eine Strafe.
Mit der Loslösung der Schweiz von Frankreich (1814) erwachte neues geistiges Leben, vornehmlich in Genf; hier lebten und lehrten die Gebrüder Pictet, die 1796 die »Bibliothèque britannique« gegründet hatten, aus der die »Bibliothèque universelle« entstanden ist, der ernste Geschichtschreiber Sismondi, der mit Corinna in Italien [* 12] reiste, der Genfer Gesetzgeber Bellot, seit 1803 auch ¶
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Bonstetten, der französischte aller Berner, der hier erst, wie er sagte, zu leben begann, Madame Necker de Saussure, die Kousine der Frau v. Staël, u. a.; den Mittelpunkt bildete Pyrame De Candolle, dessen umfangreiches Wissen und weltmännische Bildung eine große Anziehungskraft auf Einheimische und Fremde ausübten. Besondere Erwähnung verdient Rudolf Töpffer (1799-1846), der heitere Moralist und geschickte Karikaturenzeichner, der Verfasser der »Voyages en zigzag« und der »Nouvelles genevoises«, der mit seinen Freunden den »Courrier de Genève« (1841) gründete.
Die heute angesehenste Schweizer Zeitung, das »Journal de Genève«, entsprang 1826 einem Kreise [* 14] von jungen Dichtern, die sich im »Caveau genevois« zusammenfanden und die politische Chanson pflegten; die hervorragendsten unter ihnen sind Chaponnière (1769-1856) und Gaudi-Lefort. Wie diese sich an Béranger anschlossen, so andre an Lamartine und Victor Hugo;
manche von diesen starben in jungen Jahren oder gerieten in eine weichliche, verschwommene Richtung;
der korrekteste und eleganteste ist Charles Didier (1805-64), auch als Reisebeschreiber gelobt, der originellste Henri Blanvalet (1811-70), der wie Louis Tournier hübsche Kinderlieder gedichtet hat. A. Richard (1801-81) gilt als der erste nationale Dichter;
mit seinen von starker Begeisterung getragenen Schilderungen hervorragender Ereignisse aus der vaterländischen Geschichte hatte er großartigen Erfolg bei der Jugend, geriet aber später in Vergessenheit.
Ein Bindeglied zwischen dem alten und neuen Genf (der Scheidepunkt ist die Revolution von 1846, mit der ganz neue Männer zur Regierung kommen) ist der Dichter Petit-Senn (1792-1870); er hatte dem Caveau angehört, mit den Romantikern geschwärmt und von 1830 bis 1836 die Genfer mit seinem Witzblatt »Le Fantasque« erheitert. Seine gelungensten Gedichte sind die Humoreske »La Miliciade« auf die Genfer Stadtsoldaten und die geistvollen, vielleicht zu pointierten Lebensregeln: »Bluettes et Boutades«.
Seinem gastfreundlichen Hause verdanken viele jüngere Kräfte Anregung und Förderung: der Fabeldichter Ant. Carteret (gest. 1889), der Historiker A. Rilliet (1809-83), der die Tell- und Grütlisage auf ihre Echtheit geprüft hat, Henri Amiel (gest. 1880), der sinnige Dichter und Geschichtschreiber der Genfer Akademie, und Marc Monnier (gest. 1884), seit 1864 Professor der vergleichenden Litteratur an der Genfer Universität, ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller und gefühl- und formvoller Dichter, dessen ausgezeichnete »Histoire générale de la littérature« leider nur bis zum zweiten Bande gediehen ist. Einer der hervorragendsten Dichter der neuen Schule ist Philippe Godet (geb. 1850), zugleich ein geistvoller Litterarhistoriker und glänzender Redner; außer verschiedenen Bänden eigner Poesien hat er die Gedichte des Freiburger Dichters Eggis und der Neuchâteller Dichterin Alice de Chambrier herausgegeben.
In Lausanne, wo bisher Fremde den Ton angegeben hatten, traten nun Einheimische an die Spitze der geistigen Bewegung; voran Alexandre Vinet (1797-1847), der treffliche Litterarhistoriker und Kritiker, der sympathische Prediger, der Vorkämpfer für Toleranz und Gewissensfreiheit und Dichter einiger schöner Kirchenlieder; dann der patriotische Dichter Juste Olivier (1807-76), der 12 Jahre neben Vinet eine Geschichtsprofessur bekleidete und einen tiefgehenden Einfluß auf die studierende Jugend ausübte.
Die Revolution von 1845 entsetzte beide ihrer Stellen; aber während jenen ein gütiges Geschick bald hinwegnahm, mußte Olivier das bittere Brot [* 15] der Verbannung essen und erleben, daß seine Landsleute ihn fast ganz vergaßen. Von Paris aus schrieb er seine tiefempfundenen »Chansons lointaines«, aber weder diese, noch seine Romane, noch die Vorlesungen, die er nach seiner Rückkehr (1870) in Lausanne hielt, vermochten die Teilnahme der Menge zu wecken. Neben diesen sind zu erwähnen: Charles Monnard, der formvollendete politische Redner und Publizist, J. J. ^[Jean-Jacques] Porchat, der geist- und geschmackvolle Übersetzer von Horaz, Tibull und Goethe;
der Historiker Vulliemin, der Pastor von Vevey A. Ceresole, dessen »Scènes vaudoises« (1885) in waadtländischer Sprache geschrieben sind, Eugène Secrétan, der Verfasser der »Galerie suisse« (1875),
seit einigen Jahren Präsident einer Gesellschaft, die sich die planmäßige Ausgrabung der Ruinen von Avenches zur Aufgabe macht, Eugène Rambert, der Verfasser der »Alpes suisses« und vortrefflicher Essais und Biographien (A. Vinet, Olivier, Calame, Javelle; vgl. die betreffenden Biographien im Hauptwerk);
u. a. m.
Wie die Revolution in Lausanne die Professoren in alle Winde [* 16] zerstreute, so machte sie auch 1848 in Neuchâtel der kurzen Blüte [* 17] der Akademie (erst 1839 gegründet) ein jähes Ende. Hier hatte Olivier vor seiner Übersiedelung nach Lausanne gelehrt; vornehmlich aber blühten Geographie und Geologie; [* 18] Männer, wie Agassiz, der Begründer der Gletschertheorie, Desor, sein Mitarbeiter und der Erforscher der Pfahlbauten [* 19] und der Bronzezeit (gest. 1882), Guyot, Fr. de Rougemont, ein Schüler Karl Ritters und universaler Geist, dessen geographische Handbücher in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden sind, wirkten dort zusammen und fanden zum Teil nach der Revolution in der Neuen Welt eine zweite Heimat.
Die schöngeistige Litteratur war nur schwach vertreten: das Konsistorium übte eine zu strenge Zensur. 1883 hat sich eine Anzahl jüngerer Schweizer und französischer Schriftsteller zu dem Zwecke zusammengethan, die litterarische Annäherung beider Länder zu fördern;
ihr Organ ist die »Revue suisse romande« und ihr Haupt Adolphe Ribaux (geb. 1864),
der einige Bände »Poésies« veröffentlicht hat.
Ganz ungewöhnliches Aufsehen haben vor einigen Jahren die hinterlassenen Gedichte eines mit 21 Jahren verstorbenen jungen Mädchens, Alice de Chambrier (1861-82),
hervorgerufen, die von Ph. Godet unter dem Titel: »Au delà« veröffentlicht wurden und in kurzer Zeit vier Auflagen erlebten;
es werden ihnen Gedankentiefe, elegante Form und energischer Stil sowie vollständiger Mangel an verschwommener Sentimentalität nachgerühmt.
Der katholische Teil der französischen Schweiz, Freiburg [* 20] und Wallis, spielt in der litterarischen Bewegung nur eine untergeordnete Rolle. In Freiburg wirkte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Jesuit Girard (gest. 1840), ein liberaler und vorurteilsfreier Mann, der durch seine praktische und theoretische Pädagogik sich die allgemeine Anerkennung erwarb und für seinen »Cours de langue« den großen Preis Monthyon erhielt. 1841 wurde die Zeitschrift »L'Émulation« gegründet, die für den katholischen Teil der Schweiz das war, was die »Revue suisse« (gegründet 1838,1861 verschmolzen mit der »Bibliothèque universelle«) für den protestantischen. Aus der neuern Zeit ist Pierre Sciobéret (1830-1876) zu erwähnen, ein guter Märchenerzähler, dessen »Scènes de la vie champêtre« in 2 Bänden von Ayer ¶